DEMOKRATIE - DEMOGRAFIE
Palästinenserstaat für Israel
Die Vollversammlung der Vereinten
Nationen hat in ihrer außerordentlichen Sitzung am 20. Dezember ihre
Unterstützung der palästinensischen Autonomiebehörde und ihre
Verurteilung der israelischen Siedlungspolitik bekräftigt. Damit sollte
die Unzufriedenheit mit dem Verhalten der USA dokumentiert werden, die
kürzlich im Sicherheitsrat per Veto die Forderung verhindert hatten, den
Palästinensern internationalen Schutz zu gewährleisten. Einmal mehr
zeigte sich die aktuelle Ohnmacht der UNO wie auch des internationalen
Rechts. Scharon verkündete nach seinem Amtsantritt, der
Unabhängigkeitskrieg von 1948 sei noch nicht zu Ende. Seine Politik, die
auf die Zerstörung der Autonomiebehörde hinarbeitet, richtet sich jedoch
gegen die Interessen seines eigenen Volks. Bestenfalls verstärkt sie die
Isolierung Israels von seinen Nachbarn; schlimmstenfalls treibt das Land
auf einen Krieg zu, in dem es keine Sieger geben dürfte.
Von DOMINIQUE VIDAL
ICH will nicht
behaupten, dass es keinerlei Abkommen mit den arabischen Palästinensern
geben kann, unmöglich ist nur ein frei vereinbartes Abkommen. Doch
solange es in ihren Köpfen auch nur den kleinsten Hoffnungsschimmer
gibt, uns eines Tages loszuwerden, wird kein gutes Wort und kein noch so
attraktives Versprechen sie zur Aufgabe dieser Hoffnung bringen; denn
sie sind kein nichtswürdiger Pöbel, sondern eine lebendige Nation. Eine
lebendige Nation jedoch ist hinsichtlich lebenswichtiger Fragen nur dann
zu Konzessionen bereit, wenn sie alle Hoffnung verloren hat, ,uns
loswerden' zu können, und wenn jegliche Öffnung in der ,eisernen Mauer'
abgedichtet ist."
Zeev (Wladimir) Jabotinsky, der Begründer
der "revisionistischen" Bewegung innerhalb des Zionismus, schrieb diese
Zeilen 1923 in dem Aufsatz "Die eiserne Mauer (die Araber und wir)".
Zehn Jahre später trennte er sich von der WZO (Zionistische
Weltorganisation); sein Vorwurf lautete damals, die Zionisten hätten
ihren Kampf für die Errichtung eines jüdischen Staates beiderseits des
Jordan aufgegeben und täten nichts für den Aufbau einer jüdischen Armee,
die dieses Ziel durchsetzen könnte. Die heutige Likud-Partei stammt -
über Irgun, Lehi und Herut - aus der revisionistischen Bewegung, und
Ariel Scharon ist - nach Menachem Begin und Jitzhak Schamir - ein
Nachfolger Jabotinskys, auch wenn er parteipolitisch aus der
Arbeitspartei (Mapai) kommt.
Aber die "eiserne Mauer" spukt nicht nur in
den Köpfen jener, die Mussolini einst als "Faschisten" anerkannte(1),
sie war vielmehr grundlegend für das zionistische Projekt: zunächst des
Jischuw (der jüdischen Gemeinschaft in Palästina), dann des israelischen
Staates. Ihren ersten großen Rückschlag erlitt diese Doktrin 1982, als
die maßgeblich von Scharon initiierte Invasion in Libanon in eine
Katastrophe führte. Nicht nur weil Arafat und seine Fedajin damals unter
dem Schutz einer multinationalen Streitkraft entkommen konnten, sondern
auch weil es Scharon nicht gelang, in Libanon die von ihm erträumte
proisraelische Regierung zu installieren. Drei Jahre später zog sich die
israelische Armee auf die "Sicherheits"-Zone zurück.
Dann folgte der zweite Rückschlag: Zwischen
Dezember 1987 und 1991 kämpfte die palästinensische Intifada, deren
Unterdrückung das internationale Ansehen Israels schwächte. David wurde
zu Goliath. Zwar erlangte Israel im Golfkrieg seinen Opferstatus zurück,
doch die irakischen Scud-Raketen machten deutlich, dass die Besetzung
palästinensischen Territoriums im Zeitalter der Marschflugkörper keine
Sicherheit mehr garantiert.
