Der US-amerikanisch-palästinenische
Literaturwissenschaftler Edward Said veröffentlichte kürzlich
einen Artikel in zwei überregional erscheinenden Zeitungen, in dem er
Parallelen zwischen der Machtlosigkeit der europäischen Juden in den
40er Jahren und der palästinensischen Bevölkerung der Westbank und des
Gazastreifen behauptet. Said ist mehrfach mit Artikeln an die
Öffentlichkeit getreten, in denen er sich gegen Leugnungen des Holocaust
aussprach. Seine Anerkennung des Holocaust als historische Tatsache
begründet er auch damit, dass dieser eine Grundlage für
Forderungen der palästinensischen Bevölkerung darstelle, die er ‚als
Opfer der Opfer’ des Holocaust bezeichnet.
Der Artikel, den er „Tiefpunkt der
Machtlosigkeit“ übertitelte, erschien am 26.09.2002 auf Englisch in der
ägyptischen Wochenzeitung al-Ahram Weekly sowie am 30.09.2002 auf
Arabisch in der Londoner Tageszeitung al-Hayat. Die folgende
Übersetzung basiert auf dem zuerst erschienenden englischen Text, der
sich in einigen wenigen Formulierungen vom arabischen Text
unterscheidet:
„Vor sechzig Jagen befanden sich die Juden
Europas am Tiefpunkt ihrer kollektiven Existenz. Wie Vieh wurden sie in
Waggons getrieben und aus ganz Europa von Nazi-Soldaten in Lager des
Todes transportiert, in denen sie in Gasöfen systematisch vernichtet
wurden. In Polen boten sie einigen Widerstand, in den meisten Orten aber
verloren sie zuerst ihre Bürgerrechte, wurden aus ihren Berufen
entlassen, zum offiziellen Feind ernannt, der vernichtet werden müsse -
was sie dann auch wurden. In jeder erdenklichen Hinsicht waren sie das
machtloseste Volk, das von Führern und Armeen, deren eigene Macht weit,
weit größer war, als heimtückischer und potenziell überwältigender Feind
behandelt wurde. In der Tat, allein die Idee, Juden seien eine Gefahr
für die Macht von Ländern wie Deutschland, Frankreich und Italien, war
absurd. Aber sie wurde akzeptiert, denn von ein paar Ausnahmen abgesehen
drehten sich die meisten Länder Europas weg, als man sie abschlachtete.
Es ist nur eine der Ironien der Geschichte, dass das Wort, was im
grässlichen offiziellen Jargon des Faschismus am häufigsten zu ihrer
Beschreibung verwendet wurde, das Wort ‚Terroristen’ war, so wie die
Algerier und Vietnamesen später von ihren Feinden ‚Terroristen’ genannt
wurden.
Jede menschliche Katastrophe ist anders,
deswegen macht es keinen Sinn, nach Entsprechungen zwischen der einen
und der anderen zu suchen. Aber es ist sicherlich richtig, dass die
universelle Wahrheit über den Holocaust nicht nur darin besteht, es
dürfe den Juden nie wieder widerfahren, sondern darin, dass es als
grausame und tragische kollektive Bestrafung überhaupt keinem Volk
passieren dürfe. Auch wenn es keinen Sinn macht, nach Entsprechungen zu
suchen, so ist es doch sinnvoll, Analogien oder versteckte Ähnlichkeiten
auszumachen, selbst wenn wir dabei die Dimensionen im Kopf behalten.
Ganz unabhängig von seiner realen Geschichte
von Fehlern und Misswirtschaft wird Yasser Arafat jetzt dazu gebracht,
sich als ein vom Staat der Juden gejagter Jude zu fühlen. Es lässt sich
nicht bestreiten, dass die größte Ironie der Belagerung seines
zerstörten Sitzes in Ramallah durch die israelische Armee darin besteht,
dass sein Martyrium von einem psychopatischen Politiker, der für sich in
Anspruch nimmt, das jüdische Volk zu repräsentieren, geplant und
ausgeführt wird. Ich will diese Analogie nicht zu weit treiben, aber es
ist richtig zu behaupten, dass die Palästinenser unter israelischer
Besatzung heute ebenso machtlos sind, wie es die Juden in den 40er
Jahren waren. Israels Armee, die Luftwaffe und die Marine, von den USA
finanziell stark unterstützt, brachten Verwüstung über die völlig
wehrlose zivile Bevölkerung der besetzten Westbank und des Gazastreifen.
