"Arafat meint es nicht ernst mit den Reformen":
Feuer gegen Korruption
Die Proteste gegen Arafats
Autonomiebehörde dauern an. Den Forderungen nach Reformen haben sich
nun auch Teile des palästinensischen Establishments angeschlossen
Von André Anchuelo
Jungle World 35 v. 18.08.2004
In Khan Younis besetzten etwa 100
Universitätsabsolventen ein Gebäude der Palästinensischen
Autonomiebehörde (PA) und forderten die ihnen versprochenen Jobs, in
Rafah stürmten Obdachlose ein PA-Büro und verlangten sofortige
Hilfe. Auch in der vergangenen Woche dauerten die Proteste im
Gazastreifen an, die im Juli mit gewaltsamen Aktionen bewaffneter
Gruppen begonnen hatten (Jungle World, 31/04).
Die Forderungen an die Adresse Yassir Arafats nach
tiefgreifenden Reformen der PA werden immer vernehmlicher. Die
Proteste beschränken sich nicht mehr auf den Gazastreifen, und auch
die Kritik aus Kreisen des PA-Establishments wird immer schärfer. So
veröffentlichte Anfang voriger Woche die israelische Tageszeitung
Ha'aretz Auszüge aus dem Bericht eines palästinensischen
Untersuchungsausschusses. Das fünfköpfige Sonderkomitee des
Palästinensischen Legislativrates war Anfang Juli eingesetzt worden,
um die Gründe für das in den von der PA kontrollierten Gebieten
vorherrschende Chaos zu untersuchen. Seitdem hatte der Ausschuss
Dutzende prominenter Palästinenser befragt – von Premierminister
Ahmed Qurei über Befehlshaber von Polizei- und Sicherheitsdiensten
bis zu Aktivisten der Fatah und Journalisten.
Indirekt gibt das Gutachten Arafat die Schuld an
der gegenwärtigen Lage: "Der Hauptgrund für das Scheitern der
palästinensischen Sicherheitskräfte und ihren Mangel an Taten bei
der Wiederherstellung von Recht und Ordnung ist die Tatsache, dass
eine klare politische Entscheidung völlig fehlt." Folglich fordert
das Komitee den PA-Vorsitzenden auf, "seine Autorität zu nutzen, um
unverzüglich Befehle zu erteilen, damit alle gefährlichen
Aktivitäten im Gazastreifen (…) beendet werden." Außerdem fordert
der Bericht ein Ende des Beschusses Israels mit Qassam-Raketen und
sonstiger Angriffe im israelischen Staatsgebiet, den Rücktritt der
Regierung Qurei und allgemeine Wahlen.
Wenige Tage nach der Veröffentlichung des Reports
legten über 100 prominente Palästinenser nach. Sie veröffentlichten
in verschiedenen palästinensischen Tageszeitungen ganzseitige
Anzeigen mit einem Aufruf an die "allgemeine Öffentlichkeit" zur
Durchführung von Reformen, Bekämpfung der Korruption, Abhaltung
allgemeiner Wahlen und Fortführung der Intifada bei Schonung von
"Zivilisten beider Seiten".
Zu den Unterstützern der Petition zählen
Menschenrechtler, Intellektuelle, Fatah-Aktivisten,
Parlamentsmitglieder, ehemalige PA-Minister und selbst zwei
Mitglieder der amtierenden Regierung. Einer der Unterzeichner wird
in der Jerusalem Post mit der Äußerung zitiert, dass die
Entscheidung, den Aufruf zu veröffentlichen, getroffen worden sei,
nachdem Arafat es eine Woche zuvor abgelehnt hatte, die Kontrolle
über die Sicherheitsdienste abzugeben und die Macht mit Qurei zu
teilen. "Arafat meint es nicht ernst mit den Reformen", resümiert
der ungenannte Kritiker.
Weil immer mehr Palästinenser unterschiedlichster
politischer Couleur genau darüber empört sind, wird die Situation
für Arafat langsam bedrohlich. Tatsächlich räumen die meisten
Beobachter zwar ein, dass Arafat so schnell nicht von der Bildfläche
verschwinden werde. Doch anders als bei früheren Krisen könne der
75jährige diesmal keinen politischen Gewinn aus der Lage schlagen.