Rabin zog die Konsequenz aus diesen - die
"eiserne Mauer" schwächenden - Ereignissen, als er zunächst offiziell in
Madrid, später geheim in Oslo verhandelte. Die
israelisch-palästinensische Erklärung über die Grundlagen der Autonomie
vom 13. September 1993 markierte, so beschränkt sie auch war, einen
historischen Wendepunkt; sie beinhaltete gleichzeitig die gegenseitige
Anerkennung beider kriegführenden Parteien, den schrittweisen Rückzug
Israels aus den seit 1967 besetzten Gebieten, die Errichtung einer
gewählten palästinensischen staatlichen Vertretung sowie die Aushandlung
eines endgültigen Status. Zwischen den Zeilen wurde ein
palästinensischer Staat in Aussicht gestellt. 1995 ging es Schritt für
Schritt weiter: Die größeren Städte wurden befreit, Präsident Arafat
sowie eine Verfassunggebende Versammlung wurden gewählt, die
Oslo-I-Verträge wurden abgeschlossen, aufgrund deren die
Autonomiebehörde entstand, und Ende Oktober wurde Oslo II unterzeichnet.
Am 4. November 1995 bezahlte Rabin diese
kühnen Schritte mit seinem Leben. Über Monate hatten Scharon und seine
Freunde eine Hetzkampagne gegen ihn betrieben, wobei man Rabin sogar in
SS-Uniform abgebildet hatte.(2 )Am 29. Mai 1996 kam die rechte Koalition
erneut an die Macht: Netanjahu konnte - eine Attentatswelle der Hamas
ausnutzend - die Stimmen aus der Mitte zu sich herüberziehen, und mit
der Operation "Früchte des Zorns" die arabischen Israelis von der
Arbeitspartei entfremden. Das sicherte ihm den Sieg über Peres. Zwar
hasste Scharon den jungen Konkurrenten von ganzem Herzen, unterstützte
aber dennoch dessen Politik. Netanjahu konnte die Umsetzung der Verträge
zwar blockieren, sie aber nicht völlig rückgängig machen. Drei Jahre
später wurde er vom Kandidaten der Arbeitspartei, Ehud Barak, haushoch
geschlagen.
Scharon löst die zweite Intifada aus
DAS
beunruhigte Scharon, der erneut zum Likud-Vorsitzenden gewählt worden
war, denn der neue Ministerpräsident war im Interesse eines umfassenden
Friedens zu Kompromissen bereit. Obwohl seine Verhandlungen mit Syrien
scheiterten, zog er sich im Mai 2000 einseitig aus dem Libanon zurück.
Zwar trieb er in zuvor unbekannten Dimensionen den Bau und Ausbau der
Siedlungen voran, aber zugleich verhandelte er mit der Autonomiebehörde
über einen endgültigen Status der Gebiete. Trotz des gescheiterten
Camp-David-Gipfels im Juli 2000 konnten die Oslo-Gegner sich nicht
beruhigt zurücklehnen: Barak und Arafat verhandelten weiter hinter den
Kulissen, und die Rechte befürchtete neue israelische Konzessionen.
Als Scharon am 28. September 2000 unter dem
Schutz von hunderten Soldaten und Polizisten provokativ den Tempelberg
aufsuchte, schlug er drei Fliegen mit einer Klappe: Er löste die "zweite
Intifada" aus, sabotierte die Wiederaufnahme von Verhandlungen und
lancierte (Netanjahu überflügelnd) seine Wahlkampagne. Die Rechnung ging
auf. Barak besiegelte seine eigene Niederlage, da er sich nicht genug
Zeit gelassen hatte, um die Übereinkünfte vom Januar 2001 in Taba
auszufeilen und sie seinen Wählern zu "verkaufen".
Scharon, der neue Ministerpräsident, hatte
aus Beirut gelernt: Auf keinen Fall darf die internationale Gemeinschaft
den Chef der PLO noch einmal retten. Und aus der Niederlage Netanjahus
folgte für ihn: Man darf das, was gemeinhin als Friedensprozess
bezeichnet wird, nicht einfach nur bremsen, man muss es vielmehr
zerstören. Aber die Mehrheit der israelischen Wähler würden einen
frontalen Angriff nicht befürworten und schon gar nicht die westlichen
Regierungen. Also musste der Angriff wie ein Gegenangriff aussehen. Nach
seinem Regierungsantritt begann Scharon, die Palästinenser Tag für Tag
zu provozieren, bis sie einen terroristischen Anschlag unternahmen, der
dann - medial inszeniert - den Staatsterrorismus auslöste.
Dabei ging der Ministerpräsident äußerst
planmäßig vor. "Scharon hat seine Falle sorgsam präpariert", erläutert
der israelische Journalist Ariel Fishman; den entsprechenden Plan habe,
"noch vor seiner Wahl", der Reservegeneral Meir Dagan für ihn verfasst.
