Strassensperren, Porträtfotos
und abgesägte Olivenbäume:
Augenblicke in Ramallah
ALS John Berger im Juni dieses Jahres das Westjordanland
besuchte, herrschte dort Gewalt. Attentate der Palästinenser und israelische
Militäraktionen bestimmten die Schlagzeilen. Berger wirft einen ruhigen
Blick auf den Alltag des palästinensischen Volkes, so sieht er zum Beispiel
Jungen zu, wie sie Tomatensetzlinge gießen. In einer anderen Zeit - vor 1948
gewiss - war Ramallah einmal ein beliebtes Ausflugsziel der Bewohner
Jerusalems, die vor der sommerlichen Hitze gerne in höher gelegene Regionen
flohen.
Von JOHN BERGER
Schriftsteller und Kunstkritiker, lebt in Frankreich.
Auf Deutsch erschien zuletzt der Essayband "Gegen die Abwertung der Welt",
München (Hanser) 2003.
Eine kleine gepflasterte Straße schlängelt sich zwischen
Felsbrocken hinab in ein Tal südlich von Ramallah. Rechts und links
Olivenhaine, deren Bäume teils noch aus der Römerzeit stammen könnten. Für
die Palästinenser ist dieser Weg (eine Tortur für jedes Auto) die einzige
Zufahrt zu ihrem nahe gelegenen Dorf. Denn die eigentliche Asphaltstraße ist
den israelischen Siedlern vorbehalten und für Palästinenser gesperrt.
Ich gehe schnell, denn langsames Gehen ist mir seit jeher ermüdender
erschienen. Zwischen den Sträuchern entdecke ich eine rote Blume. Ich bleibe
stehen, um sie zu pflücken. Später erfahre ich, dass sie Sommeradonisröschen
heißt. Ihr Rot ist sehr intensiv und ihr Leben, laut Botaniklexikon, kurz.
Baha, unser Führer, ruft mir warnend zu, dass ich mich von der Anhöhe zu meiner
Linken fernhalten soll. Wenn sie sehen, dass jemand näher kommt, schießen
sie, ruft er.
Ich versuche, die Entfernung abzuschätzen: ein knapper Kilometer. Ein paar
hundert Meter weiter in der nicht empfohlenen Richtung entdecke ich ein
angebundenes Maultier und ein Pferd. Durch den Anblick ermuntert, gehe ich
dorthin.
Als ich ankomme, sehe ich zwei Jungen, etwa elf und acht Jahre alt, auf einem
Feld arbeiten. Der Jüngere füllt aus einer in den Boden versenkten Tonne
Gießkannen mit Wasser. Die Sorgfalt, mit der er das macht - er verschüttet
keinen Tropfen - zeigt, wie kostbar das Wasser ist. Der Ältere nimmt die
volle Kanne jedes Mal entgegen und klettert vorsichtig hinunter auf ein
gepflügtes Stück Land, um die dort wachsenden Pflanzen zu gießen. Beide
Jungen sind barfuß.
Der Junge, der die Pflanzen gießt, winkt mich heran und zeigt mir stolz sein
Stück Land mit den hunderten von kleinen Pflanzen. Einige erkenne ich:
Tomaten, Auberginen, Gurken. Sie müssen in der vergangenen Woche gesetzt
worden sein. Sie sind noch klein, dürsten nach Wasser. Eine Pflanze kenne
ich nicht, der Junge merkt es. Dick und leicht, sagt er. Melone? Shumaam!
Wir lachen. Seine Augen schauen mich dabei ohne Umschweife an. Wir sind,
Gott weiß warum, beide in diesem Augenblick am Leben. Er führt mich durch
die Reihen, um mir zu zeigen, was er alles gegossen hat. Einmal bleiben wir
stehen, schauen um uns und werfen einen Blick auf die Siedlung mit den
Schutzmauern und den roten Dächern.
Als er mit seinem Kinn in Richtung der Siedlung deutet, liegt etwas Spöttisches
in seiner Geste, ein Spott, den er mit mir teilen will, so wie den Stolz auf
das Gießen. Der Spott geht über in ein Grinsen - so als hätten wir uns
verabredet, zur gleichen Zeit an der gleichen Stelle zu pinkeln.
Später gehen wir zurück zu der gepflasterten Straße. Er pflückt wilde Minze und
reicht mir ein Bund. Ihre Frische ist wie ein Schluck kaltes Wasser, kälter
als das in der Gießkanne. Wir gehen auf das Pferd und das Maultier zu. Das
Pferd, ohne Sattel, hat einen Halfter, aber weder Zaumzeug noch
Gebissstange. Der Junge will mir etwas vorführen. Während sein Bruder das
Maultier ruhighält, springt er auf das Pferd und galoppiert - ohne Sattel -
den Holperweg hinunter, auf dem ich gekommen bin. Das Pferd hat scheinbar
sechs Beine, seine vier eigenen und die zwei seines Reiters, und alle werden
von den zwei Händen des Jungen dirigiert. Er reitet wie einer, der über
Generationen von Reiterfahrung verfügt. Als er zurückkehrt, lacht er, und
wirkt zum ersten Mal schüchtern.
