Neue Kader plädieren für Mässigung:
Der Widerstand gegen Arafat macht sich bemerkbar
Ein Israeli, der zum ersten Mal Jordanien besucht, reibt
sich angesichts der Worte seines Fremdenführers ungläubig die Ohren.
Viele der wichtigsten Stätten der jüdischen Geschichte, wie etwa das
Grab Moses, befinden sich östlich des Jordanflusses. Jäh wird einem das
Absurde daran deutlich, dass sich der heutige Staat Israel eigentlich
auf einem Bruchteil des Gebietes befindet, in dem die Israeliten damals
saßen. Die "Rückkehr" des jüdischen Volkes in seine Heimat ist in
gewisser Hinsicht eine geographische Augenauswischerei, oder zumindest
ein gewolltes Schielen. Wie konnte das alles aufgegeben werden? Antwort:
die Aufgabe der Politik ist es, das Wünschenswerte mit dem Machbaren zu
vereinen.
Das erste Ziel der
pragmatischen zionistischen Führung war die Staatsgründung. Dafür nahm
sie den Verlust vieler Träume und Ideale in Kauf. So wurden Generationen
von Israelis im staatlichen Schulsystem im Sinne dieses Verzichtes
erzogen. Eine rein ideologische Sicht und Erziehung hätte nur zu inneren
Konflikten mit den existierenden Grenzen geführt.
Im Hinblick auf diese Entwicklung erscheint die
palästinensische Pädagogik besonders problematisch. Heute ist schon den
meisten klar, dass Arafat nicht derjenige sein wird, der die
Palästinenser zu einem eigenen Staat in Koexistenz mit Israel führen
wird. Doch was kommt nach ihm? In den Jahren nach dem Oslovertrag hat
Arafat mit eigenen Händen den Ölzweig zwischen den Seiten seiner
Lehrbücher mumifiziert. Zu Beginn der Intifada wurden Kinder nach der
Schule organisiert zu Demonstrationen gefahren, trotz (oder eben wegen?)
der Lebensgefahr. In Sommerlagern lernen 10-jährige den Gebrauch von
Schusswaffen, üben das Töten und preisen den Tod. Im offiziellen
Fernsehen der Autonomiebehörde wird täglich der Videoclip eines Liedes
ausgestrahlt, in dem ein schnuckeliger Junge von Kugeln zum ersehnten
Märtyrerstatus zerfetzt wird. In ihrer Freizeit lernen die Kinder über
die palästinensischen Städte Akko und Jaffa, rezitieren verträumte
nationale Poesie, in denen die Worte Blut, Land, Tod und Sehnsucht in
allen Schattierungen gemalt werden. Das religiöse Oberhaupt der Muslime
in Israel/Palästina, der Mufti von Jerusalem, machte die Ideologie
hinter dieser Erziehung für alle verständlich. In einem Interview für
die ägyptische Zeitung Al-Ahram al-Arabi sagte er: "Ich glaube, die
Märtyrer sollten sich glücklich schätzen, denn die Engel eskortieren sie
sofort ins Paradies. [...] Je jünger der Märtyrer ist, desto mehr habe
ich Respekt vor ihm." Das Endziel sei die Befreiung gesamt Palästinas,
und dafür müsse man noch viele Opfer bringen. Es gibt hier keinen Raum
für einen Kompromiss. In einer solchen Gehirnwäsche verliert jede rosige
Aussicht sofort ihre Farbe.
Doch gibt es zwischen Arafat und den Kindern der Intifada
noch eine Generation. Wie absurd es auch klingen mag, in ihr liegt die
Hoffnung für eine erträgliche Zukunft im Nahen Osten. Die arabischen
Familienväter von heute verstehen den horrenden Preis, den Arafat ihnen
ohne Gegenleistung abverlangt hat. 50% der Palästinenser leben heute
unter der Armutsgrenze, welche mit rund 400 $ pro Monat für eine
sechsköpfige Familie angegeben wird. Etwa ein Drittel aller
arbeitsfähigen Männer sind ohne Arbeit, kein Mensch kauft heute mehr
Fleisch, obwohl die Preise schon um die Hälfte gefallen sind. Diese
Männer kennen Israel, seine hässlichen und seine angenehmen Seiten. Sie
sehen täglich die Besatzungsmacht in Form der Soldaten an den
Checkpoints, aber sie kennen auch ihre israelischen Kollegen von der
Arbeit, ihren Boss, ihren Fahrer. Sie können vielleicht noch
differenzieren zwischen ideo-unlogischer Phantasterei und Realpolitik.
Und ihr Murren wird in letzter Zeit immer deutlicher hörbar.
Vertreten werden sie von zwielichtigen Figuren wie Jibril
Rajub und Mohammed Dahlan, Kommandeure der "preventive security" in
Westjordanland und Gaza. Rajub hat sein ausgezeichnetes Hebräisch in
israelischen Gefängnissen gelernt. Sein Verständnis der israelischen
Gesellschaft bestätigt er wiederholt in seinen Privatinterviews im
staatlichen Fernsehen. Mit ihm unterzeichnete der Verteidigungsminister
Ben-Eliezer den Rückzugsvertrag vor einem Monat aus Bethlehem. Nun
herrscht dort Ruhe. Laut Berichten in den israelischen Medien gehören
diese beiden zu einem wachsenden Kreis aufstrebender Rädelsführer, die
versuchen, mäßigend auf Arafat einzuwirken. Sie fürchten die stete
Erosion ihrer Macht zugunsten der Hamas, haben ihre Finger nahe am Puls
der schmachtenden Zivilbevölkerung. Keiner von ihnen ist stark genug, um
Arafat allein zu widersprechen oder gar zu stürzen, aber nach seinem
Abdanken werden sie für kurze Zeit die Macht haben.
Daraus könnte Israels größte, und vielleicht letzte Chance
erwachsen. Es ist schwer abzusehen, ob sie zum einen wirklich die
Pragmatiker sind, die sie vorgeben zu sein, und ob sie zum anderen
imstande sein werden, die schmerzvollen, notwendigen Kompromisse zu
Hause durchzuboxen. Doch erheben sich aus ihren Reihen immer wieder
journalistische Testballons in politische Höhen, in denen zum Beispiel
der Verzicht auf das Rückkehrrecht theoretisch angenommen wird. Dies
sind für Palästinenser unerhört revolutionäre Töne, die Grund zur
Hoffnung geben. Sollten die neuen Kader einmal an die Macht kommen (und
je eher desto besser) wird ein schnelles Einvernehmen erreicht werden
müssen, um das gesellschaftliche Pulverfass sofort zu entschärfen. Denn
lange werden die heutigen Kinder nicht warten wollen, um ihre
Plastikpistolen gegen echte Gewehre einzutauschen. Wenn sie dann erst
einmal mit der Gewalt auch die Macht übernehmen, werden sie ihr
tödliches Wissen auch nutzen wollen. Die nächste Chance für bleibenden
Frieden wäre dann erneut für Generationen verpasst.
INW /
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haGalil onLine 18-12-2001 |