Seine Prämissen: Arafat sei "ein Mörder", mit dem "man nicht
verhandelt", und das Abkommen von Oslo sei für Israel "das größte Übel",
weshalb "alles getan werden müsse, um es zu zerstören". Daraus habe sich
das Ziel ergeben, den Chef der Autonomiebehörde im Innern wie nach außen
konsequent zu isolieren. Nach Beendigung der Intifada, so Dagan, werde
Israel "mit einzelnen palästinensischen Führern in den verschiedenen
Gebieten verhandeln" - ja sogar mit Vertretern der palästinensischen
Sicherheitsorgane, der Geheimpolizei und des militanten Fatah-Flügels.
Die Schlussfolgerung des Journalisten lautet: "Jetzt, da Scharon seine
Beute hat, wird er sie sich so leicht nicht abjagen lassen."(3)
Die Zeit seit dem 11. September 2001 lässt
sich in drei Phasen unterteilen: Zunächst attackierte Scharon, vom
Einverständnis Präsident Bushs ausgehend, die Autonomiebehörde. Doch er
hatte sich geirrt, musste seine Truppen aus den palästinensischen
Städten zurückziehen, ein Treffen zwischen Peres und Arafat bewilligen
und - nachdem er den USA ein zweites München vorgeworfen hatte - den
neuen Plan Washingtons schlucken, der einen unabhängigen
Palästinenserstaat vorsah.
Die zweite Phase begann mit der Ermordung
des Tourismusministers Rechavam Seevi durch die PFLP (Volksfront zur
Befreiung Palästinas), deren Führer im August "exekutiert" worden war.
Die israelische Armee hatte damit einen Vorwand, zur "Vergeltung" erneut
in palästinensische Städte einzurücken. Diesmal verhinderte der Druck
aus Washington nicht, dass israelische Soldaten fünf Wochen lang Terror
ausübten. Die dritte Phase begann mit dem Mord an Abu Hanud, einem
führenden Hamas-Vertreter in Westjordanland. Die Anstifter waren sich
darüber im Klaren, dass die islamistische Bewegung mit einer
spektakulären Aktion reagieren würde. Damit lieferte sie den Vorwand für
einen umfassenden Krieg gegen die palästinensische Autonomiebehörde,
diesmal mit Unterstützung der Bush-Regierung. Arafat wurde aufgefordert,
die Hamas zu unterdrücken, zugleich jedoch sowohl materiell (Behinderung
der Sicherheitskräfte) als auch politisch (Versagung jeder
Verhandlungsperspektive) an dieser Aufgabe gehindert. Scharon hat es
ganz offen darauf abgesehen, drei Millionen Palästinenser zu
drangsalieren und Arafat zu marginalisieren oder gar auszuschalten.
"An seine Stelle wird dann die Hamas, der
Dschihad oder die Hisbollah treten"(4), warnte Peres, worauf
Innenminister Usi Landau nur erwiderte: "Lieber eine ungeschminkte
Hamas, als eine geschminkte Autonomiebehörde."(5) Schon fragt man sich
in Israel: Wer kommt nach "dem Alten"? Die "alte Garde", eine "neue
Garde", oder einer der regionalen Sicherheitschefs? Egal. Hauptsache
ist, Scharon hat keinen Gesprächspartner, der im eigenen Lande wie im
globalen Maßstab Anerkennung genießt. Dann muss er nicht verhandeln. Ob
er selbst die Territorien besetzt hält oder kollaborierende
"Statthalter" über 40 Prozent des Territoriums gebieten lässt, ist
unwichtig. Auch Usi Landau sagt nichts anderes: "Über Friedenspläne
reden wir später. Sicher ist nur, dass wir nie einen palästinensischen
Staat akzeptieren werden. Das wäre eine Katastrophe."(6)
Doch womöglich ist gerade das Gegenteil die
eigentliche Katastrophe. Denn mit der zweiten Intifada und ihrer
brutalen Unterdrückung hat der Konflikt einen Punkt erreicht, an dem er
seit 1948 nicht mehr gewesen war. Der Historiker Tom Segev drückt es so
aus: "Man hat das Gefühl, in die Mandatszeit zurückversetzt zu sein, in
die Zeit vor der Staatsgründung, als sich jüdische und arabische
Palästinenser bewaffnet bekämpften."(7) Tatsächlich hat es niemals in
den letzten fünfzig Jahren so viele barbarische Akte gegeben: die
Ermordung palästinensischer Kinder, antiarabische Pogrome, Lynchjustiz
an zwei israelischen Soldaten, Brandstiftung in Moscheen, Zerstörung des
Josefsgrabs, Bombardierungen mit F-16-Bombern und Kampfhubschraubern,
Selbstmordattentate. Es ist, als habe sich, was als Befreiungskampf
eines besetzten Volkes begann, in einen ethnoreligiösen Kampf auf Leben
und Tod verwandelt.
