Zwischen politischer Opportunität und
apokalyptischen Phantasien:
Wo steht die Hamas?
Roni Ben Efrat
Junge Welt, 22.07.2003
Noch nie ist die Hamas so heftig umworben worden
wie in den Wochen, die dem Gipfel in Akaba am 4. Juni 2003
vorausgingen. Die sogenannte Roadmap fordert sofortige Ruhe, da ist
die militante islamische Gruppe entscheidend. Die Palästinensische
Autonomiebehörde, die PA, unter Premierminister Mahmud Abbas (Abu
Masen) hat klargestellt, daß sie die Hamas aus
innerpalästinensischen Gründen nicht gewaltsam entwaffnen kann.
Letztere muß mitspielen. Sie hält die Lösung des Rätsels in den
Händen: Können 33 Monate Intifada durch einen neuen diplomatischen
Versuch beendet werden?
Die Bush-Regierung drängte auf einen Waffenstillstand (Hudna auf
arabisch). Da sie im Irak festsitzt, braucht sie, um die Wiederwahl
George Bushs im nächsten Jahr zu sichern, einen schnellen Erfolg im
Nahen Osten. Die Ägypter, beunruhigt wegen der Instabilität der
Region, wollen die PA als stabiles, solides Regime sehen, das fähig
ist, die Hamas unter Kontrolle zu halten. Die PA selbst betrachtet
die Roadmap als letzte Chance, als nationale Führung zu überleben.
Ein Teilnehmer von Akaba erachtete die Roadmap als voreilig. Ariel
Scharon war von den Amerikanern enttäuscht. Viel zu leicht hatten
sie es Abbas aus seiner Sicht gemacht, einen Schritt, den er als
entscheidend ansieht, zu überspringen: die Zerstörung der
»terroristischen Infrastruktur« oder, mit anderen Worten, die
Verhaftung derer, die auf Scharons Fahndungsliste stehen, sowie die
Beschlagnahmung von Waffen. Die Konsequenz derart drastischer
Maßnahmen wäre ein palästinensischer Bürgerkrieg. Solange sich die
PA diesem Test nicht unterziehe, werde sie nicht regierungsfähig
sein, behaupten hohe israelische Vertreter – zumindest nicht auf die
Art, die sich Israel vorstellt: indem sie Befehle aus Tel Aviv
entgegennimmt.
Aber wo steht die Hamas? Ist sie zur Zeit wirklich ganz oben, wie
viele Kommentatoren glauben? Hält sie den Schlüssel zu den
Vereinbarungen in der Hand? Die Antwort ist nein. Die Schwäche des
einen, der PA, bedeutet nicht zugleich die Stärke des anderen, der
Hamas.
Tatsache ist, daß die Hamas in einem Widerspruch gefangen ist. Sie
ist abhängig von der Unterstützung des Volkes, die sie erhält, weil
sie die Israelis traumatisiert. Dieses Trauma jedoch bringt
entsetzliche Rache über die Palästinenser: Wiedereroberung und
Unterdrückung, die sie nicht lange aushalten können. Wenn ich dies
sage, möchte ich nicht Israels direkte Verantwortung für die
gegenwärtige dunkle Periode in der palästinensischen Geschichte
herunterspielen. Ich möchte aufzeigen, daß die Hamas weit davon
entfernt ist, die »Befreiungsbewegung« zu sein, die zu sein sie sich
brüstet; sie ist nur noch eine »Rachebewegung«, die sich zwischen
politischer Opportunität und apokalyptischen Phantasien bewegt.
Die Karte falsch gelesen
Die Hamas ist kein Monolith. Ihre moderateren Mitglieder
konzentrieren sich auf die besetzten Gebiete und wollen sie in einen
islamischen Staat verwandeln. Die Extremisten wollen zusätzlich die
Juden aus Israel vertreiben.
Die zweite Intifada brach als Antwort auf das Debakel von Oslo,
gefolgt vom Scheitern von Camp David, aus. Nicht die Hamas, sondern
die Fatah hat sie begonnen. Es handelte sich nicht um eine Ablehnung
grundsätzlich aller diplomatischen Alternativen. Ihr Ziel war nicht
die Vertreibung des letzten Juden. Die Hamas jedoch sah die Dinge
anders. Sie verwandelte die zweite Intifada in einen Test für ihr
eigenes Programm. Mit ihrem Reservoir an Selbstmordattentätern
eskalierte sie den Konflikt weit über das Maß hinaus, in dem die
Bevölkerung Strafaktionen zu ertragen imstande ist. Doch zu ihrem
Vorteil hat jeder israelische Gegenschlag den Haß gegen die
Besatzung vergrößert und damit die Feuer geschürt, die die Bewegung
anheizen. Ihre Führer glauben, eine Armee von Kamikazekämpfern könne
die israelische Gesellschaft sprengen und die Juden würden sich aus
dem Nahen Osten ebenso zurückziehen wie vor drei Jahren aus dem
Südlibanon.
Die Wahrheit ist davon weit entfernt. Tatsächlich haben die Israelis
große Verluste erlitten, und ihre Wirtschaft ist in Schwierigkeiten.
Die meisten würden eine diplomatische Lösung wollen – aber nicht um
jeden Preis. Als Ariel Scharon die Roadmap akzeptiert hat, war dies
nicht das Ergebnis innerisraelischen Drucks. Dieser Druck kam eher
von den US-Amerikanern und Europäern. Hätte es nur an Israel
gelegen, es hätte weiter versucht, die Hamas zu vernichten, um
später ein Arrangement mit der neuen PA treffen zu können. Was den
Vergleich mit dem Südlibanon betrifft, so hat die israelische
Regierung diese vorgebliche »Sicherheitszone« nie als echte
strategische Hilfe betrachtet. Im Falle der Westbank (nicht Gazas)
ist es anders. Diese, so glauben die meisten Israelis, könnte sich
tatsächlich zu einer Bedrohung des Landes entwickeln. Das ist ein
Grund, warum so wenige etwas dagegen hatten, als ihre Armee im April
2002 dort wieder einzog.
Das Wunschdenken der Hamas hat ihren Realitätssinn getrübt. Abdel
Asis Rantisi, einer ihrer Führer, hatte am 5.April 2001 – nach
sieben Monaten Intifada und ein Jahr vor der Wiedereroberung der
besetzten Gebiete durch Israel – Al Dschasira ein Interview gegeben.
Der Interviewer wollte seine Meinung über den neuen israelischen
Premierminister wissen. »Die Wahl Scharons«, sagte Rantisi, »ist
Ausdruck des Sehnens des zionistischen Volkes nach jemand, der es
vor der Intifada retten kann, die es unter Besatzung gestellt hat,
die seine Existenz bedroht, und die für das palästinensische Volk
eine neue Realität schafft, anders als die Bitternis früherer
Zeiten«. Im gleichen Interview sagte Rantisi: »Es ist die Pflicht
des palästinensischen Volks, Scharon zu stürzen, denn Scharon ist
die letzte Karte in der Hand des zionistischen Gebildes, das in eine
Phase des Rückzugs eingetreten ist.« Die Realität hat die
Unrichtigkeit dieser Prophezeiung bewiesen. Scharon hat die
Wiederwahl mit einem Erdrutschsieg gewonnen. Es war Arafat, der
(zumindest offiziell) durch israelischen Druck gezwungen wurde, sich
aus der öffentlichen Arena zurückzuziehen.
Rantisi wurde weiter nach der Möglichkeit befragt, ob Scharon
Westbank und Gaza zurückerobern könnte. Er bezweifelte dies. Sollte
es trotzdem gelingen, sagte er, würde Israel auf einen breiten
Volkswiderstand treffen, der ihm eine Lektion erteilen würde, die es
nicht mehr vergäße. Auch in diesem Punkt hat sich der Hamas-Führer
nicht als Prophet erwiesen. Als die israelische Armee ein Jahr nach
dem Interview in die besetzten Gebiete eindrang, traf sie, außer in
Dschenin, auf wenig Widerstand.
Die Blindheit der Hamas gegenüber dem Kräfteverhältnis hat bereits
die Katastrophe über ihr Volk gebracht. Es gibt Anzeichen, daß die
Bevölkerung langsam beginnt, den Glauben an den von der Hamas
gewiesenen Weg zu verlieren. So sah sich Rantisis Frau zum Beispiel
vor kurzem gezwungen, im Fernsehen zu erklären, welche Ehre es wäre,
wenn sich ihr Sohn Muhammad (jetzt Medizinstudent im Irak) für die
Sache in die Luft sprengen würde: Dies geschah, nachdem die PA einen
zehn Jahre alten Gesprächsmitschnitt hatte durchsickern lassen, in
dem sie das Opfer abgelehnt hatte.
Das Treffen in Akaba bietet ein weiteres Beispiel für die Art und
Weise, wie Hamas-Führer die Lage mißdeuten. Am Vorabend von Abbas’
Reise zum Treffen mit Bush und Scharon legten die palästinensischen
Gruppierungen letzte Hand an die Hudna, den Waffenstillstand. In
seiner Rede vor dem Gipfel verdammte Abbas den Terrorismus und
gelobte das Ende der bewaffneten Intifada. Im Gegenzug zog sich die
Hamas von der Hudna zurück. Rantisi sprach sich öffentlich gegen den
Gipfel aus. Abbas, behauptete Rantisi, spräche mit gespaltener
Zunge, sage das eine zu den Amerikanern und das andere zu den
palästinensischen Gruppierungen. Rantisi rief zur Fortsetzung des
Widerstands auf. Wäre er im Untergrund gewesen oder in einem
Palästina mit verteidigungsfähigen Grenzen, hätte man die Bravour
verstehen können, mit der er die Teilnehmer des Gipfels aus den USA,
Europa und Ägypten herausforderte. Die Tatsache aber, daß er offen
lebt, im Herzen von Gaza, läßt einen zweifeln, ob der Mann noch bei
Verstand ist. Am Tag nach seinem Statement feuerte ein israelischer
Hubschrauber eine Granate auf Rantisis Auto, verwundete ihn leicht,
seinen Sohn etwas schwerer und tötete zwei Passanten: eine
palästinensische Frau und ihr Kind. Israel verkündete, es sehe
keinen Unterschied zwischen einer politischen Führung, die zu
Angriffen aufriefe, und den Angreifern selbst. In den folgenden
Tagen eskalierten die Luftschläge gegen Hamas-Führer, töteten
mehrere – auch Zivilisten, die sich in der Nähe aufhielten.
Israel versuchte, sowohl der PA als auch der Hamas klarzumachen, daß
es keine Gnade kennen würde. Am 14. Juni 2003, kurz nach dem
Anschlag auf sein Leben, wurde Rantisi von Al Dschasira interviewt.
Man fragte ihn: »Sie haben bewiesen, daß Sie wissen, wie man
Widerstand leistet, ist es jetzt nicht an der Zeit, Ihren Status als
führende Widerstandsgruppe in politische Erfolge umzumünzen? Ist es
nicht Zeit für die eine oder andere diplomatische Initiative?«
Rantisi erwiderte: »Es gibt keinen Raum für eine Hudna. Das
palästinensische Volk hat keine Wahl, als das Leben in Demütigung,
das ihm dargeboten wird, zurückzuweisen.« Der Pfad der
Verhandlungen, erläuterte er, sei mit den Osloer Vereinbarungen
gescheitert. Die einzig verbleibende Alternative sei die Rückkehr zu
den Schriften Mohammeds, der gesagt habe: »Die größten Feinde der
Gläubigen sind die Juden.« »Der Koran zeigt uns«, sagte Rantisi,
»die Wahrheit über die Art von Leuten, die von Frieden reden,
während sie tatsächlich dessen Gegenteil planen. Sie werden die
Hudna ausnutzen, um weiter Siedlungen zu bauen«.
Das Verhältnis zur Hudna
Am Ende unterzeichneten am 30. Juni 2003 die größten
palästinensischen Gruppierungen die Hudna. Israel erkennt diese
offiziell nicht an, denn aus seiner Sicht besteht die einzige
relevante Vereinbarung zwischen ihm selbst und der PA. Dem
amerikanischen Druck nachgebend hat es zugestimmt, Abbas’ Herangehen
zu akzeptieren: die Durchsetzung der Waffenruhe im Wege einer
innerpalästinensischen Vereinbarung.
Die Hudna ist sehr merkwürdig formuliert. Es handelt sich nicht um
ein einheitliches Dokument, in dem sich die Fatah und die Hamas auf
gleicher Ebene treffen. Statt dessen begründet jede Seite die
dreimonatige Waffenruhe anders. Die Fatah akzeptiert den
Waffenstillstand, um die nationalen Ziele ihres Volkes
voranzubringen, welche für sie die Errichtung eines unabhängigen
palästinensischen Staates auf allen 1967 von Israel besetzten
Gebieten sowie das Rückkehrrecht der Flüchtlinge beinhalten. Sie
erwähnt die Bedeutung der nationalen Einheit und den Respekt, den
sie Ägypten für die Rolle, die es übernommen hat, entgegenbringt.
