Der Verstand muss auf die Reise gehen:
Der palästinensische Intellektuelle Sari
Nusseibeh zum Friedensauftrag seiner Landsleute
Interview: Richard Chaim Schneider
Was die Fortdauer des Konflikts im Nahen Osten
betrifft, scheint jeder Pessimismus angebracht. Die Folge von
Anschlägen und Vergeltungsakten ist längst zu einem
politisch-moralischen Knäuel verwirrt, das jede Klärung, was
Ursache, was Wirkung, was Reiz und was Reaktion ist, ausschließt.Um
so bemerkenswerter sind Stimmen, gerade auf palästinensischer Seite,
die unbeirrt, aber mit politischer Klugheit Wege zu einem Frieden
benennen und mit ihrer Reputation dafür einstehen. Sari Nusseibeh
gehört zu diesen wenigen prominenten Palästinensern, die sich dafür
mit großem Engagement einsetzen. Nusseibeh ist Mitglied einer der
alteingesessenen, einflussreichen Familien Jerusalems, ausgebildet
in Harvard und Oxford als Politologe und Philosoph, heute Vertreter
der PLO in Ostjerusalem und Direktor der Al-Kuds-Universität in
dieser Stadt.
SZ: Sie haben vor kurzem eine Petition in
arabischen Zeitungen veröffentlicht, die Selbstmordattentate
verurteilt. Welche Argumente bringen Sie gegen die
Selbstmordanschläge vor?
Nusseibeh : Selbstverständlich ist das wichtigste
Argument der moralische Aspekt. Dennoch hatte ich entschieden, dass
wir uns nicht auf moralische Gründe konzentrieren, sondern auf
praktische, utilitaristische. Wir wollen auf diese Weise so viele
Leute wie möglich vereinen, um ein Ende dieser blutigen Aktionen
durchzusetzen. Wir erklären den Leuten, die hinter den Anschlägen
und Selbstmordattentätern stehen: Was ihr tut, ist kontraproduktiv.
Was wir als Palästinenser wollen, ist die Unabhängigkeit, was wir
wollen, ist ein Staat neben einem Staat, was wir wollen, ist ein
Ende der Okkupation, aber was ihr tut, führt ganz und gar nicht
dahin, im Gegenteil. Es führt uns weiter und weiter davon weg.
SZ : Wenn Sie den moralischen Aspekt ausklammern
und nur utilitaristisch argumentieren, entsteht da nicht die Gefahr
einer Umkehrung? Nehmen wir mal an, die Selbstmordattentate würden
ihr Ziel erreichen, wären Sie dann dafür?
Nusseibeh : Wir erheben unsere Stimme gegen die
allgemeine öffentliche Stimmung. Die vorherrschende Atmosphäre ist
oder war für Selbstmordattentate.
SZ : Ist oder war?
Nusseibeh : Ich würde sagen: war. Nicht zuletzt
unser Statement hat genügend intellektuellen Aufruhr geschaffen und
einen kleinen Spalt im intellektuellen Gedankengebäude geöffnet,
nicht nur in der palästinensischen Gesellschaft, sondern in der
gesamten arabischen Welt. Natürlich hat jeder unterschiedliche
Gedanken und Wertvorstellungen. Deshalb beginnt man zunächst mit
utilitaristischen Argumenten, zumal noch nicht einmal die
Unterzeichner der Petition in jedem einzelnen Punkt übereinstimmen.
Ich selbst halte Selbstmordattentate nicht nur für kontraproduktiv,
sie sind moralisch inakzeptabel.
SZ : Sie verurteilen auch Angriffe auf Siedler?
Nusseibeh : Ja, auch Angriffe auf Siedler. Aber
ich konnte natürlich nicht jeden dazu bewegen, meine Position
anzunehmen. Ich wollte einen gemeinsamen Nenner finden, denn nur so
konnten wir eine Debatte auslösen. Und obwohl das Statement kein
moralisches Argument verwendet, fordert es unmissverständlich, dass
eines Tages beide Seiten nebeneinander in Frieden leben sollten und
wir darum keine Zukunft voller Hass, Rassismus und existentieller
Konfrontation haben wollen. In dieser Zukunftsvorstellung liegt der
Keim einer moralischen Argumentation, ohne dass wir sie explizit
eingesetzt haben.