Ich schließe mich wieder Baha und den anderen an, die schon einen Kilometer
weiter sind. Sie unterhalten sich mit einem Mann. Er ist der Onkel des
Jungen, und er gießt ebenfalls Pflanzen, die er erst kürzlich ausgesät hat.
Die Sonne geht unter, und das Licht verändert sich. Das Gelbbraun der Erde -
das an den Stellen, wo gegossen wurde, dunkler ist - ist nun die
vorherrschende Farbe. Der Mann versucht, noch die letzten Tropfen Wasser vom
Boden einer dunkelblauen 500-Liter-Tonne zu verwenden.
Auf der Oberfläche der blauen Tonne sind sorgsam elf Flicken angebracht -
ähnlich denen, die man zum Reparieren von Fahrradschläuchen verwendet. Der
Mann erklärt mir, dass er die Tonne reparieren musste, weil eine Bande aus
der Siedlung Halamish (der mit den roten Dächern) eines Nachts, als sie
wussten, dass die Wasserbehälter randvoll mit Frühjahrs-Regenwasser gefüllt
waren, die Tonnen mit Messern aufgeschlitzt hatte. Eine andere Tonne, die
auf der unteren Terrasse steht, lässt sich nicht mehr reparieren.
Weiter weg, auf derselben Terrasse, sieht man den knorrigen Stumpf eines
Olivenbaums, der, nach dem Umfang zu urteilen, mehrere hundert, vielleicht
gar tausend Jahre alt gewesen sein muss. Ein paar Nächte zuvor, erzählt der
Onkel, haben sie ihn mit einer Kettensäge gefällt. Später finde ich ein
Gedicht von Zakaria Mohammed: "Das Gebiss". Darin geht es um ein schwarzes,
ungezäumtes Pferd, aus dessen Maul Blut tropft. Begleitet wird das Pferd in
Zakarias Gedicht von einem Jungen, den das Blut erschreckt.
"Was kaut das schwarze Pferd? / Fragt er./ Was kaut es? / Das schwarze Pferd /
Kaut / Ein Gebiss aus Eisen / Ein Mundstück der Erinnerung / An der es
herumbeißt / herumbeißt bis zum Tode."
***
Die schweren zertrümmerten Betonplatten und die eingestürzten Mauern von
Arafats Hauptquartier im Zentrum Ramallahs haben nicht zuletzt eine
symbolische Kraft - allerdings nicht in dem Sinne, wie es sich die
israelischen Befehlshaber vorgestellt haben. Die Zerstörung der Muquata,
während Arafat und seine Begleiter sich darin aufhielten, sollte eine
öffentliche Demütigung sein, so wie der Tomatenketchup, den die Armee bei
ihren Durchsuchungen und Plünderungen in Privatwohnungen auf Kleidern,
Möbeln und Wänden verschmierte - eine private Warnung, dass Schlimmeres
folgen wird.
Noch immer repäsentiert Arafat sein Volk, die Palästinenser, glaubwürdiger als
jeder andere Herrscher der Welt. Nicht auf demokratische, sondern auf
tragische Weise. Daher die symbolische Kraft. Wegen der zahlreichen Fehler,
die die von ihm angeführte PLO begangen hat, und der zweideutigen Haltung
der umliegenden arabischen Staaten bleibt ihm kein Raum für politisches
Handeln. Er ist kein politischer Führer mehr. Doch er behauptet sich
trotzig. Niemand glaubt mehr an ihn, und viele würden ihr Leben für ihn
geben. Wie ist das möglich? Arafat ist längst ein Trümmerberg, aber ein Berg
des Landes.
***
Nun bin ich also hier gelandet, erfülle ungewollt einen Traum, den manche
meiner Vorfahren in Polen, Galizien und dem habsburgischen Reich zwei
Jahrhunderte lang geträumt und über den sie oft gesprochen haben.
Riad, der Zimmerleute ausbildet, ist seine Zeichnungen holen gegangen, die er
mir zeigen möchte. Wir sitzen im Garten, der das Haus seines Vaters umgibt.