Die Formulierung der Hamas ist nebulös und verschlungen. Sie stimmt
dem Waffenstillstand zu, sagt sie, »weil sie die palästinensischen
Reihen in dieser gefahrvollen Stunde einen und die nationale
Einheit, die die derzeitige Intifada bewirkt hat, erhalten möchte
als Beitrag zum nationalen palästinensischen Dialog, der jetzt
Formen annimmt, und mit dem Ziel, den Feind zu blockieren und unser
legitimes Recht zu unterstreichen, den Widerstand gegen die
Besatzung als strategische Wahl fortzuführen, bis die zionistische
Besatzung in unserem Land ein Ende hat und bis wir unsere legitimen
nationalen Rechte erreicht haben«.
Damit liegen zwei Proklamationen vor uns: Einerseits die der Fatah,
die sich an eine internationale Gemeinschaft richtet, in der sie
ihrem Wunsch Ausdruck verleiht, mit den Mitteln der Diplomatie
fortzufahren; andererseits die der Hamas, die das Gelöbnis enthält,
weiter zu kämpfen. Warum hat die Hamas der Hudna dann zugestimmt?
Die Antwort ist komplex. Die Hamas steht nach der Eroberung des Irak
von allen Seiten unter dem Druck ihrer Unterstützer, besonders von
Saudi-Arabien. Sie ist nicht bereit, die Schlachten alleine zu
schlagen und das Feuer auf sich zu ziehen. Zudem geht die Hamas
davon aus, daß aus der Roadmap genau wie aus den Verträgen von Oslo
nichts wird und daß sie dann einmal mehr die politischen Früchte des
Scheiterns ernten kann. Warum also sollte sie jetzt ihre Kräfte
vergeuden?
Gleichwohl sind diese taktischen Überlegungen nur marginal. Wenn wir
die Hamas verstehen wollen, müssen wir eine Sache im Kopf behalten,
die so einfach ist, daß sie oft übersehen wird. Die Hamas kann die
PA aufgrund ihres eigenen Charakters nicht ersetzen. Das heißt, sie
kann die Regierungsmacht über Westbank und Gaza aus dem einfachen
Grund nicht übernehmen, weil in Anbetracht des gegenwärtigen
Kräfteverhältnisses eine solche Autorität ohne ein Übereinkommen mit
Israel nicht überleben kann. Doch ohne ein solches Übereinkommen
wird Israel die besetzten Gebiete zurückerobern und die genannte
Regierung absetzen – wie im April 2002 bereits geschehen.
Die Hamas kann aber keine Regelung mit Israel herbeiführen, ohne
aufzuhören, die Hamas zu sein. Solange der Staat Israel neben der
Westbank und Gaza besteht, braucht die Hamas jemand anderes, wie die
PA, der die Verantwortung übernimmt. Innerhalb dieses Rahmens führt
sie ihre eigenen Operationen durch. Wenn die PA sich entscheidet,
mit den USA und Israel zu verhandeln, findet sich die Hamas in einer
Art luftleerem Raum wieder: Sie widersetzt sich dem Weg, den die PA
beschreitet, kann und will die Macht aber nicht selbst übernehmen.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb die zweite
Intifada der Hamas kurzfristig die Illusion eines Goldenen
Zeitalters beschert hatte. Ihr Dilemma schien gelöst: Die Fatah, die
populäre Kraft hinter der PA, hatte sich ihrem Weg des Widerstands
und des Märtyrertums angeschlossen.
Das Interview mit Al Dschasira im April 2001 zeigt diese Ausflüchte.
Der Interviewer Ahmed Mansour entlockte dem bedrängten Rantisi das
Eingeständnis, daß Hamas tatsächlich »die Gründung einer neuen
palästinensischen Führung« will, »deren Ziel es nach dem
Zusammenbruch der Verhandlungen sein wird, vereint gegen den
zionistischen Feind zu stehen. Mittel des Kampfes wird das
Märtyrertum sein.«
Mansour drängte weiter: »Wird diese neue Führung die PA ersetzen?« –
Rantisi: »Die PA wird an dieser Führung selbstverständlich
teilnehmen.« – Mansour: »Aber die PA ist bereits an der Macht. Sie
braucht euch nicht!« – Rantisi: »Wenn das Leiden weitergeht, wird
sich das Volk wahrscheinlich anderen Führungsmöglichkeiten
zuwenden.« – Mansour: »Und dann werdet ihr in der Lage sein, die PA
zu ersetzen!«
Die Idee sei, betonte Rantisi, eine gemeinsame Führung zu schaffen
und dann Wahlen durchzuführen. Bei diesen werde das Volk
entscheiden, ob weiter der Weg des »Widerstands« oder der
»Konzessionen« beschritten werden solle. Die Hamas werde nur bereit
sein, Teil einer Führung zu sein, die den Weg des Widerstands wählt.
