ai-Journal Februar 2002
KRISE IN NAHOST
KEIN FRIEDEN OHNE MENSCHENRECHTE
Seit September 2000 ist der
israelisch-palästinensische Friedensprozess durch die Eskalation der
Gewalt immer mehr zusammengebrochen. Menschenrechte werden mehr denn je
verletzt.
Seit Beginn der 90er-Jahre warnen
israelische und palästinensische Menschenrechtsorganisationen davor, bei
den Friedensverhandlungen das Problem der Menschenrechtsverletzungen zu
vernachlässigen. Eine Prioritätensetzung, wonach zuerst der
Friedensprozess zu einem erfolgreichen Ergebnis gebracht werden müsse,
bevor die Menschenrechte verwirklicht werden könnten, sei falsch und
gefährlich, denn am Ende werde man weder Frieden, noch Menschenrechte
haben, so ihre Warnung. Und doch ist es genau so gekommen: Nach Angaben
der israelischen Menschenrechtsorganisation B'Tselem ist das Jahr 2001
mit 345 palästinensischen Opfern das Jahr mit den meisten Toten in den
besetzten Gebieten seit Beginn der israelischen Besatzung 1967. Auch in
Israel ist die Zahl der – meist infolge von Terroranschlägen – Getöteten
mit 79 gegenüber den Vorjahren dramatisch angestiegen.
Dazu kommen die inzwischen in die
Zehntausende gehenden Verletzten. Die verheerenden psychologischen
Folgen für beide Gesellschaften sind an Umfrageergebnissen ablesbar.
Während im Herbst 2000 die Zahl der Palästinenser, die
Selbstmordattentate im israelischen Kernland unterstützten, bei 25
Prozent lag, war sie im Herbst 2001 auf 75 Prozent gestiegen. Die
Unterstützung in der israelischen Bevölkerung für die Politik der
gezielten Tötung von Palästinensern, denen Beteiligung an gewalttätigen
Aktionen gegen Israelis vorgeworfen wird, ist ähnlich groß.
Die Mehrheit der Bevölkerung in beiden
Gesellschaften sieht sich in einer Situation, wo es um das eigene
Überleben geht, das durch die andere Seite bedroht ist. Für die
Palästinenser ist der Kern der Bedrohung die israelische Besatzung. Die
Toten und Verletzten, die Angriffe der israelischen Armee, die
Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit sind "nur" die gesteigerte
Fortsetzung des Besatzungsalltages, der sich auch während der
Friedensverhandlungen nur teilweise verbessert hatte.
Für viele Israelis wiederum ist die reale
Angst, Opfer eines Terroranschlages zu werden, die Aktualisierung der
latenten Furcht, dass die Palästinenser die Existenz Israels nicht
akzeptierten und nach wie vor einen eigenen Staat auf israelischem
Territorium und nicht neben Israel anstreben. Die realen asymmetrischen
Kräfteverhältnisse sowie die Tatsache, dass Israel eine Besatzungsmacht
ist, sind bei dieser subjektiven Wahrnehmung unerheblich. Belegt wird
sie mit der These, die Palästinenser hätten in Camp David im Sommer 2000
das großzügigste Angebot, das je eine israelische Regierung gemacht
habe, zurückgewiesen und stattdessen die Rückkehr ins Kernland Israels
gefordert, was das Ende Israels bedeute. Umgekehrt sind für die
Palästinenser die zwar vergleichsweise weit gehenden Angebote in Camp
David letztlich doch nur der Beweis für die Weigerung Israels, die
Besatzung ernsthaft zu beenden. Ein lebensfähiger palästinensischer
Staat wäre nämlich auf dieser Grundlage nicht realisierbar gewesen.
Schlechte Zeiten für Menschenrechte,
schwierige Zeiten für die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen, die
mit ihrer Kritik nicht selten im Verdacht stehen, das Geschäft des
Feindes zu besorgen. Dennoch arbeiten zahlreiche
Menschenrechtsorganisationen unter schwierigen Bedingungen und zum Teil
hohem persönlichen Risiko der Aktiven weiter. (Siehe Interview mit
Bassam Eid, Seite 10).