Dieser eggt mit seinem Schimmel das Feld gegenüber. Als Riad wiederkommt,
trägt er die Zeichnungen wie eine Akte unter dem Arm, als hätte er sie aus
einem altmodischen metallenen Ablageschrank hervorgezogen. Er geht langsam,
und die Hühner gehen ihm noch langsamer aus dem Weg. Er nimmt mir gegenüber
Platz und reicht mir nacheinander die Zeichnungen. Sie sind mit einem harten
Bleistift gezeichnet, aus der Erinnerung und mit großer Geduld. Strich um
Strich, in den Abendstunden nach der Arbeit gezeichnet - bis die Schwarztöne
so schwarz sind, wie er sie haben will, die Grautöne silberglänzend. Und das
auf ziemlich großen Blättern.
Eine Zeichnung von einem Wasserkrug. Eine Zeichnung von seiner Mutter. Eine
Zeichnung von einem zerstörten Haus, durch dessen Fenster man in keine
Zimmer mehr blicken kann.
Als ich die Zeichnungen schließlich beiseite lege, steht ein alter Bauer mit
gegerbtem Gesicht vor mir. Sie kennen sich doch sicher mit Hühnern aus,
wendet er sich an mich. Wenn eine Henne krank wird, legt sie keine Eier
mehr. Da ist nichts zu machen. Eines Tages aber wacht sie auf und spürt,
dass sie bald sterben wird. Sie merkt es, und was passiert? Sie fängt wieder
an zu legen, und nichts wird sie davon mehr abbringen, nur der Tod. Wir sind
wie diese Henne.
***
Die Kontrollpunkte fungieren wie innere Grenzen, trotzdem sehen sie nicht aus
wie normale Posten. Sie sind so konstruiert und mit Soldaten besetzt, dass
jeder, der sie passiert, auf den Status eines unerwünschten Flüchtlings
reduziert wird. So werden die Palästinenser ständig daran gemahnt, wer der
Sieger ist und wer der Besiegte. Mitunter müssen die Palästinenser die
Demütigung, im eigenen Land als Flüchtlinge behandelt zu werden, mehrmals am
Tag über sich ergehen lassen.
Jeder, der hinüber will, muss den Kontrollpunkt zu Fuß passieren, und die
Soldaten - Maschinenpistolen im Anschlag - picken sich heraus, wen sie
"überprüfen" wollen. Autos dürfen nicht passieren. Die alten Straßen wurden
zerstört. Auf der neuen, obligatorischen "Route" wurden Brocken und Steine
verteilt und andere kleinere Hindernisse errichtet. Folglich stolpern alle
hinüber, ausgenommen die ganz Sportlichen.
Junge Männer, die sich auf diese Weise einen kleinen Lebensunterhalt verdienen
wollen, schieben die Kranken und Alten auf vierrädrigen Holzkisten über die
Grenze, mit denen sonst das Gemüse zum Markt gekarrt wird. Um die Stöße der
Straße abzufangen, bieten die Jungen jedem ein Kissen an. Sie hören sich die
Geschichten der Alten an und wissen immer das Neueste, schließlich sind die
Straßensperren jeden Tag an anderen Stellen. Sie geben Ratschläge, jammern,
und sind stolz auf die Hilfe, die sie anbieten können, auch wenn sie nur
gering ist. Sie sind so etwas wie der Chor in der antiken Tragödie.
Einige "Pendler" benutzen einen Stock, manche sogar Krücken. Alles, was
üblicherweise im Kofferraum eines Fahrzeugs untergebracht ist, muss in
Bündeln auf dem Rücken oder den Armen hinübergeschafft werden. Die Distanz
beträgt zwischen 300 Metern und anderthalb Kilometern; sie kann sich
stündlich ändern.
Palästinensische Ehepaare - die jüngeren, gebildeteren ausgenommen - wahren in
der Öffentlichkeit normalerweise immer einen gebührlichen Abstand. An den
Kontrollposten aber halten sich Ehepaare allen Alters an der Hand. Mit jedem
Schritt suchen sie sicheren Boden; und sie überlegen genau, wo und wie sie
an den Posten vorbeigehen sollen - nicht zu schnell, denn Eile weckt
Verdacht, und nicht zu langsam, denn Zögern könnte die Wachen zu einem ihrer
"Spielchen" animieren, mit denen sie sich gerne die (chronische) Langeweile
vertreiben.
***
Viele, nicht alle, israelische Soldaten haben ausgeprägte Rachegefühle. Diese
haben nichts gemein mit der Grausamkeit, die Euripides schildert und
beklagt, denn die Konfrontation geschieht nicht unter Gleichen, sondern
zwischen Allmächtigen und offensichtlich Ohnmächtigen. Doch die Macht der
Mächtigen geht einher mit einer großen Enttäuschung: die Entdeckung, dass
ihre Macht, trotz aller Waffen, unerklärbare Grenzen hat.
