Das erste palästinensische Musical:
"Laternen" lassen Ramallah aufleuchten
Palästinensische Künstler
hatten vor drei Jahren die Idee, ein umfangreiches, echtes
professionelles Musical zu produzieren : so wurde "Fawanees"
("Laternen") geboren.
Von Noam Ben Ze'ev, Haaretz
Ramallah - Wie sieht eine Kindheit ohne Musik
aus? Wie sieht eine Welt für Kinder aus, die in der Schule nicht
lernen dürfen, wie man der Musik lauscht, ein Instrument lernt oder
in einem Chor singt? Wenige werden später in der Lage sein, als
Erwachsene sich selbst durch Musik auszudrücken.
In solch einer Welt bleiben Begriffe wie
"Konzert", "Oper" und "Musical" für Kinder, die nie vor einer Bühne
gesessen und den Darstellern applaudiert haben, unbekannt. Und der
Gedanke, selbst auf der Bühne zu erscheinen und vor einem Publikum
zu handeln, zu singen und Musik zu machen und Beifall zu erhalten,
kommt ihnen gar nicht erst in den Sinn. Die Möglichkeit, im
Gymnasium in einem Musikzweig oder an einer Kunstakademie Musik zu
studieren oder gar eine musikalische Karriere zu machen, gehört in
den Bereich der Phantasie.
Das Fehlen musikalischer Hoffnungen scheint aber
heute geradezu trivial zu klingen, wenn man an die sehr ernsten
Probleme denkt, unter denen eine Million palästinensischer Kinder in
der Westbank und im Gazastreifen leiden. Doch jeder, der den Wert
musikalischer Erziehung kennt, weiß, welche Bedeutung und welchen
Reichtum sie schenken kann. Aus dieser Erkenntnis über den Wert der
Musik und ihre Bedeutung für Kinder und allgemein für die
Gesellschaft wurde vor zehn Jahren ein palästinensisches
Konservatorium gegründet. Das Nationale Konservatorium hat seinen
Sitz in Ost-Jerusalem und zwei Filialen, eine in Ramallah und eine
andere in Bethlehem. Dort lernen 440 Schüler ein Musikinstrument
spielen.
Vor drei Jahren entschied man sich, dass dies
nicht genügt: die Kinder sollen auch Darstellungskunst lernen. Bei
einer Konferenz von vielen palästinensischen Künstlern wurde die
Idee für eine umfangreiche, echte, eindeutig professionelle
Musical-Produktion geboren, die vielen Kindern die Möglichkeit gibt,
mitzuspielen und Tausenden Leuten, diese Aufführung anzusehen. Dies
ist die Geschichte der Geburt von "Fawanees" ("Laternen") – dem
ersten palästinensischen Musical.
Dalia Habash, die tatsächliche Produzentin von
"Fawanees" hielt in ihren fast zitternden Händen die wenigen vor der
Vorstellung am letzten Sonntag noch verbliebenen Eintrittskarten.
Angesichts der Busse, die vor dem Eingang des
Ramallah-Kulturzentrums hielten, und Hunderte von Kindern aus
Ramallah und dem Raum Bethlehem brachten, schienen ihr jede der
Karten, die 10 NIS kosten, wie reines Gold. Kurz bevor der Vorhang
sich erhob, ging sie mit den letzten 2 Karten hinein.
Die Konzerthalle war fast voll. Alle Bewohner
Ramallahs kennen "Fawanees", und es scheint, dass viele Bewohner der
Westbank dieses auch schon kennen. Trotz der Größe des Auditoriums
mit mehr als 700 Sitzplätzen werden auch 7 Vorstellungen für die
Tausenden von Leuten nicht genügen, die zur Vorstellung strömen. Die
letzten drei Vorstellungen werden heute, morgen und am Sonntag (
15.8.04) sein, zu der Kinder aus dem Raum Jenin und Nablus kommen
sollen.
Die Aufregung im Gebäude ist spürbar, sogar in der
Lobby. Türhüter grüßten die Leute, die lächelnd hereinkamen, und
verwiesen sie zunächst zu einem Tisch, wo sie darum gebeten wurden,
ihr Handy abzugeben – damit die nicht gerade in den leisesten
Augenblicken der Aufführung zu klingeln anfingen...
Die Halle selbst – "Ramallahs Heiligtum" war vor
zwei Monaten als Bau eingeweiht worden, der über einer wilden,
hügeligen Landschaft am Rande der Stadt liegt. Ihre Akustik ist
sanft und angenehm für die Ohren und für die Augen in guten
Proportionen. Sie ist mit bequemen Sitzen ausstaffiert und modernem
Ton- und Lichtsystem. Sie hat sogar ein mobiles Aufnahmestudio und
ein spezielles Kontrollpanel, um die Elektronik zu überschauen –
genau wie in raffinierten europäischen Konzerthallen.
Die Zuhörerschaft besteht aus alle möglichen
Leuten: Säkulare und religiöse, Männer und Frauen jeden Alters und
besonders Kinder, die mit großen Augen ungeduldig dasitzen und
warten. Dann gingen die Lichter langsam aus, und die Klänge des
Orchesters füllten den Raum mit der Ouverture.
Bring die Sonne!
"Fawanees" gründet sich auf ein Kinderbuch von
Ghassan Kanafani, einem palästinensischen Schriftsteller und
Essayist, der 1936 in Akko geboren, 1948 ein Flüchtling wurde, nach
Beirut und Damaskus, wo er arabische Literatur an der Universität
studierte, und schließlich nach Kuweit weiterzog. Kanafani war der
1. palästinensische politische Schriftsteller, und einige seiner
vielen Bücher und Kurzgeschichten sind sogar auf Hebräisch
erschienen: "Rückkehr nach Haifa", "Das Land der traurigen Orangen"
und die Novelle "Männer in der Sonne" und "Was bleibt von ihnen"
.... (Kanafani wurde 1972 vom israelischen Geheimdienst in Beirut
ermordet, weil er für eine palästinensische Befreiungsorganisation
arbeitete).
"Die kleine Laterne" ist von Wasin Kurdi einem in
Ramallah lebenden Dichter in ein Musical mit 28 Liedern für Chor,
Duetts und Solisten umgeschrieben worden. Das Spiel, das vor 12
Jahren schon in Jenin aufgeführt wurde und in Juliano Mers Film
"Arnas Kinder" dokumentiert wurde, erzählt die Geschichte eines
Königs, der im Sterben liegt, zuvor seine Tochter, die Prinzessin,
aber noch auffordert, die Sonne in den Palast zu bringen, sonst
könnte sie nicht Königin sein und das Königreich regieren. Nach
seinem Tod versucht die Tochter, seinen Wunsch zu erfüllen, was ihr
aber nicht gelingt. Sie verzweifelt. Eines Tages kommt ein alter
Mann mit einer Laterne zum Palasttor und bittet um Einlass. Die
Tochter verweigert ihm den Zutritt: "Wie magst du nur die Sonne hier
hereinbringen, wenn du nicht einmal einem alten Mann mit einer
Laterne den Zutritt gewährst?" fragte er - und war verschwunden.
Der Prinzessin wurde nun bewusst, dass ihr ein
Wink gegeben worden war. Sie versuchte, den wundersamen Mann zu
finden, aber vergeblich. Deshalb forderte sie alle Laternenträger
des Königreichs auf, in den Palast zu kommen. Tausende von ihnen
versammelten sich vor der schmalen Öffnung in der Mauer. Es gelang
ihnen nicht, hineinzukommen. Die Prinzessin befahl: "Zerstört die
Palastmauern!" Nach dem Fall der Mauern konnte jeder eintreten.
Damit waren auch die inneren Mauern in sich zusammengefallen, die
sie um sich selbst gebaut hatte. Das Licht der Laternen, das die
Leute mitgebracht hatten, wuchs und wuchs und wurde so hell wie die
Sonne – so erfüllte sich das Vermächtnis ihres Vaters. Und was die
Trümmer der Mauern betraf – sie wurden dazu verwendet, um Schulen
und Krankenhäuser zu bauen, die dem Wohl aller Bewohner dienten.
Die internationale Musical-Mannschaft
Mit den Klängen der Musik hob sich der Vorhang in
Ramallah und ließ eine anspruchsvolle Bühne erscheinen, die von
Majed Zbeidi von Ramallah erstellt worden war. Er hatte einen halb
transparente Wand geschaffen und einen Platz für das Orchester. Die
Kinder füllten die Bühne. Sie waren in prächtigen Kostümen, die
Mohammad Attalah entworfen hatte. "Madonna" Mikrophone waren nah an
ihrem Mund . Sie sangen Choräle, Duetts und Sologesänge, während sie
handelten und sich auf der Bühne frei bewegten. Sie verwendeten
Requisiten wie Flaggen und Laternen mit Kerzen, die im Dunkeln
flackerten.
"Mit dem Schreiben der Musik begann ich vor zwei
Jahren," sagte Suhail Khouri, die die Partitur für das Musical
schrieb. "Und das musikalische Ergebnis reflektiert meinen Wunsch,
mehrere Musikstile mit einander zu verbinden." Und tatsächlich ist
es möglich, in "Fawanees" neben der Musik mit westlich harmonischen
Strukturen im Geist populärer Musicals auch die Klangfarben der
östlichen Musik herauszuhören, auch Swing und sogar ein Solo in
traditioneller arabischer Musik, in arabischer Tonart.
