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Judentum und Israel
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Jüdische Weisheit
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Umherirrend in einem Alptraum:
Um wessen Leben geht es eigentlich?

David Grossman
Der Artikel entstand am Vorabend des jüdischen Neujahrsfestes

Diese Woche, am Beginn des jüdischen Jahres, einer Zeit privater und öffentlicher Selbstbesinnung, ist mir eine befremdlich anmutende Frage gekommen: Gibt es heute überhaupt Israelis, die mit ihrem Leben zufrieden sind?

Und weiter: Wie ist es dazu gekommen, daß die israelische Wirklichkeit sich vor allem als deprimierendes Konglomerat von Kompromissen, Ängsten, Apathie und Fatalismus darstellt?

Und diese mehrheitlich gewählte Regierung - wen repräsentiert sie eigentlich heute? Mit anderen Worten: Gibt es derzeit Israelis - wenigstens eine Handvoll auf der Linken oder auf der Rechten -, die ihre Stimme einem Politiker geben würden, der ihnen die jetzige Wirklichkeit verspräche?

»Wir haben ein wunderbares Land«, tönt Ministerpräsident Netanjahu bei jeder Gelegenheit. Recht hat er: Wir haben tatsächlich ein wunderbares Land - aber warum wirkt es wie ein beständig verwehender Traum? Und wie kommt es, daß fast jede größere Gruppe im Staat — Religiöse, Freidenker, Siedler, Anhänger von »Peace now«, Einwanderer aus Rußland und aus Äthiopien, Ultraorthodoxe, Arbeitslose und israelische Araber - sich jeweils als verfolgte Minderheit unter einem feindseligen Regime betrachtet? Und warum haben so viele Israelis das Gefühl, zwischen ihnen und ihrem Land tue sich ein immer größeres Vakuum der Leere und Fremdheit auf?

Dieses Vakuum muß etwas Hypnotisierendes an sich haben: Mehr als sechs Millionen Menschen werden fast sang- und klanglos darin aufgesogen - ohne übermäßig lauten Protest, ohne häufige Massendemonstrationen, ohne Mahnwachen an jeder Straßenkreuzung, ohne einzelne Hungerstreikende oder jeden anderen Akt an zivilem Ungehorsam (ja, sogar ohne eine einzige nennenswerte satirische Fernsehsendung). Aber das Gefühl, etwas sei an uns vorbeigegangen, brodelt ohne Unterlaß. Und eben auch das Empfinden, etwas Großes und Seltenes zerrinne einem unwiederbringlich zwischen den Fingern. Vielleicht werden die Israelis deshalb von Jahr zu Jahr mürrischer und verbissener, behandeln einander mit einer ganz bestimmten Art von Feindseligkeit, wie Zellengenossen im Gefängnis, wie Partner eines scheiternden Unternehmens.

Wie wenig Sympathie und Verständnis bringen wir für andere Israelis auf, die nicht unserer »Gruppe« angehören. Mit welcher Wut oder Abfälligkeit begegnen wir den echten, authentischen Kümmernissen von Israelis, die nicht »wir« sind. Als hätte unsere andauernde automatische Weigerung, auch nur im geringsten das Leiden der Palästinenser zur Kenntnis zu nehmen, um ja keinen Deut an unserem »Im-Recht-Sein« zu rütteln, schließlich unser Innerstes erreicht und unseren gesunden Menschenverstand und den natürlichen »Familieninstinkt« vollkommen irregeleitet. Manchmal scheint es ja, als könnte man das, was Juden einander in Israel antun, andernorts nicht anders als Antisemitismus nennen.

Wer nach längerem Auslandsaufenthalt nach Israel zurückkehrt, ist meistens erstaunt über den großen Ausbau der Städte, Straßen und Einkaufszentren und bestürzt über die Menschen, über ihre Brutalität, Vulgarität und Gefühlskälte. Wer hier lebt, wundert sich schon nicht mehr darüber, daß dieser junge, freundliche, tapfere Staat in erstaunlich kurzer Zeit beschleunigt mentale Alterungsprozesse durchgemacht hat, daß Israel mit sonderbarer Entschlossenheit in starre, argwöhnische und depressive Verhaltensweisen verfallen ist und vor allem das Vertrauen in die eigene Wandlungsfähigkeit verloren hat, die Hoffnung, wie neugeboren einer besseren Zukunft entgegengehen zu können.

