Again and again:
Gefangene der Geschichte
Solange Israelis und
Palästinenser nur die eigenen Opfer sehen, sind sie dem Krieg näher als
dem Frieden
Jochen Müller
Kaum ein Tag, an dem in Tel Aviv, Haifa oder
Jerusalem nicht Bomben explodieren oder Anschläge in letzter Minute
vereitelt werden. Der Terror palästinensischer Attentäter ist - und das
soll er auch sein - für jeden Israeli an jedem Ort und zu jeder Minute
eine tödliche Gefahr. So sprechen denn die meisten israelischen
Politiker dem Gros der Bevölkerung wohl aus der Seele, wenn sie ihre
ebenfalls Tod und Zerstörung bringenden Militäreinsätze in Ramallah,
Jenin oder Hebron mit dem Recht des Staates Israel auf »aktive
Selbstverteidigung« begründen.
Auf der palästinensischen Seite sind es dagegen genau
diese israelischen Operationen und gezielten Liquidationen, die als
Terror empfunden werden. Seit der Besetzung im Jahr 1967 beweist Israel
den Palästinensern tagtäglich und brutal seine militärische Macht und
seine Überlegenheit. So gelten für sie die nationalistischen Bombenleger
oder Heckenschützen auch nicht als Mörder, sondern als »Märtyrer«, die
sich für Volk und Vaterland opfern.
Beide Seiten betrachten sich
in dem Konflikt als Opfer und leiten daraus die Legitimation für ihr
Handeln ab. So treibt man den Kreislauf aus Gewalt und Gegengewalt an -
ein Kreislauf, der beide Kontrahenten an den Rand eines neuen Krieges
führt. Diese Opferperspektive ist indes nicht neu. Sie wurde dem Staat
Israel ebenso in die Wiege gelegt wie der palästinensischen
Gesellschaft: Die Jahrhunderte lange Geschichte des Antisemitismus und
vor allem die Erfahrung der deutschen Vernichtungspolitik stand 1948
Pate bei der Geburt Israels als Ort des Schutzes und der Sicherheit für
die Juden in aller Welt. Einen Holocaust sollte es nie wieder geben.
Israels Staatsgründung zog im Krieg von 1948 allerdings
Flucht und Vertreibung der Palästinenser nach sich. Diese Katastrophe
steht am Beginn ihrer Geschichte - eine Erfahrung, die sich im Krieg von
1967 wiederholte. Zwar sind die historischen Leiden von Juden und
Palästinensern nicht zu vergleichen, sie stehen auch nicht in direktem
kausalen Zusammenhang, für beide Seiten gilt aber, dass sie bis heute
den Kern ihres gesellschaftlichen Selbstverständnisses bilden.
Und dieses Selbstverständnis macht es Israelis und Palästinensern
seit jeher so schwer, sich auch als Täter zu begreifen sowie die Opfer
der anderen Seite und deren durch die Opfergeschichte geprägtes
kollektives Gedächtnis anzuerkennen. So wird der Holocaust in der
arabischen Welt weitgehend ignoriert. Vor ein paar Jahren etwa erlebte
der französische Holocaust-Leugner Roger Garaudy in einigen arabischen
Ländern einen wahren Triumphzug. Schindlers Liste dagegen
durfte in vielen Staaten nicht gezeigt werden. Dissidente Stimmen wie
die der beiden palästinensischen Intellektuellen Edward Said oder Azmi
Bishara sind in diesem Zusammenhang selten zu hören. Im Gegenteil: Die
Anerkennung Israels besitzt für viele Palästinenser bis heute eher
formalen Charakter. Immer lauter dagegen ertönen die alten Drohungen,
den jüdischen Staat vernichten zu wollen. Israel hat also allen Grund,
besorgt zu sein.
Israel hat aber auch allen Grund, neben seiner
kolonialistischen Besatzungspolitik den eigenen Gründungsmythos zu
überdenken. Anzuerkennen wäre etwa endlich, dass 1948 tatsächlich
hunderttausende Palästinenser vertrieben worden sind. Bis vor wenigen
Jahren galt die Version, dass die arabische Bevölkerung ihre Heimat
freiwillig verlassen habe. Die Revision dieser Geschichtsbetrachtung war
in Israel dann mit der von den »Neuen Historikern« dokumentierten
Vertreibungspolitik einen großen Schritt voran gekommen. Von diesem
offeneren Klima ist heute nur noch wenig zu spüren.
Vielmehr
blendet man in Israel die Geschichte und - wie der israelische
Historiker Moshe Zimmermann schreibt - die Interessen der Palästinenser
vollständig aus. Jüngsten Meinungsumfragen zufolge befürworten sechs von
sieben Israelis die international verurteilte Liquidierungspolitik,
Regierungsmitglieder sprechen über die Vertreibung der Palästinenser aus
den besetzten Gebieten und Ministerpräsident Ariel Sharon droht
Konkurrenz nicht von Kritikern seines kompromisslosen Kurses, sondern
ausschließlich von Hardlinern aus der eigenen Partei wie dem Ex-Premier
Benjamin Netanjahu. Gleiches gilt für Politik und Gesellschaft auf der
palästinensischen Seite. Hier kann sich Yassir Arafat nur noch Gehör
verschaffen, wenn er auf palästinensische Terrorgruppen zugeht, die
Israel auslöschen wollen. Zuletzt war - wie in Israel - eine
Einheitsregierung im Gespräch.
In diesem Moment absoluter
Verhärtung verlegen sich beide Seiten darauf, den Finger auf die offenen
historischen Wunden des anderen zu legen - in der so zynischen wie
aussichtslosen Hoffnung, dieser möge irgendwann doch noch klein
beigeben: Israel demonstriert seine militärische Stärke und reproduziert
damit Tag für Tag das Ohnmachtstrauma der Palästinenser. Dem begegnen
diese, indem radikale Gruppen den Terror in die israelischen Städte
tragen und dort immer wieder das latente kollektive Gefühl von Bedrohung
und Verletzlichkeit aktivieren, dem zu begegnen der Staat Israel doch
einmal angetreten war.
Wer in dieser Situation Verständnis für
die andere Seite zeigt, gilt als Schwächling, wenn nicht gar als
Nestbeschmutzer. Kaum jemand lässt sich darauf ein. Das gilt für
israelische und mehr noch für palästinensische Intellektuelle. Erst
recht aber für die Politiker: Wer hier nicht die alten Geschichten
erzählt, wer gar auf die Idee käme, die Opfer der anderen Seite zu
bedenken, verlöre wohl binnen kürzestem alle Macht. Das trifft auf die
demokratische Gesellschaft in Israel ebenso zu wie für die
autokratisch-patriarchale in Palästina - und doch ist es der einzige Weg
zu einem Frieden, der diesen Namen verdient.
Again and again:
freitag / 24.08.2002
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06-02-2003 |