SZ : Wurden Sie nach der Veröffentlichung des
Statements von Landsleuten bedroht?
Nusseibeh : Es gab Drohungen, man beschimpfte
mich, man nannte mich einen Hund, einen Kollaborateur. Es gab viele
Flugblätter gegen mich. Aber ich bleibe bei meiner Position.
SZ : Was halten Sie von Plänen, Arafat loszuwerden
wie auch andere palästinensische Politiker, die die Autonomiebehörde
regieren? Sie haben sich gegen die Korruption in der
palästinensischen Regierung ausgesprochen und gefordert, dass sich
die Palästinenser dagegen erheben. Welche Chancen sehen Sie dafür?
Nusseibeh : Präsident Arafat ist der gewählte
Führer der Palästinenser. Als solcher hat man sich mit ihm zu
arrangieren, auch wenn er wiedergewählt werden sollte. Und ich
glaube, der Präsident der USA wird dies in Zukunft auch tun. Das ist
das eine. Das andere ist: Was die USA an Reformen in der
palästinensischen Gesellschaft und Regierung erwarten, das wollen
wir, das palästinensische Volk, ebenso. Der erste Schritt muss die
Aus einandersetzung mit der Korruption sein. Um es sehr klar zu
machen: Ich sage nicht, dass die Palästinenser unter einer größeren
Korruption ihrer Regierung leiden als andere Völker. Doch zunächst
müssen wir uns beurteilen, unser Land. Was müssen wir tun? Wir
müssen die Leute, die in der Autonomiebehörde gedient haben, unter
die Lupe nehmen. Ich behaupte nicht, dass die Mehrheit korrupt ist,
aber es gibt Indizien für Korruption. Die Indizien reichen aus, um
einen Untersuchungsausschuss einzurichten. Jeder Offizielle muss
überprüft werden. Wichtiger als Wahlen, wichtiger als Veränderungen
im Sicherheitssystem ist eine Transparenz von unten, um
sicherzustellen, dass künftig keiner mehr an die Macht gelangt, der
nicht sauber ist. Daran müssen wir arbeiten, egal, ob wir einen
Staat haben oder nicht, egal, ob wir mit den Israelis eine
Vereinbarung erreichen oder nicht, egal, ob die USA das von uns
fordern oder nicht. Das sind wir uns schuldig.
SZ : Heißt das nicht, dass Sie eine Ablösung der
gegenwärtigen Regierung verlangen? Denn wer soll diese Reformen
durchführen?
Nusseibeh : Es gibt genug Druck von der
palästinensischen Bevölkerung und auch von außen, um diese
Entwicklung zu beschleunigen und um die Trennung von Legislative,
Exekutive und Judikative zu garantieren. Wir müssen diese Reformen
erzwingen. Weder die Vereinigten Staaten noch die internationale
Gemeinschaft können das erreichen. Nicht einmal unsere arabische
Nachbarn. Wir brauchen eine stärkere öffentliche Meinung, stärkere
Medien, eine stärkere Zivilgesellschaft. Wir müssen den Gesetzgeber
dazu bringen, stärker einzuwirken, wir müssen mehr Mut entwickeln,
unsere Bedürfnisse zu äußern. Als Palästinenser sage ich: Wenn der
Kampf gegen die Okkupation mir kein Leben in Freiheit, in
Demokratie, in Würde und Gleichberechtigung bringt, dann will ich
keinen Staat, dann will ich kein Ende der Okkupation.
SZ : Als Vision klingt das großartig. Aber wo
wollen Sie beginnen: Sie haben keine Pressefreiheit, Sie haben kein
demokratisches Rechtssystem, Sie haben die Todesstrafe, die von
Schnellgerichten gegen angebliche Kollaborateure verhängt wird.
