Oppositionelle Palästinenser nach dem Zusammenbruch des
irakischen Regimes: "Wir wollen dasselbe: Freiheit":
Das ganze Bild der Welt
In Jericho und Ramallah finden
sich inzwischen viele, die darauf vertrauen, dass der Sturz Saddam
Husseins die letzten Tage Arafats eingeleitet hat
Von Thorsten Schmitz
Jericho/Ramallah, im April – Mohammed Sabri
steht in einem Feld von Orangenbäumen am Toten Meer, verscheucht
Fliegen von Lidern und Lippen und zupft Unkraut. Das heißt, er tut
so, als zupfe er Unkraut. In Wahrheit versteckt er sich vor seinen
Nachbarn, die nicht hören sollen, wovon er spricht. Seltsam genug,
dass ihm ein blasser Deutscher gegenübersteht, der einen Block in
der Hand hält und Antworten notiert. Am Abend werden die Nachbarn
Sabri auf der Straße ansprechen, sie hätten uns auf dem Feld
gesehen, und Sabri wird sagen – das heißt lügen –, wir hätten über
das Klima am Toten Meer geredet.
Wenn man das Wort Klima großzügig als Stimmung
auslegt, hat Sabri die Nachbarn nicht mit der Unwahrheit ruhig
gestellt. Denn das zentrale Anliegen unseres Treffens war ein
Stimmungsbericht aus Bagdad und Jericho, der sich Lichtjahre von den
Verlautbarungen der Palästinensischen Autonomiebehörde und der
Propaganda der Terrorgruppen Hamas und Islamischer Dschihad entfernt
befindet. Mohammed Sabri, 32, der zwei Päckchen Winston am Tag
inhaliert und seiner anderthalb Jahre alten Tochter an den
arbeitsfreien Freitagen beim Laufenlernen behilflich ist, war vor
dem Irak-Krieg fünfmal in Bagdad. Bei seinen Reisen erfuhr Sabri,
wonach sich das irakische Volk sehnt: "Die wollten, dass Saddam
Hussein stirbt." Die Bilder von stürzenden Statuen, von johlenden
Irakern und der gänzlichen Abwesenheit irakischer Polizeispitzel
haben Sabri ermutigt, gegenüber einem Ausländer auszusprechen, was
er vor seinen Nachbarn – noch – verheimlicht: "Wir wollen dasselbe.
Freiheit. Wir Palästinenser behaupten, Israel würde uns die Freiheit
vorenthalten. Dabei ist es auch Arafat und seine korrupte Clique,
die uns wie unmündige Kinder regieren."
Reale und andere Ängste
Weil Sätze wie diese mit der offiziellen Haltung
der Palästinensischen Autonomiebehörde unvereinbar sind und freie
Meinungsäußerung in der Westbank und im Gaza-Streifen mit Haft und
Folter geahndet werden kann, stehe ich mit Sabri im Orangenhain am
Toten Heer, 400 Meter unterhalb des Meeresspiegels. Sabri ist ein
groß gewachsener, schlanker Mann, der in Jericho, der ältesten Stadt
der Welt, geboren ist "und hier auch sterben wird". Er trägt eine
schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt, auf dessen linker
Schulterpartie "Freedom" steht, was nichts zu bedeuten hat, außer
dass Journalisten sich gerne solche Details notieren. Und während er
sich immer mal wieder bückt, um imaginäres Unkraut zu zupfen,
sprudelt es aus ihm heraus, als hätte er nur darauf gewartet, dass
ihn jemand auf das Ende des Irak-Regimes anspricht. Israelische
Kampfflugzeuge, die nach irakischen Scud-Raketen Ausschau halten,
jagen über unsere Köpfe hinweg, und Sabri sagt: "Ich war entsetzt,
wie schlecht es den Menschen in Bagdad geht. Alle hassen Saddam,
aber niemand traute sich, etwas gegen ihn zu sagen. Alle hungern und
haben keine Arbeit. Ganz wie bei uns." Es sei "einfach", alle Schuld
auf Israel zu schieben. "Die lenken damit nur von ihrer eigenen
Unfähigkeit ab." Die – das sind die Männer der Autonomiebehörde und
ihr Chef, Arafat.
Fasziniert von der "schönen Landschaft" an Euphrat
und Tigris, abgestoßen von den "brutalen" Soldaten der
Republikanischen Garde, berichtet Sabri von Gesprächen mit Irakern
in den letzten Tagen: "Sie sehnen sich nach Demokratie und Frieden
und sind so froh, dass Saddam endlich weg ist." Plötzlich verstummt
Sabri. Der Feldbesitzer läuft auf uns zu. Ich soll jetzt nicht mehr
fragen – und gehen. Der Mann, von dessen Lohn Sabri sich, seine
Frau, die zwei Söhne, die Tochter und vier Hunde ernährt, ist ein
hochrangiger Funktionär der Palästinensischen Autonomiebehörde in
Jericho.
Wer sich im Westjordanland auf die Suche nach
Palästinensern begibt, die gegen Jassir Arafat sprechen und im Sturz
Saddam Husseins Hoffnung sehen, wird fündig. Aber fotografieren
lassen sich die Menschen nicht, und in der Öffentlichkeit
interviewen auch nicht. Die oppositionellen Palästinenser sind von
einer irrationalen Angst getrieben, bei einer Einreise in den Irak
an der Grenze verhaftet zu werden – und von einer rationalen: von
Polizisten der Autonomiebehörde ins Gefängnis gesteckt zu werden.
Saeb Schakiki zu treffen entpuppt sich als sehr
schwierige Mission. Innerhalb einer Woche sagt er dreimal ab und
dreimal zu. Selbst auf dem Weg zu einem kleinen Hain am Rande von
Ramallah überlegt er zum vierten Mal, die Begegnung abzusagen. Der
Übersetzer redet per Handy auf Schakiki ein – und überzeugt ihn
schließlich. Schakiki ist 38 Jahre alt und arbeitet bei einem
Geldwechsler im Zentrum Ramallahs, wobei es in diesen Tagen wenig zu
tun gibt. "Wir rauchen und trinken Tee, trinken Tee und rauchen und
warten, dass der Tag vorbei geht." Zwischendurch laufe im Büro
seines Bosses der Fernseher mit dem offiziellen palästinensischen
Programm mit der offiziellen Irak- Berichterstattung. "Wenn ich nach
Hause komme, schaue ich CNN" – um das halbe Bild von der Welt zu
komplettieren.
Die letzten Nächte hing Schakiki vor dem Fernseher
und konnte den Blick nicht von den befreiten Menschenmassen in
Bagdad lassen. Ein paarmal war er im Irak, wo die Männer der
Republikanischen Garde sich "schlimmer als Tiere" aufgeführt hätten,
wo Kinder sich prostituiert hätten, um die Familien zu ernähren, wo
"jeder gehängt wurde, der gegen Saddam ist". Nun beneidet Schakiki
das irakische Volk: "Die können jetzt frei atmen." Die Palästinenser
könnten das nicht: "Wir leben auch wie in einer Diktatur. Es gibt
nur eine Meinung." Niemand dürfe erfahren, wie er redet, "sonst bin
ich meinen Job und meine Ehre los".
Schakiki ist davon überzeugt, dass der Sturz
Saddams die letzten Tage von Arafat eingeläutet habe – und das
palästinensische Volk aus der Isolation manövrieren werde. "Arafat
wird endlich in Rente gehen, und Machmud Abbas wird uns den Frieden
mit Israel bringen." Abbas ist der neue palästinensische
Ministerpräsident, der gerade versucht, ein Kabinett nach seinem
Gusto zusammenzustellen – wogegen Arafat sich sperrt.
Saddam im Tomatenberg
Mohammed Hamed hat sich mit Arafats
Autonomiebehörde angelegt – und verloren. Bis vor wenigen Wochen
noch führte der fünffache Familienvater ein Obst- und Gemüsegeschäft
im Zentrum Jerichos. Als seine Kollegen plötzlich anfingen, in die
Apfelsinen- und Tomatenberge statt Preisschildern Saddam- Poster zu
stellen, als sie ihre Radios auf den irakischen Staatsrundfunk
einstellten, platzte ihm der Kragen. Er stritt mit den Kollegen. Wie
sie einen Mann verehren könnten, der die eigene Bevölkerung mit
Giftgas ausgelöscht hat. Ob sie nicht merkten, dass sich Saddam die
Gunst der Palästinenser durch die großzügigen Geldspenden für
Familienangehörige von Selbstmordattentätern erkaufe. Eines Tages
wurde er von palästinensischen Polizisten aufgefordert, seinen Stand
zu schließen, die Lizenz werde nicht mehr verlängert. Anschließend
eskortierte man ihn auf die örtliche Polizei. Zwei Tage lang sei er
dort festgehalten und geschlagen worden. "Warum müssen wir leiden?",
fragt Mohammed Hamed. Einige Freunde seien bis heute spurlos
verschwunden.
Mohammed Hamed ist fast zwei Meter groß und sehr
dünn. Er raucht mit der einen Hand, mit der anderen presst er
Orangensaft. Er lebt von der Toleranz einer Israelin, die am Toten
Meer einen Stand betreibt und ihn dort Orangensaft und Schmuck aus
Jericho verkaufen lässt. An den israelischen Soldaten am Checkpoint
vorbei und auf Schleichwegen verlässt Mohammed Hamed jeden Tag
seinen Wohnort, in dem er nicht alles sagen darf, und arbeitet in
dem Zufluchtsort am Toten Meer. Hier traut er sich zu reden – und zu
fragen: "Die Iraker haben die Soldaten der Republikanischen Garde
gehasst, weil die alles bekommen haben, während das Volk hungern
muss. Bei uns stecken die Angestellten der Autonomiebehörde alles
Geld ein, während wir auch hungern. Wo fließt das ganze Geld hin,
das uns Europa überweist?" Es sei Zeit, dass der neue
palästinensische Ministerpräsident Abbas dem "Regime von Arafat" ein
Ende bereite. "Wir wollen wie die Iraker in Frieden leben und ohne
Bevormundung. Zusammen mit den Israelis." Seinen persönlichen
Frieden mit dem jüdischen Volk hat Hamed – ohne das Wissen seiner
Frau – längst vollzogen: Er hat eine Affäre mit der israelischen
Stand-Betreiberin.
hagalil.com
14-04-03 |