Diese 15 Monate des Grauens lassen ahnen,
wozu sich die Schlacht um Palästina entwickeln könnte: zu einem - mal
verdeckten, mal allgemeinen - Bürgerkrieg zwischen zwei miteinander
verzahnten Völkern. In den auch die arabischen Israelis eingreifen
könnten, denn deren Solidarität mit ihren Brüdern jenseits der "grünen
Linie" dürfte sich in Zukunft gewalttätiger artikulieren, womit sich für
Israel eine zweite Front eröffnen würde. Was kann man angesicht einer
solchen Gemengelage mit Atombomben, Marschflugkörpern und Panzern
ausrichten? Entscheidender für den Sieg dürfte eine andere Dimension
sein, nämlich die demografische. Die zionistische Bewegung ist sich
dessen klar bewusst, ihr Kampf bezog sich schließlich von Anfang an auf
den Boden und die Einwanderung - mit dem Ziel einer jüdischen
Bevölkerungsmehrheit. Auch wenn man heute in dem "Groß-Israel", das dem
Likud-Chef so sehr am Herzen liegt, 5,1 Millionen Juden zählt und nur
4,1 Millionen Palästinenser, werden Letztere 2010 bereits die
demografische Mehrheit stellen. Und im Jahr 2020 werden 6,7 Millionen
Juden 8,1 Millionen Palästinenser gegenüberstehen.(8)
Zwei Konzepte gegen die demografische
Zeitbombe
FÜR Israel
gibt es gegen diese bedrohliche Entwicklung nur zwei Waffen: eine
massive jüdische Immigration und/oder eine nicht minder massive
Vertreibung der Palästinenser. Die erste Lösung ist nicht sehr
wahrscheinlich, es sei denn, es käme in nächster Zeit in der westlichen
Welt zu massiven Ausbrüchen von Antisemitismus. Die zweite Lösung, die
unter dem Begriff "Transfer" in den Köpfen mancher rechter Israelis
herumspukt, dürfte sich kaum gewaltlos bewerkstelligen lassen. Sie setzt
eine extreme Zuspitzung des Konflikts voraus, einen Aufruhr, der die
gesamte Region erfasst. Doch welches arabische Land und welche Regierung
wäre wahnsinnig genug, sich in eine solche Konfrontation
hineinzubegeben?
Da die Gründung eines unabhängigen und
lebensfähigen palästinensischen Staates bislang nicht erfolgt ist, steht
der sich als jüdisch und demokratisch definierende Staat Israel vor
einem immensen Widerspruch: Entweder er optiert für die Demokratie, was
bedeutet, dass alle Einwohner des Landes wahlberechtigt wären - dann
aber wäre er kein jüdischer Staat mehr. Oder er bleibt jüdisch - dann
aber wäre er kein demokratischer Staat. Von dem Ausmaß der
Unterdrückung, das eine solche Apartheid für die ständig wachsende
arabische Bevölkerungsmehrheit bedeuten würde, und den daraus
resultierenden Aufständen haben wir bislang nur einen Vorgeschmack
bekommen. Man ahnt, dass letztlich sogar die Existenz Israels gefährdet
werden könnte.
Besitzt der Taktiker Scharon eine
Strategie, um ein derartiges Szenario zu verhindern? Im Gegenteil: Indem
er mit aller Kraft die Entstehung des palästinensischen Staates
bekämpft, der doch die Existenz Israels und seine Selbstdefinition als
jüdischer Staat garantieren würde, lässt er den Zeitpunkt immer näher
rücken. Zumal innerhalb des letzten Jahres die nach Oslo geknüpften
wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen Israels mit Marokko,
Tunesien, Katar und Oman abgebrochen sind. Dasselbe gilt für die ersten
Kontakte zu Algerien und den Vereinten Arabischen Emiraten. Intakt
geblieben sind nur die Verträge mit Ägypten und Jordanien, deren
Botschafter allerdings Tel Aviv schon vor einiger Zeit verlassen haben.