***
Ich will einige Euros in Schekel wechseln - die Palästinenser besitzen keine
eigene Währung. Ich gehe die Hauptstraße entlang, vorbei an vielen kleinen
Läden; gelegentlich sitzt ein Mann auf einem Stuhl dort, wo früher, vor der
Invasion der Panzer, ein Gehsteig war. Die Männer halten dicke Bündel
Banknoten in der Hand. Ich gehe auf einen jüngeren Mann zu und sage ihm, ich
würde gerne hundert Euro in Schekel tauschen. (Für diesen Betrag könnte man
beim Juwelier einem Mädchen ein Goldarmband kaufen.) Er tippt etwas in
seinen Kindertaschenrechner und gibt mir mehrere hundert Schekel heraus.
Ich gehe weiter. Ein Junge, der ein Bruder des - meiner Vorstellung
entsprungenen - Mädchens mit dem Goldarmband sein könnte, bietet mir
Kaugummi zum Kauf an. Er kommt aus einem der beiden Flüchtlingslager in
Ramallah. Ich kaufe ihm welches ab. Außerdem verkauft er Plastikhüllen für
die maschinenlesbaren Ausweise, die jeder Palästinenser bei sich tragen
muss. Seine Miene fordert mich nachdrücklich auf, ihm alle Kaugummis
abzukaufen, was ich schließlich tue.
Eine halbe Stunde später bin ich auf dem Gemüsemarkt. Ein Mann verkauft
Knoblauchknollen, so groß wie Glühbirnen. Viele Menschen stehen dicht
gedrängt. Jemand tippt mir auf die Schulter. Ich drehe mich um. Es ist der
Geldwechsler. Ich habe Ihnen fünfzig Schekel zu wenig herausgegeben, sagt
er, hier sind sie. Ich nehme die fünf Zehn-Schekel-Scheine. Es war nicht
schwer, Sie zu finden, fügt er hinzu. Ich bedanke mich bei ihm.
Er blickt mich an, und der Ausdruck in seinem Gesicht erinnert mich an eine
alte Frau, die ich tags zuvor getroffen habe. Man spürt, dass da jemand sich
völlig auf den Augenblick konzentriert - und zwar ruhig und bedächtig, als
könnte jeder Augenblick sein letzter sein. Dann wendet sich der Geldwechsler
ab und begibt sich auf den Weg zurück zu seinem Stuhl.
***
Die alte Frau hatte ich in dem Dorf Kobar getroffen. Das Haus war neu, aber
einfach und unfertig. An der Wand des kahlen Wohnzimmers hingen Fotos von
ihrem Neffen, Marwan Barguti. Marwan als Kind, als Jugendlicher, als Mann
von vierzig Jahren. Derzeit sitzt Marwan in einem israelischen Gefängnis.
Wenn er überlebt, ist er einer der politischen Führer innerhalb der Fatah -
einer, um den man nicht herumkommt, wenn man ernsthaft den Frieden
aushandeln will.
Während wir Zitronensaft trinken und die Tante Kaffee kocht, kommen ihre Enkel
in den Garten: zwei Jungen, etwa acht und neun Jahre alt. Der jüngere,
schmalere, trägt den Namen "Heimat", der ältere heißt "Kampf". Sie liefen
zunächst hierhin und dorthin, hielten dann aber plötzlich inne und warfen
sich gespannte Blicke zu, taten dabei so, als würden sie sich hinter etwas
verstecken und hervorspähen, ob sie schon jemand entdeckt hätte. Dann
bewegten sie sich wieder, liefen ins nächste unsichtbare Versteck. Ein
Spiel, das sie sich ausgedacht hatten und das sie oft spielten. Das dritte
Kind war vier Jahre alt. Es hatte rote und weiße Flecken im Gesicht, wie ein
Clown; und wie ein Clown stand der Junge auch abseits, und sah den anderen
sehnsüchtig beim Spielen zu. Er hatte Windpocken und wusste, dass er Abstand
zu den Gästen halten musste. Als es an der Zeit war, zu gehen, nahm die
Tante meine Hand, und in ihrem Gesicht erkannte ich den Ausdruck von
jemandem, der sich völlig auf den Augenblick konzentriert.
Wenn zwei Menschen gemeinsam auf einem Tisch ein Tischtuch ausbreiten, blicken
sie sich an, um das Tuch richtig hinzulegen. Man stelle sich vor, der Tisch
ist die Welt und das Tuch das Leben all jener, die wir retten müssen. So
konzentriert war der Ausdruck in ihrem Gesicht.
deutsch von Thomas Stegers, Le Monde diplomatique, 15.8.2003,
Dokumentation JOHN BERGER
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17-08-2003 |