Khouri - aus Ost-Jerusalem - begann mit 7 mit
Musikunterricht. Schon sehr früh fuhr er von Jerusalem nach
Ramallah, um Klarinette zu lernen. Er beendete sein Musikstudium in
klassischer Musik an der Musikhochschule der Universität von Iowa (
USA). Nun wendet er sich mehr und mehr der arabischen Musik zu. U.a,
ist er Mitglied des orientalischen Musikensembles, für das er auch
komponiert. Doch gibt er zu, dass er Musicals besonders liebt, von
denen er schon viele gesehen hat: "Katzen" und "Annie" und "Die
Elenden" ....
Was hat Sie an Kanafanis Geschichte angezogen?
Khouri: "Die vielen Deutungen, die man darin
entdecken kann, außer der Kernhandlung. Kanafani schrieb sein Buch
vor mehr als 30 Jahren, und er bezog es auf die palästinensische
Realität . Das spiegelt sich natürlich auch in der Geschichte von
heute wieder."
Die Spielmannschaft von "Fawanees" kommt aus aller
Welt: die Instrumentation stammt von Bishara Khell aus Nazareth, der
Direktor ist Fernando Nope aus Schweden, das Lichtdesign machte
Philippe Andrieux aus Frankreich; der Tonmeister ist Issam Murad aus
Ost-Jerusalem.
Auf der Bühne sind mehr als 100 Leute,
einschließlich eines großen Kammerorchesters, "Das junge Musikforum
Mitteleuropas" das aus Streichern, Holzbläsern, Schlaginstrumenten
... besteht. Das Orchester - von Christoph Altstädt dirigiert - kam
aus Deutschland und verursachte einige ausgesetzte Herzschläge unter
den Musikern: nach dem Offizielle am Ben-Gurion-Flughafen das Ziel
der Gruppe erfuhren, wollte man den Spielern den Zugang nach Israel
verbieten und befahl ihnen die Rückkehr . Nur energische, an Panik
grenzende Intervention bei Botschaften in Israel und Deutschland
rettete schließlich die Musiker, nachdem sie fünf Stunden lang reale
Ängste ausgestanden hatten.
Ein glückliches, wenn auch ruhiges Ende
Wenn es da es wirklich etwas Wunderbares über
"Fawanees" zu sagen gibt, so ist es das hohe Niveau beim Singen, das
von den Mitgliedern des Shams-Chores ausgeführt wurde. Anderthalb
Jahre intensiver Arbeit machte aus den 58 Kindern, die Mitglieder
des Chores sind und niemals vorher auf einer Bühne standen, zu
gewandten Schauspielern. Sie wussten, wie man den Platz der Bühne
ausfüllte, wie man koordiniert handelt und tanzt, und wie man die
Menge der Requisiten anwendet. Aber über allem schwebte ihre vokale
und musikalische Leistung. Ihr sauberes und klares Singen, ihre
Fähigkeit zweistimmig zu singen und die Natürlichkeit, mit der die
Kinder sich in das pausenlose und komplizierte Spiel des Orchesters
integrierten, lässt einen irrtümlich an einen Chor mit viel
Erfahrung denken.
Die Person, die mit den Kindern gearbeitet, sie
einstudiert hat, ist die palästinensische Chorleiterin Hania
Soudah-Sabbara. "Das Musical ist die erste vokale Erfahrung der
Kinder – wir sprangen direkt wie in tiefes Wasser," sagte
Soudah-Sabbarah. "Nun werde ich Zeit haben, ihren Horizont zu
erweitern und ihr Repertoire zu entwickeln.
Sie hatte die Kinder aus Schulen Jerusalems,
Ramallahs und Bethlehems ausgesucht und mit ihnen einen Chor
entwickelt: Es war uns gelungen, sie zum Einzustudieren ins
Konservatorium nach Jerusalem zu bringen, ja, wir organisierten
sogar ein intensives zehntägiges Musiklager.
So wurde es vollendet. Fünf der Jungen bekamen
Stimmbruch – das war eine Tragödie – aber trotzdem durften sie mit
auf die Bühne."
"Fawanees" endete in festlicher aber ruhiger
Weise. "Ich wollte kein bombastisches Finale," sagte Suhail Khouri,
" und ich musste die Idee verteidigen, weil viele Leute anders
dachten. Ich wollte Einfachheit und Ruhe, so dass die Leute in der
Lage sind, das Theater zu verlassen und sich nicht nur am "happy
end" erfreuten, sondern sich danach auch Fragen stellten."
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs
http://www.uri-avnery.de
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17-08-2004 |