Menschenrechtsfragen wurden aber bereits
während des Friedensprozesses vernachlässigt. Von dem ermordeten
Ministerpräsidenten Rabin ist der Satz überliefert, die
palästinensischen Sicherheitskräfte hätten es einfacher, gegen
Extremisten vorzugehen, sie müssten sich nicht mit einem Obersten
Gericht und mit Menschenrechtsorganisationen wie B'Tselem herumschlagen.
Tatsächlich muss sich aber auch die Palästinensische Autonomiebehörde
und ihr Präsident Arafat mit der beharrlichen Arbeit von
Menschenrechtsorganisationen auseinander setzen. Und die
Menschenrechtsbilanz der Autonomiebehörde sieht düster aus. Ebenso lang
wie die Liste der Menschenrechtsverletzungen ist die Liste der
Beschönigungen und Rechtfertigungen.
Aber auch auf israelischer Seite hat sich
wenig geändert. Zu den zahlreichen Menschenrechtsverletzungen gehören
auch der Bau von Siedlungen, die Beschlagnahmung von Land und der Bau
von Straßen. Zwar untersagte ein Urteil des Obersten Gerichtes 1999 die
systematische Folter von palästinensischen Gefangenen in israelischen
Gefängnissen, doch infolge der Eskalation häufen sich die Vorfälle der
Anwendung von "moderatem physischen Druck" erneut.
Immer wieder kommen Analysen zu dem
Schluss, dass das Abkommen von Oslo eine halbherzige, wenn nicht
zutiefst ungerechte Angelegenheit zu Ungunsten der palästinensischen
Seite gewesen sei: Es habe deshalb keine Grundlage für eine gerechte
Lösung des Konfliktes sein können. Am Ende werden beide Seiten – über
die Zwischenstufe der Umsetzung der Empfehlungen des Mitchell-Berichtes
– dort weitermachen müssen, wo sie aufgehört haben: beim Clinton-Plan
vom Dezember 2000 und den Taba-Verhandlungen vom Januar 2001. Das wird
keine "gerechte Lösung" sein, kann aber die Grundlage eines
friedlicheren Zusammenlebens bilden.
Es kommt allerdings darauf an, dass die
falschen Prioritätensetzungen der Vergangenheit erkannt und Konsequenzen
daraus gezogen werden. Vor allem der Zusammenhang zwischen Frieden und
Menschenrechten darf nicht mehr im Sinne eines Nacheinander gesehen
werden. Es ist offensichtlich, dass gewaltsam ausgetragene Konflikte
Menschenrechtsverletzungen mit sich bringen und die Verwirklichung von
Menschenrechten in einem Kontext von Frieden wahrscheinlicher ist, als
in einem Krisenkontext. Offensichtlich ist aber auch die Gegenrechnung:
Menschenrechtsverletzungen und zumal diejenigen, die systematisch und
kontinuierlich geschehen, stellen Hindernisse auf dem Weg zur Beilegung
des Konfliktes dar.
Von israelischen, palästinensischen und
internationalen Menschenrechtsorganisationen, darunter auch amnesty
international, wird angesichts der Eskalation des Konfliktes die
Stationierung internationaler unbewaffneter Beobachter gefordert. Dies
sei gerade angesichts der Atmosphäre von Misstrauen und gegenseitigen
Anschuldigungen nötig. Das Mandat müsse die Möglichkeit umfassen, die
Beobachtungen nicht nur den israelischen und palästinensischen Behörden,
sondern auch der Öffentlichkeit mitzuteilen. Auch international wird
angesichts der explosiven Lage zunehmend ein Überwachungsmechanismus
vorgeschlagen, so zuletzt auf dem EU-Gipfel im Dezember 2001.
Bislang scheiterte die Umsetzung dieser
Überlegungen am grundsätzlichen Widerstand der israelischen Regierung.
Sie wird nicht müde zu betonen, dass es keine unparteiischen
internationalen Beobachter gebe, ein solches Vorgehen ineffektiv und auf
jeden Fall gegen die Interessen Israels gerichtet sei. Deshalb sei sie
auch nicht bereit, Sicherheitsgarantien abzugeben. Vor allem die USA und
die EU als diejenigen politischen Akteure, die am intensivsten im
Kontakt mit den Konfliktparteien stehen, werden sich überlegen müssen,
wie sie mit dieser Haltung umgehen wollen.
Jörn Böhme
Der Autor ist Vorsitzender des
"Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten".