von thomas von der osten-sacken
Gäbe es so etwas wie einen negativen Weltgeist, er hätte sich nach dem
11. September in zwei Gefangenen personifiziert: Milosevic in Den Haag
und Yassir Arafat in seinem von Panzern umstellten Hauptquartier in
Ramallah. Schien im Sommer noch der Sieg über den einen zugleich ein
Triumph des anderen, so gelten sie nun beide im bürgerlichen Feuilleton
als »Auslaufmodelle der Geschichte«.
Bislang verkörperten der palästinensische wie der jugoslawische
Präsident für Europa die Extreme ihrer außenpolitischen Programmatik,
die am besten mit den Begriffen der nationalen Selbstbestimmung und der
ethnischen Säuberung zu beschreiben sind. Mit Arafat und gegen Milosevic
glaubte das von Deutschland dominierte Europa sich zum Anwalt einer Welt
der »freien Völker« entwickeln zu können, in der die UCK ebenso wie die
palästinensischen Parteien einen legitimen Kampf gegen fremde Besatzer
führten. Folgerichtig weigerte man sich in Brüssel, auch die Hisbollah,
die Hamas oder den Jihad als terroristische Organisationen zu
bezeichnen, wie Israel es seit Jahren fordert, und behandelte sie als
nationale Befreiungsbewegungen.
Mit den entsprechenden Sympathien wurde deshalb auch der Ausbruch der
so genannten Al-Aqsa-Intifada begrüßt, vom »eingepferchten Volk« (FR)
war die Rede, das um die Anerkennung seiner »Staatsvolkswürde« (FAZ)
kämpfe. Solange Europa den Nahost-Konflikt als »interethnischen«
begreifen konnte, war auch Arafat sich der Unterstützung aus Brüssel,
Paris und Berlin sicher. Vielfältig mochten die europäischen Motive
dieser Unterstützung sein und vom Antisemitismus bis zum Versuch
reichen, die eigene Hegemonie im Nahen Osten auszudehnen.
Ausschlaggebend ist sicher die vermeintliche Lehre aus der eigenen
Kriegs- und Kolonialgeschichte, dass auf Dauer gegen den Kampf
»unterdrückter Völker« nur die Wahl zwischen Rückzug und Vernichtung
bleibt. Wenn Werner Pirker in der jungen Welt nun vor einer »ethnischen
Säuberung« in den Palästinensergebieten warnt, rationalisiert er deshalb
nicht nur eigene Vernichtungsphantasien, sondern schlägt ungewollt auch
eine genuin europäische Lösung dieses Konflikts vor. Eine Lösung, die,
mit wenigen Ausnahmen, in Israel als ernsthafte Option nie erwogen
wurde.
Völkische Kategorien spielen für die USA nur dann eine Rolle, wenn sie
zu den außenpolitischen Interessen passen, anders als in Europa sind sie
nicht der Ausdruck einer politischen Grundüberzeugung. Mit Unverständnis
pflegen die Amerikaner ethnisierten Kollektiven zu begegnen, die für
Kultur, Identität und für das Recht kämpfen, andere von ihrem Boden zu
vertreiben. Das mag einer der Gründe sein, warum die US-Außenpolitik in
den neunziger Jahren etwas kopflos wirkte und zunächst versuchte,
Staaten wie Jugoslawien zusammenzuhalten, um sie dann zerschlagen zu
helfen.
Seit dem 11. September ist nichts mehr von dieser Zögerlichkeit übrig.
Mit der neuen Einteilung der Welt in Gute und Böse handeln die USA
wieder so konsequent wie zu Zeiten des Blockkonflikts. Der Terrorismus
teilt die Welt, aber jeder Gegner ist eingeladen, die Seite zu wechseln.
Der ethnisierte böse Serbe kann sich nicht in einen guten Albaner
verwandeln, wohl aber der ehemalige Kommunist in einen aufrechten
Demokraten.
Dieses Muster - klammert man jeweils die schlimmsten Bösewichter aus,
also bin Laden und die Taliban - determiniert den Kampf gegen den
Terrorismus, der für sich beanspruchen kann, so manichäisch und zugleich
universalistisch zu sein wie der Kalte Krieg zuvor. Nicht mehr
gewachsene Kollektive stoßen hier aufeinander und toben sich in
»ethnischen Säuberungen« aus, die wiederum nach dem europäischen
»interethnischen Konfliktmanagement« verlangen, sondern die Welt wird
terrorisiert von einer terroristischen Minderheit, und die Mehrheit wird
sie unter der Führung der USA von diesem Übel befreien. Ausdrücklich
waren alle Länder, egal welche Vergangenheit sie hatten, von den USA
aufgefordert, der »Allianz gegen den Terror« beizutreten.