Wie in einer altmodischen Science-fiction-Geschichte hat sich der komplette Staat in eine Art »Zeitblase« verirrt, in der er nun kreiselt, gewissermaßen dazu verdammt, dort einige der Übel und Gebrechen nachzustellen, die seine tragische Geschichte ihm zugefügt hat. Vielleicht verwandeln sich Israelis deshalb ausgerechnet in Zeiten höchster militärischer Stärke wieder in handlungsunfähige Außenseiter, ja eigentlich in Opfer (nur diesmal Opfer ihrer selbst).

Mit empörender, sträflicher Passivität lähmen die über sechs Millionen Menschen ihr Bewußtsein, ihre Willenskraft, ihr Urteilsvermögen, ihre Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Und vor allem den gesunden Instinkt, der sie aufrütteln, wachrufen und an ihre wahren, tiefen Ziele und Bedürfnisse als Volk und Gemeinwesen erinnern würde.

Ein ganzes Volk liegt im Koma. Hat sich gewissermaßen selbst betäubt, setzt vorläufig sein Urteilsvermögen außer Kraft, um nicht mit dem stummen Grauen seiner Lage konfrontiert zu werden.

Zum Beispiel nur daran zu denken, daß die Regierung noch und noch Haushaltsgelder für Bauprojekte in die Siedlungen pumpt, die die Lage weiter verwickeln und verzwicken und eine politische Lösung schließlich unmöglich machen. Nur daran zu denken, daß ein ganzes Volk seine Zukunft aufs Spiel setzt, seine einzige Chance, der Falle zu entkommen, in die es geraten ist, nur um die messianischen Machtgelüste einiger hundert Fanatiker - mehr sind es nicht - zu befriedigen, die sich unbedingt nach Hebron, Nablus und in den Gazastreifen hineindrängen müssen.

Und schlimmer noch - daran zu denken, daß wir schon einunddreißig Jahre über ein anderes Volk herrschen, obwohl wir es lassen können.

Aber auch das ist schon zum Klischee geworden: »über ein anderes Volk herrschen«. Das israelische Auge ist doch schon wohlgeübt, diese kleinen Zeitungsmeldungen zu überspringen: die palästinensischen Säuglinge, die an den Straßensperren sterben; die Kinder, die in den Flüchtlingslagern vor Durst ohnmächtig werden, weil israelische Beamte die Hand am Wasserhahn haben; Tausende Familien, deren Häuser unter dem Vorwand »illegalen Bauens« zerstört werden... Wer kann der ganzen Monstrosität dieser Dinge ins Auge sehen. Wer kann akzeptieren, daß das tatsächlich passiert. Daß das tatsächlich uns passiert.

Wie im Zaubermärchen, wie im Alptraum: Pst... das ganze Königreich ist eingeschlafen. Das heißt, die Menschen sind wach. Sie regen sich, machen Töne, fahren umher, amüsieren sich, schließen Geschäfte. Ein Haufen Aktivität, ein Haufen Lärm.

Doch unterschwellig immer dieses nagende Gefühl im Herzen, daß da etwas hohl ist, daß zwar alles aufgrund des Trägheitsgesetzes weiterläuft, aber schon abgekoppelt, seines Wesens entkleidet ist. Wir haben es so großartig fertiggebracht, uns selbst einzuschläfern, unseren Verstand und unsere Willenskraft auszuschalten, daß selbst der, der gegen die Politik der Regierung ist, nicht mehr die Kraft aufbringt, wirklich etwas dagegen zu tun.

Und so kommt es, daß die Opposition es trotz des Vakuums in der Staatsführung nicht fertigbringt, auch nur einen einzigen aus ihren Reihen aufzustellen, der das tiefe Bedürfnis nach Besserung zu bedienen vermöchte, jemand, der die vielen mitzöge, nur weil er ihnen endlich irgend etwas aufzeigte, einen Weg, eine Chance, ein Erwachen.