Zwei Jahre später, in einem weiteren Interview mit Al Dschasira
berichtigte Rantisi diese Position: »Wir, lieber Bruder, werden uns
an gar keiner Regierung beteiligen. Wir befinden uns in der Phase
der nationalen Befreiung. Wie können wir während der Besatzung eine
Regierung gründen? Dies ist eine Phase des Widerstands, es ist die
Zeit des Gewehrs. Wir müssen das klarstellen: Der Feind wird für
seine Verbrechen zahlen müssen oder aus Palästina flüchten wie
damals aus dem Südlibanon.«
Es geht auch um Geld
So will die Hamas den Kuchen haben und ihn gleichzeitig essen. Sie
will, daß die PA während der »Zeit des Gewehrs« für die Gebiete
verantwortlich ist, aber sie will den Widerstand fortsetzen, als
gebe es keine PA. Die Verhandlungen über die Hudna haben sie
gezwungen, ihre Wahl zu treffen – an der Seite der PA den
Waffenstillstand zu akzeptieren oder ganz mit ihr zu brechen. Vor
diesem Hintergrund verstehen wir die merkwürdige, zweifelhafte
Haltung, mit der die Hamas unterschrieben hat. Sie versuchte sich
aus ihrem Dilemma herauszuwinden, indem sie ein neues Prinzip in den
palästinensischen Kampf einführte: die Einheit aller Kräfte als
Selbstzweck. Die Fatah und die PA haben den Verhandlungsweg gewählt,
der aus Sicht der Hamas Kapitulation bedeutet, doch die Hamas sucht
weiter unter dem Schirm der PA Zuflucht. Es ist durchaus in Ordnung
für eine Guerilla, einer Hudna beizutreten, vorausgesetzt, ihr
Programm bleibt eindeutig. Es ist aber etwas ganz anderes, wenn
diese Hudna zur Roadmap gehört, welche diesem Programm widerspricht.
Auch um Geld geht es. Die Hamas weiß, woher ihr Geld kommt. In dem
Interview im April 2001 hatte Mansour Rantisi gefragt, ob die Hamas
beabsichtige, den Widerstand außer Landes zu tragen,
antiamerikanische Aktionen im Ausland durchzuführen – da die USA die
Hauptunterstützer Israels sind. Rantisi antwortete ganz einfach:
»Wir stehen auf dem festen Standpunkt, so Gott will, unseren
Widerstand auf Palästina zu konzentrieren. Unser Programm schreibt
das Prinzip fest, daß wir kein arabisches Land verletzen wollen, und
in den meisten arabischen Staaten finden sich amerikanische
Interessen. Wir haben unsererseits zur Zeit kein Interesse daran,
einen Krieg gegen Amerika zu führen, denn unser Feldzug richtet sich
gegen den zionistischen Feind.«
Demnach ist die Hamas nicht willens, die gescheiterte PA zu ersetzen
oder arabische Diktaturen zu stürzen. Sie will Amerika nicht
schädigen oder schwächen. Ihr einziges Ziel ist der zionistische
Feind, als existiere dieser isoliert, ohne Unterstützung
ausländischer Mächte.
Wenn die Roadmap scheitert, wird die Hamas weiter in dem
Niemandsland stecken, in dem sie sich seit ihrer Gründung befindet:
eine »Bremser«-Vereinigung, weder willens noch fähig, reale Macht zu
übernehmen. Andererseits, wenn die Roadmap ein Erfolg wird – oder in
dem Maße, in dem sie es wird –, wird die Hamas ihre unabhängige
militärische Existenz aufgeben müssen oder sich einem Bürgerkrieg
gegenübersehen, den sie verabscheut.
Was fehlt, ist eine linke Alternative, die die herrschende Autorität
offen herausfordert und sich dem Kapitulationskurs widersetzt, die
Verbündete woanders als in den korrupten arabischen Regimen oder den
Vereinigten Staaten sucht. In Abwesenheit einer solchen Alternative
ist das palästinensische Volk gefangen zwischen zwei unannehmbaren
Optionen: dem Weg der Kapitulation oder dem Kult des Blutes.
Aus: Challenge Nr. 80, Juli/August 2003, zu
bestellen über P. O. Box 41199, Jaffa 61411, Israel, oder
www.hanitzotz.com/challenge/
(Aus dem Englischen von Endy Hagen)
hagalil.com
22-07-2003 |