Nusseibeh : Die Palästinenser müssen sehr laut
werden. Das haben sie nicht getan, weil sie diesen Aspekt erst als
zweiten Punkt auf die politische Tagesordnung gesetzt haben und sich
vorrangig nur dem Besatzungsproblem widmen. Ich halte die Tötung
angeblicher Kollaborateure für entsetzlich. Ich möchte Teil einer
Gesellschaft sein, in der jeder das Recht hat, sich voll und ganz
vor Gericht zu verteidigen. Was ich sagen will: Das Leben wäre
einfach, wenn Arafat allein das Problem wäre. Wir müssen unsere
Parteienlandschaft, wir müssen Sozialprogramme entwickeln. Wir
müssen die Erziehung zur Demokratie schaffen, das muss bereits im
Schulsystem verankert sein. Keiner kann ernsthaft glauben, dass eine
Gesellschaft durch die Ersetzung einer Person plötzlich reif wird
oder einen Zeitsprung macht.
SZ : Was also muss in Sachen Erziehung geschehen?
Nusseibeh : Ich denke, dass ein wesentlicher Punkt
das Licht ist, das wir in die Köpfe der Menschen bringen müssen. Das
Licht für die Frage, wer sind "die Anderen". Stellen Sie sich vor,
wir leben in einem Haus: Das Licht in unserem Apartment ist an, aber
das Licht in allen anderen Wohnungen ist aus. Wir wissen nicht, was
in den anderen Apartments los ist. Wir müssen Licht in den anderen
Wohnungen machen. Wir müssen unseren Leuten, unseren Kindern
beibringen, wer sie sind, aber ihnen auch die Wertschätzung für
andere beibringen, für andere Traditionen. Palästinenser sollen in
einer pluralistischen Gesellschaft aufwachsen und nicht in einer
Gesellschaft, in der man sich selbst als das einzig lebenswerte
Wesen versteht oder die eigene Nation, die eigene Religion. Wir
müssen uns verstehen als Teil einer Gemeinschaft der Völker,
Zivilisationen und Gedanken – von frühester Kindheit an. Wenn man
das tut, wird man auch eine Wertschätzung der Israelis und der
jüdischen Tradition gewinnen. Im Augenblick bauen wir häufig eine
Wand vor uns auf, damit wir nicht sehen müssen. Wir müssen die Juden
als "Andere" sehen und schätzen lernen. In unserer islamischen
Religion gibt es die Basis für solche Wertschätzung, aber wir
benützen sie nicht, wir verschließen unsere Augen. Außerdem müssen
wir die Gleichberechtigung von Mann und Frau fördern. Wir müssen
Menschen erlauben, sich zu äußern, ihnen Mut machen, Fragen zu
stellen, sich am politischen Geschehen zu beteiligen. Viel muss
getan werden, um die Konzentration auf die Erinnerung der religiösen
Traditionen in etwas Neues zu transformieren, wo sich der Verstand
auf eine Reise begibt, Fragen stellt über das Leben um uns herum,
über neue Aspekte und Fakten. Damit wir als Individuen neue Lösungen
und Antworten für diese neue Welt finden.
SZ : Was können Israelis von Palästinensern lernen
– und umgekehrt?
Nusseibeh : Die Juden sind ein Volk, das sich und
seine Religion mit ihren Werten sehr respektiert. In dieser Hinsicht
können wir von ihnen viel lernen, auch von ihrer Kultur der
Nächstenliebe und der Unterstützung des Nächsten. Sie wiederum
können von uns Gastfreundschaft lernen ... nun ja, ich will nicht zu
weit gehen, aber abgesehen davon: Es gibt etwas viel wichtigeres –
wie wir uns helfen können, um für uns und für andere etwas Neues zu
schaffen. Unsere Zukunft ist viel wichtiger.
SZ : Wann wird es Frieden geben zwischen einem
demokratischen Israel und einem demokratischen Palästina?
Nusseibeh : Ich bin sehr optimistisch, dass wir
dies in den nächsten Jahren erreichen können. Aber wir dürfen es
nicht zulassen, dass der Frieden wieder scheitert, wie beim letzten
Mal. Der Friedensprozess von Oslo schlug fehl, weil wir, die Eltern,
uns nicht ordentlich um das Kind gekümmert haben. Das darf nie mehr
passieren. Wir müssen dafür sorgen, dass das Kind wachsen kann.
hagalil.com
09-08-02 |