Im Nahen Osten hat einzig der Iran den Wandel begriffen. Demonstrativ
zog er seine Ausbilder aus Bosnien, dem Sudan und dem Libanon zurück und
unterstützte unter der Hand die USA in Afghanistan. Auch Milosevic
entpuppte sich als kluger Staatsmann, als zu früh gekommener Partner der
USA sozusagen; hämisch kommentierte deshalb die FAZ den Wandel in seiner
Verteidigungsstrategie. Nicht mehr als Avantgarde der um Freiheit vom
Imperialismus ringenden Völker präsentiere er sich den Richtern in Den
Haag, sondern er bemühe sich, »seine Kriegspolitik darzustellen«, als
»habe ja auch er nichts anderes getan, als den islamisch motivierten
Terrorismus zu bekämpfen«.
Arafat dagegen hatte seine Chance, war aber nicht willens oder in der
Lage, sie zu nutzen. Klar signalisierten die USA Mitte September, dass
man ihm und den Palästinensern, nicht etwa Israel, einen Platz in der
Koalition gegen den Terrorismus einzuräumen gedenke. Dabei erwartete die
Bush-Administration, die urplötzlich die Gründung eines
palästinensischen Staates ganz oben auf ihre Agenda setzte, von Arafat,
er werde der arabische Frontmann im Antiterrorfeldzug sein. Offenbar
waren die palästinensischen Eliten nicht bereit, die ihnen zugedachte
Rolle zu übernehmen. In dem Angebot, fortan nicht gegen, sondern mit den
USA in den Kampf zu ziehen, sahen sie eine Aufforderung zum nationalen
Verrat.
Dabei hatte Sharon es Arafat eigentlich leicht gemacht, die Seiten zu
wechseln. Denn auch er hatte die Zeichen nach dem 11. September falsch
gedeutet und dies mit einer Gleichung kundgetan: »Arafat ist unser bin
Laden.« Weder er noch die israelische Rechte waren je willens, sich von
der Überzeugung zu lösen, dass die PLO im Kern eine Terrororganisation
sei. Der 11. September bestärkte sie in der Ansicht, Israel sei schon
immer ein Vorposten eines globalen Krieges gegen den Terrorismus
gewesen. Mit dem Anschlag auf das WTC fühlten sich die Israelis
rehabilitiert, nachdem sie monatelang international isoliert worden
waren. »Die Welt wurde Israel«, schreibt der Soziologe Nathan Sznaider
in Le Monde Diplomatique. »Noch nie hatte sich Israel derart als
integraler Teil der 'zivilisierten' Welt verstanden geglaubt.«
Schon am Tag danach begann eine der heftigsten Offensiven gegen die
palästinensiche Autonomiebehörde, die allerdings von den USA mit bislang
unbekannter Schärfe ausgebremst wurde. Die folgende Hofierung Arafats
muss der israelischen Rechten als Demütigung, ja als Ausschluss aus der
»westlichen Welt« vorgekommen sein. Sie konnte nicht verstehen, dass
ihre Definition von Terrorismus, die ebenfalls auf einer völkischen
Konzeption beruht, der US-amerikanischen grundlegend widersprach. Für
die israelische Rechte, die gewohnt ist, in fast metaphysischen Formeln
über die Araber als »das Böse« zu reden, verkörpert nicht nur die Hamas,
sondern auch die PLO, verkörpern womöglich alle Palästinenser dieses
Böse, das »den Terror genießt« (Sznaider).
Angesichts der Tatsache, dass mehr als 50 Prozent aller Palästinenser
die Selbstmordattentate gutheißen und die Intifada keineswegs als
Terrorismus, sondern als legitimen nationalen Kampf betrachten, ist es
den Israelis nicht möglich, irgendwelche »good guys« vorzuweisen oder
als Alternative zu den herrschenden vermeintlichen Terroristen
aufzubauen. Deshalb konnte Sharon in Washington lange Zeit niemanden von
seiner Sichtweise überzeugen.
Erst mit den neuen Anschlägen in Israel und dem siegreichen Ende des
Krieges in Afghanistan hat sich die Stimmung in den USA geändert.
Gelingt es der israelischen Rechten, ihre Auffassung, die
Palästinenserbehörde sei eine den »Terrorimus unterstützende
Organisation«, in den USA durchzusetzen, hat Arafat ausgespielt. Die
Erklärungen der EU, für sie bleibe er weiterhin ein Gesprächspartner,
können daran nichts ändern. Zu offensichtlich ist die Dekade
ethnisierter Außenpolitik mit dem 11. September beendet, und damit auch
die Intifada als ein von internationaler Unterstützung abhängiger
nationaler Aufstand.
So möchte man fast von einer List der Geschichte sprechen, die Sharon
zum Sieg verholfen hat. Es ist aber weder ein Sieg noch eine List, weil
am Ende nur Verlierer übrig bleiben werden. Hilflos wirken Appelle an
den israelischen Premier, jetzt, auf dem Hö-hepunkt seines Erfolgs,
müsse er eine »mutige Friedenslösung vorlegen« (Daniel Bloch in der
Jerusalem Post). Denn in Scharons Feldzug gegen den Terrorismus fehlt
diese Perspektive. Das aber ist eine andere Geschichte, die des Jahres
2002.