Wahlen in der Autonomiebehörde:
Reformen beginnen im Parlament
Auch ohne die
israelischen Panzer wäre aus den Wahlen in Palästina wohl nichts
geworden. Jassir Arafat ist weder Demokrat noch Modernisierer aus
Überzeugung
Von YASSIN MUSHARBASH
Am 20. Januar 2003 jährt sich die
Wahl Jassir Arafats zum palästinensischen Präsidenten zum sechsten
Mal. An diesem Jubiläumstag sollten eigentlich die zweiten
palästinensischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen nach 1996
stattfinden. Doch kürzlich wurde der Urnengang erst einmal abgesagt.
Mit Verweis auf die anhaltende israelische Besatzung der
palästinensischen Gebiete empfahl der Wahlausschuss die Verschiebung
um zunächst drei bis vier Monate. Die Begründung ist plausibel: Man
kann unter den Bedingungen einer militärischen Besatzung keine
freien und fairen Wahlen abhalten, allein schon wegen der nicht
garantierten Bewegungsfreiheit der WählerInnen.
Auf der anderen Seite spricht einiges
dafür, dass aus den Wahlen auch ohne israelische Panzer in Gaza und
Ramallah nichts geworden wäre. Einen knappen Monat vor dem geplanten
Beginn der Wahl gab es noch nicht einmal ein Wählerverzeichnis. Das
neue palästinensische Wahlgesetz ist vom Parlament noch nicht
verabschiedet und verharrt seit einem guten Jahr im Status eines
Entwurfs. Und eine offizielle Meldefrist für Kandidaten ist nie
ausgerufen worden.
Natürlich hängen auch diese Probleme mit
den Bedingungen der Besatzung und der militärischen
Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinensern zusammen.
Wie soll das palästinensische Parlament Gesetze beschließen, wenn
der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon den Abgeordneten aus
Gaza die Reise nach Ramallah verbietet? Und die Wählerverzeichnisse
seien durch israelische Luftangriffe zerstört worden, machen die
Palästinenser geltend. Warum also unter solchen Ausgangsbedingungen
eine Meldefrist für Kandidaten ausrufen? Berechtigte Fragen.
Die noch berechtigtere Frage lautet
allerdings: Warum unter solchen Bedingungen dann überhaupt erst
Wahlen ankündigen? Es ist nicht schwer zu erraten, wie Arafats
Begründung lauten würde: Die ganze Welt, würde der palästinensische
Präsident sagen, verlangt doch seit einen halbem Jahr nach nichts
anderem als der Reformierung und Demokratisierung der
Palästinensischen Autonomiebehörde!
Und tatsächlich, gäbe es im Nahen Osten
ein Wort des Jahres zu wählen, der Begriff "Reformen" würde ohne
Zweifel das Rennen machen. Das Problem ist allerdings, dass dieser
schwammige Begriff es allen beteiligten Parteien erlaubt, ganz
unterschiedliche Agendas unter dieses Motto zu fassen.
Zur Erinnerung: Die Forderung nach
"Reformen" innerhalb der Palästinensischen Autonomiebehörde wurde
zuerst von palästinensischen Parlamentariern formuliert. Sie
protestierten dagegen, dass Arafat ohne Ansehen von Kompetenz und
Integrität seine Vertrauten in Machtpositionen hievte. Viele der
aufmüpfigen Parlamentarier, die im Frühsommer das Wort erhoben, sind
Fatah-Mitglieder, zählen also zu Arafats eigener Truppe. Ihr Ziel
war nie die Absetzung des palästinensischen Präsidenten. Am Ende
stand ein - wenn auch fauler - Kompromiss: Arafats engster Zirkel
blieb unangetastet, dafür wurden einige inkompetente Minister
geschasst. Das war etwas Neues. Arafat, der in internen
Angelegenheiten zuvor als absoluter Herrscher gegolten hatte, hatte
sich bewegt.
Die israelische Regierung unter Ariel
Scharon vereinnahmte diese Entwicklung und verlangte alsbald
ebenfalls Reformen in der Palästinensischen Autonomiebehörde.
