Das doppelte Tabu
Wer schwul war und Palästinenser,
den zog es nach Israel. Doch dort droht nun die Abschiebung, in der
Heimat sogar der Tod
Von TSAFRIR COHEN
David* läuft im engen, voll gestopften Zimmer auf
und ab. Schließlich hält er es nicht mehr aus und lehnt sich aus dem
Fenster. Vom vierten Stock der heruntergekommenen Mietskaserne schaut er
ungeduldig in alle Richtungen. David hatte für mich, den Gast,
Zigaretten holen wollen, doch in einem Anflug von Unabhängigkeit ist ihm
Mohammed* zuvorgekommen. Das war vor fünf Minuten, und ich spüre immer
dringender den unausgesprochenen Vorwurf, ich hätte es auf die
unbekümmerte Art eines Westlers versäumt, mitzudenken und genug
Zigaretten mitzubringen. Und jetzt, draußen, schwebt sein Liebhaber in
Lebensgefahr.
Als Mohammed zurückkommt, mischt sich der Stolz, der
Gastfreundschaft Genüge getan zu haben, mit sichtbarer Erleichterung:
Keiner der Polizisten oder der sonstigen Sicherheitskräfte, die überall
in den Stadtzentren postiert sind, hat ihn aufgehalten, und der
Kioskbesitzer hat keinen verdächtigen Akzent wahrgenommen. Sonst wäre er
geliefert: Seit dem Ausbruch der zweiten Intifada darf sich kein
Palästinenser in Israel aufhalten. Diejenigen, die man ertappt, werden
in der Regel an die Grenze transportiert, und für Mohammed könnte das
Betreten der besetzten Gebiete den Tod bedeuten.
Um seine sechs kleinen Geschwister und seinen
krebskranken Vater zu ernähren, hat der heute dreiundzwanzigjährige
Mohammed mit zwölf Jahren die Dorfschule und das aus zwei Zimmern
bestehende Elternhaus verlassen und zog, wie tausende andere, dahin, wo
es Arbeit gab: nach Israel. Der Gastarbeiterlohn als Gärtner war bei
einer Wochenarbeitszeit von sechzig bis siebzig Stunden weit unter dem
Mindestlohn. Doch hier musste eine dringende Operation bezahlt werden,
dort die Elektrifizierung des Elternhauses - und so ist er bis heute
geblieben. Auch wegen David, den er vor drei Jahren in einem
Schwulenlokal in Tel Aviv kennen gelernt hat. Ein unverzeihlicher
doppelter Grenzübertritt: Während sein Volk belagert wird, lebt er - als
Schwuler - im Feindesland: Damit gehört er zu der am stärksten
gefährdeten Minderheit im Nahen Osten.
Mitte der Neunzigerjahre gab es zarte Anzeichen einer
ganz anderen Entwicklung im künftigen Palästina, hin zu einer
demokratischen und pluralistischen Gesellschaft mit ziviler
Gerichtsbarkeit und urbanen Zentren. Doch dies alles ist im Zuge der
Machtübernahme durch die Autonomiebehörde und stärker noch durch die
fortwährende Besatzung und das Erstarken der radikalen islamischen
Kräfte zunichte gemacht worden. Die palästinensische Gesellschaft, durch
jahrelange Besatzung auch nach innen gewalttätig, hat in der kurzen
Aufbauzeit keine zivilen Mechanismen entwickelt. Auf der Straße
herrschen heute Sittenpolizisten verschiedener Organisationen, die sich
unter Berufung auf "das Gesetz" in jede - nach westlichem Maßstab -
private Angelegenheit einmischen.
Für Schwule ist diese verschärfte Situation
unerträglich. Seit je gingen sie sehr diskret vor, waren häufig
verheiratet und bezeichneten sich selbst vor Gleichgesinnten oft als
Bisexuelle oder ihre Handlungen als einmalige Ausrutscher. Im liberalen
Israel konnten sie sich anonym ausleben. In Zeiten nationaler Not sind
Außenseiter noch unbeliebter als sonst; durch ihre geheimnisvollen
Kontakte nach Israel geraten palästinensische Homosexuelle jedoch
zusätzlich unter Generalverdacht, ihr Volk zu verraten. Dies gleicht
einem Todesurteil, wie die Erfahrung gezeigt hat. Bei der Vollstreckung
agieren islamische Würdenträger, die Sicherheitskräfte und die um ihre -
in der arabischen Gesellschaft häufig über dem Leben stehende - Ehre
fürchtenden Familien und Dorfgemeinschaften häufig gemeinsam. Einmal
geoutet, können Homosexuelle in ihrer Heimat kaum überleben. Israel
indes gewährt seit dem Ausbruch der zweiten Intifada vor anderthalb
Jahren keinem Palästinenser mehr Aufenthalt.