"Es könnte der Anfang vom Ende für ihn sein. Ohne Zweifel geht er
aus dem Konflikt schwächer hervor, als er hineingegangen ist",
urteilt der palästinensische Journalist Daud Quttab.
Auffällig ist, dass sich derzeit
unterschiedlichste Kritiker Arafats unter dem Banner von Reformen
und Korruptionsbekämpfung versammeln. Da es noch immer als zu
gefährlich gilt, Arafats Rücktritt zu fordern, versuchen
insbesondere mächtige Milizenführer, ihn indirekt durch die
Unterstützung der Reformforderungen zu treffen. Das führt so weit,
dass selbst intime Kenner der palästinensischen Szenerie nicht mehr
klar zu sagen vermögen, wer loyal zu Arafat steht und wer ihn
bekämpft.
Exemplarisch hierfür sind Vorfälle in Jenin vor
zwei Wochen. Mitglieder der örtlichen Al-Aqsa-Brigaden steckten die
Büros des PA-Sicherheitsdienstes und des Distriktgouverneurs in
Brand. Doch die Hintergründe sind unklar. So heißt es in einigen
Berichten, es handele sich bei den dortigen Brigaden um Getreue
Arafats. Andere Reporter wollen gesehen haben, dass bei der
Erstürmung des Gouverneursbüros auch Bilder Arafats von den Wänden
gerissen und verbrannt worden seien.
Zacharia Zubeidi, der Chef der Al-Aqsa-Brigaden
von Jenin, kritisierte schließlich einige Tage später in einem
Interview mit der Jerusalem Post "Nepotismus und Korruption" in der
PA-Führung und erläuterte, mit seinem "Protest" habe er auf die
lähmenden Mängel in der PA, insbesondere das Fehlen einer
unabhängigen Justiz, hinweisen wollen. Mit Mohammed Dahlan, einem
der einflussreichsten Fatah-Politiker und Milizenführer, der vielen
als Hauptdrahtzieher der gewalttätigen Protestaktionen insbesondere
im Gazastreifen gilt, wolle er jedoch nichts zu tun haben. Zubeidi
zufolge habe Dahlan erst "das Streichholz entzündet, das die PA in
Brand gesteckt" habe. Andere Beobachter hingegen vermuten, dass
Dahlan über Leute wie Zubeidi seine Rebellion gegen Arafat vom
Gazastreifen in die Westbank zu exportieren versucht. Sicher ist
wohl nur, dass es – nicht nur in Jenin – tatsächlich gebrannt hat.
Dahlan versucht, durch demonstrativ hartes
Vorgehen von seinem Imageproblem als angeblicher Erfüllungsgehilfe
Israels abzulenken. Zubeidi hat ein ganz anderes Problem: Er steht
auf der israelischen Fahndungsliste und hat bereits fünf israelische
Liquidierungsversuche überlebt. Seine Überlebenschancen sind
vielleicht nicht die besten, doch für seine politische Reputation
könnte es kaum günstigere Umstände geben.
Derweil machen sich zwei andere politische Akteure
ihre eigenen Gedanken. Die Hamas wartet ab, welche Kräfte die
Auseinandersetzungen in PA und Fatah gewinnen, um danach neue
Bündnisse zu schmieden. Und die israelische Regierung fragt sich, ob
sie irgendeine Seite unterstützen sollte, um eine weitere
"Anarchisierung" zu verhindern. Einige Israelis meinen inzwischen,
dass der einzige Stabilitätsgarant dabei ausgerechnet Yassir Arafat
ist.
So stellte ein Kommentator von Ha'aretz bereits
vor einem Monat fest, dass "schlecht für Arafat" nicht unbedingt
"gut für Israel" bedeute. Denn es ist nicht gerade wahrscheinlich,
dass sich bei einer Fortsetzung der derzeitigen Entwicklung die
palästinensischen Kräfte durchsetzen werden, die jetzt die
Einstellung von Angriffen auf israelische Zivilisten fordern. Das
Problem ist nur, dass auch Arafat in den letzten vier Jahren nichts
für deren Schutz getan hat.
hagalil.com
20-08-2004 |