Das letzte halbe Jahrhundert waren die
Palästinenser ein enteignetes Volk, Millionen von ihnen Flüchtlinge, die
meisten anderen unter einer 35jährigen Militärbesatzung, abhängig von
der Gnade bewaffneter Siedler, die ihr Land systematisch stahlen und von
einer Armee, die die Palästinenser zu Tausenden tötete. Tausende sind in
Gefängnissen, Tausende verloren ihre Existenzgrundlage und wurden zum
zweiten oder dritten Male zu Flüchtlingen, jeder von ihnen ohne Bürger-
oder Menschenrechte.
Und dennoch behauptet Sharon, Israel kämpfe um
sein Überleben gegen den palästinensischen Terrorismus. Gibt es etwas
Groteskeres als diese Behauptung, während dieser geistig verwirrte
Mörder der Araber seine F-16-Flugzeuge, seine Angriffshubschrauber und
hunderte Panzer gegen unbewaffnete Menschen ohne jegliche Verteidigung
geschickt?
Sie sind Terroristen, sagt er, und ihr Führer,
der gedemütigt in einem zerfallen Gebäude gefangen ist, um ihn herum
israelische Zerstörung, ist der schlimmste Terrorist aller Zeiten.
Arafat hat den Mut und den Trotz sich zu widersetzen und in diesem Punkt
hat er sein Volk hinter sich. Jeder Palästinenser empfindet die ihm
zugefügte bewusste Erniedrigung als eine Grausamkeit, die außer der
schlichten Bestrafung keinen politischen oder militärischen Zweck
erfüllt. Welches Recht hat Israel, dies zu tun?
Es ist schrecklich, die Symbolik zu erkennen,
umso mehr als man weiß, dass Sharon und seine Unterstützer - ganz
abgesehen von seiner kriminellen Armee – tatsächlich beabsichtigen, was
von dieser Symbolik so drastisch illustriert wird. Israelische Juden
sind die Mächtigen, Palästinenser ihre gejagten und verachteten Anderen.
Zum Glück für Sharon hat er Shimon Peres, den
vielleicht größten Feigling und Heuchler in der heutigen Weltpolitik.
Peres reist überall herum und behauptet, Israel verstehe die
Schwierigkeiten des palästinensischen Volkes und ‚wir’ seien bereit, die
Absperrungen ein wenig unbeschwerlicher zu machen. Woraufhin sich
allerdings nicht nur rein gar nicht verbessert, sondern die
Ausgangssperren, die Zerstörungen und Morde sich noch verschärfen. Und
natürlich dient die israelische Position, massive international
humanitäre Hilfe zu fordern, wie Terje-Rod Larsen richtig sagt, in
Wirklichkeit dazu, internationale Geber zu überreden, der israelischen
Besatzung zuzustimmen. Sharon muss sich doch so fühlen, als könne er
alles tun, und er kommt damit nicht nur durch, sondern schafft es sogar
noch eine Kampagne zu führen, deren Zweck es ist, Israel die Rolle des
Opfers zu verschaffen.
Seit die öffentlichen Proteste weltweit größer
wurden bestand die organisierte zionistische Gegenreaktion darin, sich
über den Anstieg des Antisemitismus zu beschweren. Erst vor zwei Tagen
veröffentlichte der Präsident der Harvard Universität, Lawrence Summers,
eine Erklärung, in der er behauptet, dass eine von Professoren geführte
Anti-Investitions-Kampagne - ein Versuch, die Universität dazu zu
drängen, Aktien von amerikanischen Firmen, die militärische Ausrüstung
an Israel verkaufen, zu verkaufen - antisemitisch sei. Ein jüdischer
Präsident der ältesten und reichsten Universität des Landes beschwert
sich über Antisemitismus!
Kritik an der Politik Israels wird gegenwärtig
routinemäßig mit jenem Antisemitismus gleichgesetzt, der den Holocaust
hervorbrachte, obwohl es in den Vereinigten Staaten keinen
Antisemitismus gibt, der der Rede wert wäre. In den USA organisiert eine
Gruppe israelischer und amerikanischer Akademiker eine McCarthy-ähnliche
Kampagne gegen Professoren, die ihre Stimme gegen israelische
Menschenrechtsverletzungen erhoben. Der Hauptzweck dieser Kampagne aber
ist es, Studenten und Mitarbeiter zu bewegen, ihre pro-palästinensischen
Kollegen zu denunzieren, das Recht auf freie Rede zu behindern und die
wissenschaftliche Unabhängigkeit ernsthaft zu beschneiden.