Das Glück, seine Familie hinter sich zu wissen, bleibt
nur wenigen schwulen Palästinensern vorbehalten. Der amerikanische
Manager Steve* hat den Palästinenser Magdi* bei einem Israelaufenthalt
am Strand kennen gelernt. Zwei Jahre lebten sie in Israel, doch als die
Polizei Magdi immerfort schikanierte, zogen sie in Magdis Dorf, wo Steve
von Magdis Familie königlich empfangen wurde. Sie verbrachten jede
Minute gemeinsam, doch keiner schöpfte Verdacht, wie ihre Beziehung
geartet war.
Der Erste, der es mitbekommen hat, war Magdis
drogenabhängiger Bruder. Er warf ihm unter vier Augen vor, ein "Luti"
(Schwuler) zu sein. In der arabischen Gesellschaft ein Schimpfwort, das
nicht ungesühnt bleiben darf. Magdi dementierte, doch eine Woche später
wurde ein Brief unter die Tür geschoben. Magdi wusste sofort: Es war
einer der Briefe vom lokalen islamischen Rat, mit dem die
Angeschriebenen zum Freiwild erklärt werden. Das kann einer untreuen
Ehefrau, einem Kollaborateur oder eben einem Homosexuellen gelten. Der
Rat sorgt dafür, dass die Zustellung des Briefes in der ganzen Umgebung
bekannt wird. Ist solch ein Brief zugestellt, besteht für den Adressaten
Lebensgefahr, denn seine Liquidierung gilt als Gebot, nicht als
Straftat.
Einige Tage später wurden Magdi und Steve vom Bruder
und einem Nachbarn mit einem Messer attackiert, Magdis Mutter feuerte
die Angreifer an. Magdi und Steve gelang zwar die Flucht nach Israel,
doch dort leben sie im Untergrund, wo sie häufig ihren Aufenthaltsort
wechseln und immer auf der Flucht sind vor der israelischen Polizei und
vor Magdis Familie, die auch hier nach ihnen gesucht hat.
Als Steves Ersparnisse verbraucht waren, wandte er
sich an die US-Botschaft mit der Bitte, Magdi die Einreise zu erlauben.
Nach mehreren Anläufen weiß er nun, dass weder die USA noch irgendein
anderes westliches Land seinem Geliebten ein Visum gewähren werden. Asyl
kann nur vor Ort beantragt werden - und dafür müsste Magdi das Land
verlassen. Israel ist aber ringsum von arabischen Staaten umgeben, und
ein Flug ohne Visum ist unmöglich. Das Land ist für viele Palästinenser,
die sich illegal in Israel aufhalten, zu einem Gefängnis geworden.
David hat für Mohammed ein rührendes Mäppchen
zusammengestellt mit Empfehlungsbriefen und einer Heiratsurkunde - die
allerdings formell vollkommen nutzlos ist, da Schwule in Israel nicht
heiraten dürfen. Mithilfe dieser Dokumente ist er bei seiner letzten
Begegnung mit Ordnungshütern noch glimpflich davongekommen. Sie haben
ihn in einen Grenzpolizeiwagen gezerrt, und ein Grenzpolizist,
angefeuert von seinen Kollegen durch Rufe wie "Scheiß Araber!" und
"Stinkender Schwuler!", riss ihm die Hose herunter und bohrte ihm eine
Cola-Flasche in den Hintern. Wäre er, wie es Vorschrift ist, in die
besetzten Gebiete abgeschoben worden, hätten die palästinensischen
Behörden ihn umgebracht, da ist er sich sicher.
In dieser Zwickmühle gewährt allein die kleine Wohnung
Mohammed Schutz. Auch diese zwanzig Quadratmeter mussten schwer
erarbeitet werden: Als sie sich kennen lernten, sagt David, habe er
"nachts mit einem offenen und einem geschlossenen Auge geschlafen".
Später hat er sogar Mohammeds Socken nach Zeichen einer feindlichen
Absicht durchsucht, denn Mohammed hat auch nicht alles erzählt, aus
Angst vor Ablehnung. "Jetzt, auch durch die gemeinsam erlittenen
Traumata", sagt David, der Hairstylist, "sind wir unzertrennlich."
Ihre Wohnung ist ein regelrechtes Nest symbiotischer
Kreativität. Die eine Hälfte des Zimmers ist einem enormen Bett,
Biedermeier-Imitat, vorbehalten. Die Wände sind voll gestopft mit
Postern von engelsgleichen Frauen, Cherubim und Rosen, in Kleinstarbeit
mit aufgeklebten Kunstperlen, Glitzerzeug und Edelsteinen aus Plastik zu
einer himmlischen Landschaft veredelt. Eine kitschig-naive Fantasiewelt,
die Mohammed kaum verlässt.