Gemeint war freilich etwas ganz anderes, als es die Parlamentarier
von Arafat forderten. Für Israel hieß Reform: eine komplette
Umverteilung der Macht in Palästina - ohne jede weitere Beteiligung
Arafats.
Auch die Mitglieder des so genannten
Nahost-Quartetts sprangen auf den Reformzug auf, Russland und die
UNO weniger, aber USA und EU weithin hörbar. Sie verlangten mehr
Transparenz in der Finanzverwaltung der Autonomiebehörde, damit
Hilfsgelder nicht länger in dunklen Kanälen versickerten. Sie
wünschten eine Demokratisierung des Apparats, um der Korruption
Einhalt zu gebieten. Beide Forderungen nannten sie notwendige
Reformen, deren Erfüllung sie zur Bedingung weiterer finanzieller
Unterstützung machten. Impliziert war hier die Hoffnung, Arafat
würde sich selbst wegreformieren, etwa indem er entnervt für sich
selbst eine symbolische Rolle akzeptieren und die Tagesgeschäfte an
einen zu wählenden Ministerpräsidenten übertragen würde.
Nun ist Arafat weder Demokrat noch
Reformer aus Überzeugung. Um aber an der Macht bleiben zu können,
kam er etlichen Forderungen nach. So trat er vom Amt des
Innenministers zurück, das er sechs Jahre lang innegehabt hatte. Er
berief einen Reformfinanzminister. Er unterschrieb endlich die
palästinensische Verfassung. Und in einer Art Befreiungsschlag, als
die Zweifel an seiner Reformwilligkeit immer lauter und die
Forderungen immer weitreichender wurden, kündigte er im September
Wahlen an.
Wahlen freilich, die in dieser Form
eigentlich niemand wollte: Weil Arafat sie gewinnen würde, falls sie
stattfinden, und weil schon ihre Ankündigung ihn vorläufig an der
Macht belässt, solange sie nicht stattfinden.
Schon der in den ersten Monaten des
kommenden Jahres erwartete Irakkrieg aber wird eine Situation
schaffen, die Arafats momentane Sicherheit beendet. Zum einen
nämlich ist fraglich, ob die nunmehr für das Frühjahr angesetzten
Wahlen während oder direkt im Anschluss an diesen Krieg überhaupt
stattfinden können. Von immer weiter nach hinten verschobenen Wahlen
hätte Arafat aber nichts; sein gerade errungener Demokratennimbus
würde sich schneller abnutzen, als er glaubt. Zum anderen ist es
keinesfalls ausgeschlossen, dass Ariel Scharon eventuelle
Pro-Saddam-Kundgebungen in Palästina zum Vorwand nimmt, Arafat
endgültig loszuwerden.
Den USA liegt jedenfalls nicht mehr
allzu viel an Arafat; im beschriebenen Szenario könnte das bisher
gegenüber Israel durchgesetzte Veto gegen die Deportation fallen,
zumal die USA offenbar eine Zukunft ohne Arafat zur Bedingung für
die palästinensischen Staatsgründung machen wollen und sich nur noch
nicht entschieden haben, auf welche Weise sie Arafat loswerden
wollen. Arafat ist nach wie vor gefährdet - ob er das kommende Jahr
politisch überstehen wird, ist ungewiss.
Die Nahostpolitik des Quartetts indes
krankt daran, dass sie seit der Wahlankündigung im September völlig
auf die Person, Rolle und Zukunft Arafats fixiert ist. Dabei ist die
politische Kraft, auf die man sich eigentlich konzentrieren sollte,
das palästinensische Parlament. Zweimal erlaubte die israelische
Regierung im vergangenen Jahr Sitzungen, beide Male nutzten die
Parlamentarier ihre Chance. Bei der ersten Gelegenheit erzwangen sie
eine Kabinettsumbildung, bei der zweiten verhinderten sie, dass
Arafat Notstandsgesetze anwendete, um doch noch sein Traumkabinett
durchzudrücken. Reformen, das hat der Sommer gezeigt, haben dort
ihren Anfang.
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30-12-2002 |