Eine weitere Ironie besteht darin, dass der
Protest gegen die israelische Brutalität – zuletzt gegen die
entwürdigende Isolation Arafats in Ramallah – mittlerweile eine breite
Basis bekommen hat. Tausende Palästinenser widersetzen sich den
Ausgangssperren in Gaza und einigen Städten der Westbank, um für die
Unterstützung ihres bedrängten Führers auf die Straße zu gehen. Die
arabischen Herrscher ihrerseits sind dagegen ruhig oder machtlos, oder
beides zusammen. Jeder Einzelne von ihnen, Arafat eingeschlossen,
erklärt seit Jahren offen Bereitschaft zum Frieden mit Israel. Zwei
führende arabische Länder haben bereits mit Israel Verträge. Aber alles
was Sharon darauf erwidert, ist ein Tritt in ihre kollektive Hintern.
Araber, so behauptet er ständig, verstünden nur Gewalt, und jetzt da wir
die Macht haben, sollten wir sie so behandeln, wie sie es verdienen (und
wie wir früher behandelt wurden).
Uri Avnery hat Recht: Arafat wird ermordet.
Und mit ihm, so Sharon, auch die Bestrebungen der Palästinenser. Dies
ist eine Übung, die einem kompletten Genozid nahe kommt, um zu sehen wie
weit die israelische Macht mit ihrer sadistischen Brutalität gehen kann,
ohne gestoppt oder festgesetzt zu werden. Heute erklärte Sharon, dass er
bei einem Krieg mit dem Irak, der bestimmt kommen wird, gegen den Irak
zurückschlagen wird, womit er Bush und Rumsfeld zweifellos jene
Alpträume bereitet, die sie verdienen. Sharons letzter Versuch, ein
Regime zu stürzen, war 1982 im Libanon. Er setzte Bashir Jemayel als
Präsident ein, woraufhin ihm Jemayel unumwunden mitteilte, dass der
Libanon niemals ein Vasall Israels sein werde, Jemayel wurde ermordet,
das Massaker von Sabra und Shatila geschah und die Israelis zogen sich
schließlich nach zwanzig blutigen und entwürdigenden Jahren missmutig
aus dem Libanon zurück.
Welche Schlussfolgerung kann man aus all dem
ziehen? Die israelische Politik war eine Katastrophe für die ganze
Region. Je einfußreicher Israel wird, desto mehr Zerstörung säht es in
den angrenzenden Ländern - ganz zu schweigen von den Katastrophen, mit
denen es das palästinensische Volk überzog - und desto mehr wird es
gehasst. Dies ist keine Selbstverteidigung, sondern der Gebrauch von
Macht für bösartige Zwecke. Der zionistische Traum von einem jüdischen
Staat, der ein normaler Staat wie alle anderen sein solle, ist zur
Vorstellung des Führers der einheimischen Bevölkerung Palästinas, dessen
Leben an einem dünnen Fanden hängt, während israelische Panzer und
Bulldozer damit fortfahren, alles um sie herum zu zerstören, geworden.
Ist dies das zionistische Ziel, für das Tausende starben?
Ist denn nicht deutlich, welche Logik der
Verbitterung und der Gewalt darin am Werke ist, und welche Macht aus der
Machtlosigkeit entstehen wird, die bisher nur beobachten kann, sich
später aber sicherlich entwickeln wird? Sharon ist Stolz darauf, sich
der ganzen Welt widersetzt zu haben - [der Welt, die Israel nicht
deswegen kritisiert, weil sie antisemitisch ist,](3) sondern wegen der
Abscheulichkeiten, die Sharon im Namen des jüdischen Volkes begeht. Ist
es nicht Zeit, dass jene, die fühlen, dass seine schockierenden Taten
sie nicht repräsentieren, seinem Verhalten Einhalt gebieten?“
(1) Dieser
Halbsatz ist nur in der arabischen Version enthalten, scheint aber für
den Sinn des Satzes entscheidend.
Die englische Version ist in
sich unschlüssig: „Sharon is proud to have defied the entire world, not
because the world is anti-Semitic but because what he does in the name
of the Jewish people is so outrageous.“
THE MIDDLE EAST MEDIA RESEARCH
INSTITUTE (MEMRI)
eMail:
memri@memri.de,
URL:
www.memri.de
© Copyright 2002. Alle Rechte
vorbehalten.