Vielleicht bezahlt Israel jetzt den schweren Preis für zu langjährige Sturheit, Kompromißlosigkeit und die Weigerung, der Realität ins Auge zu sehen? Und womöglich ist uns etwas wirklich Furchtbares passiert, und der Friedensprozeß hat uns ein bißchen zu spät erreicht? Wenn man nämlich so lange Zeit etwas nicht will, ganz und gar nicht will, will man am Ende womöglich gar nichts mehr, das heißt, man verliert vielleicht die Willenskraft selbst.

Und so kommt es, daß ein Volk, das über die Jahre derart viel Energie aufs Nichtwollen verwendet hat, heute in eine Situation geraten ist, in der man alles mit ihm machen kann, einfach alles.

Vielleicht irre ich. Vielleicht läuft alles wirklich, wie es sollte, nach einem wohldurchdachten, genialen Plan, der sich meinem Verständnis entzieht.

Möglich, daß ich mich irre, aber ich weiß, daß in dieser Lage etwas in mir abstirbt. Daß ich nicht mehr dieses heimliche Gefühl, dieses Fünkchen in mir habe, das das Leben hierzulande mir immer verliehen hat - bei aller Kritik und allem Schmerz verspürte ich stets auch Freude, ja sogar Stolz, einem so einzigartigen, so einmaligen, so zukunftsträchtigen Menschenwerk anzugehören.

Ich versuche mich mit der Hoffnung zu trösten, vielleicht würde doch bald eine Veränderung eintreten (nicht ein Rückzug um einige Kilometer hier und da, sondern eine tiefgreifende Veränderung der Weltanschauung). Wo es Menschen gibt, kann doch nicht auf Dauer Stillstand herrschen, und vielleicht werden wir bald aus diesem bösen Zauberbann erlöst. Aber ich weiß auch, daß es Teile der Seele gibt - in der Seele des einzelnen wie in der kollektiven »Seele« —, die man nicht nur »vorläufig« oder nur »bis die Lage sich ändert« ausschalten kann, weil sie nämlich später unwiederbringlich dahin sind.

Und wenn dann endlich die Veränderung eintritt - und hoffen wir, daß es eine Änderung zum Guten wird, nicht etwa noch ein Krieg oder noch ein Volksaufstand oder noch wer weiß was -, kurz gesagt, wenn wir uns endlich aus dem Knäuel befreien, in das wir verwickelt sind, dann könnte es bereits zu spät sein. Vielleicht erreichen wir ein paar politische Erfolge, möglicherweise behalten wir ein paar strategische Hügel und Straßensperren unter unserer Kontrolle, aber die Hauptsache, das, was wirklich Identität und Fortbestand und Bodenständigkeit verheißt, das wäre vielleicht schon verloren.

Wenn wir doch nur endlich aufwachten, wenn wir doch nur aufhörten, in diesem Alptraum umherzuirren, der eigentlich niemandes Traum hier ist.

Schanah towah!
Ein glückliches neues Jahr.

September 1998
Dieser Artikel entstand am Vorabend des jüdischen Neujahrsfestes.

Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama

Die starke Anziehungskraft
des Hasses und der Rachsucht:

Diesen Krieg kann keiner gewinnen
Lärm. Lärm ist das erste Wort, das mir einfällt, wenn ich an die letzten zehn Jahre denke. Fürchterlicher Lärm...

David Grossman hat den israelisch-palästinensischen Konflikt seit Jahren mit kritischen Kommentaren begleitet. Seine persönliche Chronik der politischen Ereignisse seit dem Osloer Abkommen gibt einen Überblick über die Situation, zeigt die Argumente der Palästinenser und Israelis und liefert zugleich einen Einblick in das alltägliche Leben der Menschen unter dem Einfluss des Terrors.

"Die Fronten verlaufen nicht zwischen Israelis und Palästinensern, sondern zwischen denen, die nicht bereit sind, sich mit der Verzweiflung abzufinden, und denen, die sie in eine Lebensform verwandeln wollen".

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hagalil.com 23-09-2003

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