Während der schmächtige Mohammed gern fabuliert,
wappnet sich David mit einem scheinbar unerschütterlichen Stolz und
einem nach außen getragenen Selbstbewusstsein, wie es nur das
Tuntenleben in der israelischen Provinz und die täglich von allen Seiten
erlebte Verachtung erzeugen kann. Aus ärmlichen kinderreichen
Verhältnissen stammt er und ist mit vierzehn von der Schule gegangen. Um
auf seine Rechte "als israelischer Staatsbürger" zu pochen, benutzt er
sein bestes Hochhebräisch. Mit seinem fast hüftlangen gefärbten Haar
stand er einen halben Tag unter dem Hohngelächter der Soldaten vor einem
Militärlager in der Pampa, in dem angeblich die sicherheitsrelevanten
Papiere zu holen gewesen wären, die Voraussetzung für Mohammeds
Aufenthaltserlaubnis. Vergebens.
Im nächsten Monat soll David, der einen regulären
dreijährigen Militärdienst hinter sich hat, als Reservist eingezogen
werden. "Was soll ich tun, wenn ich das Dorf meiner Schwiegerfamilie
schikanieren muss, die uns doch ins Herz geschlossen hatte? Und was
bekomme ich dafür, dass ich meinem Land diene?"
* Alle Namen wurden aus Sicherheitsgründen geändert
Illegal in Israel
Schaul Gannon, Palästinenserbeauftragter im israelischen Verein für den
Schutz der Rechte von Lesben, Schwulen und Transsexuellen, spricht von
mindestens fünfhundert schwulen Palästinensern, die sich illegal in
Israel aufhalten.
Die Situation in den besetzten Gebieten hat sich für Schwule in den letzten
Jahren extrem verschlechtert, sagt Gannon, der Berichte von Betroffenen sammelt.
Bisher sind es über dreißig - eine hohe Zahl, wenn man bedenkt, dass sie nicht
anonym verfasst werden dürfen. In ihnen werden Misshandlungen, Lynchjustiz und
Folterungen in den Staatsgefängnissen festgehalten.
Insgesamt stellt Gannon eine uneinheitliche Haltung gegenüber Homosexualität
fest. Ein Arzt hat bessere Chancen, unbehelligt leben zu können. Auch kommt es
auf die lokalen Behörden an. Während im urbanen Ramallah das Phänomen eher
übersehen wird, bestrafen die Behörden im Gazastreifen homosexuelle Handlungen
mit Schlagstockhieben. Jungen unter achtzehn Jahren wird einmalig die
Möglichkeit gewährt, sich in religiösen Schulen auf den rechten Weg bringen zu
lassen. Die akuteste Gefahr: Wer unter dem doppelten Verdacht steht, homosexuell
und Verräter zu sein, ist allgemeiner Willkür ausgesetzt und hat nur geringe
Überlebenschancen.
Lesben werden "Mussachaki" (deutsch: Spielerei) genannt und werden, wie in der
westlichen Welt, eher verschwiegen als verfolgt. Dass sie unterrepräsentiert
sind, hängt auch mit dem patriarchalischen System zusammen: Gerade bei der
Frauenehre kann sich eine entehrte Familie selbst nach fünfzig Jahren noch
rächen. Da überlegen sich Frauen zweimal, ob sie sich als Lesben bekennen oder
lieber weiter diskret "spielen" wollen.
Die internationale Gemeinschaft tut wenig für die Rechte Homosexueller. Gannon,
der sich oft an verschiedene UN-Organisationen gewandt hat, berichtet, dass "man
am anderen Ende der Leitung geradezu hört, wie Grimassen geschnitten werden",
wenn er die Problematik schildert.
Der UN-Menschenrechtsausschuss hat zwar die UN-Mitgliedsstaaten aufgerufen,
Gesetze abzuschaffen, die die Homosexualität diskriminieren. Die Chancen auf
Asyl tendieren für Schwule jedoch gegen null, da die UN bislang keine
Aufnahmebitte für verfolgte Homosexuelle ausgesprochen haben und kein Land der
Welt außerhalb der jeweiligen Grenzen ohne eine solche UN-Bitte Asyl gewährt.
Eine Ausreise ist für unverheiratete Palästinenser ausgeschlossen, da sie nie
ein Visum bekämen. Auch das liberale Europa - Deutschland inklusive - hat sich
bisher geweigert, Hilfe oder Asyl zu gewähren.
Israel duldet aus Sicherheitsgründen zurzeit keine Ausnahmen, was den Aufenthalt
von Palästinensern angeht. Dauerhafte Lösungen, wie unbeschränkte
Aufenthaltsgenehmigungen oder Einbürgerungen, sind sakrosankt, da dies rechtlich
"Tür und Tor für ein allgemeines Rückkehrrecht von Palästinensern öffnen würde".
Es gibt allerdings, so Gannon, einzelne Politiker und hohe Beamte, die sich bei
einer Beruhigung der Lage für Einzellösungen einsetzen würden.
Doch mit der rapide zunehmenden Gewaltbereitschaft in beiden Lagern wächst auch
der Druck auf die israelischen Sicherheitsbehörden vor Ort, härter gegen die
ihnen bekannten Fälle vorzugehen und alle Illegalen abzuschieben.
TSAFRIR COHEN, 35, wuchs in Israel
auf und lebt als freier Autor in Berlin
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haGalil onLine 19-05-2002 |