Die Politik Scharons gefährdet nicht nur
die Zukunft des Landes, sondern hat bereits heute für die Bürger
schwerwiegende Folgen. Thema Sicherheit: Im Frühjahr 2001 war nur einer
von fünf Toten ein Israeli, in den ersten beiden Dezemberwochen war
bereits jedes zweite Opfer ein Israeli. Wirtschaftswachstum: Zu Beginn
der 90er-Jahre lag es bei 6 Prozent, 2000 ist es auf 4,7 Prozent, 2001
auf 2,7 Prozent gesunken, für 2002 wird mit einem Rückgang auf 1,7
Prozent gerechnet. Auslandsinvestitionen: Sie sanken zwischen Januar und
September 2001 im Vergleich zum gleichen Vorjahreszeitraum um 70
Prozent. Touristenzahlen: Hier gibt es einen Rückgang um 65 Prozent, was
jeden vierten Arbeitsplatz der Branche betrifft. Arbeitslosigkeit: Die
dürfte 2002 auf eine Rate von 10 Prozent der aktiven Bevölkerung steigen
(von 6,7 Prozent für 1996). Armut: 1999 lebten 300 000 Familien
unterhalb der Armutsgrenze, deutlich mehr als 18 Prozent der
Bevölkerung.
Wie reagiert die öffentliche Meinung in
Israel? Derzeit hat Scharon die Unterstützung der großen Mehrheit der
Israelis, denn die Attentate bestärken das Gefühl, dass der Staat in
Gefahr sei. Doch nicht wenige derer, die im Moment noch nach Rache
rufen, wünschen gleichzeitig, dass die Verhandlungen wieder aufgenommen
werden.(9)
Dabei geht es um die Zukunft der
israelischen Gesellschaft insgesamt. Es gibt keinen Grund, anzunehmen,
das ultranationalistische Fieber könnte die Hoffnungen auf
Normalisierung verbrennen. Die Israelis sehnen sich stärker nach
friedlichem Konsum als nach einem Krieg, der nur um der Siedler willen
geführt würde. Ebenso irreal ist die Vorstellung, in Zeiten der
Globalisierung könnte der Kampf gegen die Araber als Kitt für das
gesellschaftliche "Mosaik" taugen, das Abbild einer Serie von
globalisierungsbedingten Immigrationwellen ist - und das Risse zwischen
Juden und Arabern, Laizisten und Religiösen, Aschkenasim und Sephardim
aufweist, die keine gemeinsamen Ideale haben. Innerer und äußerer
Frieden bedingen sich gegenseitig.
Scharon tönte unmittelbar nach seiner Wahl,
der Unabhängigkeitskrieg von 1948 sei noch nicht zu Ende.(10 )Heute
versteht man besser, was er damit sagen wollte. Zu denen, die diese
Kriegsbesessenheit angreifen, gehört Murit Peled-Elhanan, die
Regierungschef Netanjahu angeklagt hat, für den Tod ihrer Tochter Smadar
verantwortlich zu sein, die 1997 bei einem Anschlag ums Leben kam.(11)
Als sie jüngst zusammen mit dem palästinensischen Schriftsteller Izzat
Ghassawi den Sacharow-Preis erhielt, sagte sie vor dem Europaparlament:
"Der englische Dichter Dylan Thomas schrieb einmal: ,Der Tod hat keine
Regierung.' In Israel hat der Tod eine Regierung, er ist an der
Regierung, und diese Regierung ist tödlich."(12)
dt. Marie Luise Knott
Fußnoten:
(1) Siehe "Netanjahu und die
Zionisten-Revisionisten",
Le Monde
diplomatique, November 1996.
(2) Siehe Amnon Kapeliuk, "Rabin - ein politischer Mord", Heidelberg
(Palmyra) 1997.
(3) Jediot Aharonot, Tel Aviv, 14. Dezember 2001.
(4) Ebenda, 1. Oktober 2001.
(5) Le Monde,
14. Dezember 2001.
(6) Ebenda.
(7) LHumanité, 12. Oktober 2000.
(8) Arnon Sofer, Newsweek, New York, 12. August 2001.
(9) Die Zustimmung zu Verhandlungen ist allerdings zwischen 23. November
und 3. Dezember 2001 von 55 auf 32 Prozent zurückgegangen.
(10) Siehe Ari Shavit, "Sharon is Sharon", Haaretz, Tel Aviv, 12.
April 2001.
(11) Siehe "Bibi, was hast du getan?" Le
Monde diplomatique, Oktober 1997.
(12) Jediot Aharonot, Tel Aviv, 3. Dezember 2001.
Le Monde diplomatique Nr. 6647 vom
11.1.2002,
Seite 1,18-19, 73 Zeilen (Dokumentation), DOMINIQUE VIDAL
haGalil onLine
21-01-2002 |