MEMRI Special Dispatch - 29.
Juni 2004
Palästinensische
Flüchtlinge:
Integration statt Rückkehr
Über 3,5 Millionen Palästinenser gelten heute als Flüchtlinge, von
denen die meisten in den palästinensischen Gebieten oder den arabischen
Nachbarländern leben. Ihr zukünftiger Status stellt eine der zentralen
noch offenen Fragen im Friedensprozess dar. Die Anerkennung des
prinzipiellen Rechts auf Rückkehr und die tatsächliche Rückkehr eines
großen Teils der Flüchtlinge ins heutige Israel ist eine der zentralen
palästinensischen Forderungen. Nur ganz wenige palästinensische
Politiker wie Sari Nusseibeh haben öffentlich die Rückkehr der
Flüchtlinge infrage gestellt.
Auch der folgende Artikel spricht sich nicht gegen das Rückkehrrecht aus,
fordert aber insbesondere Libanon und Syrien auf, die in den beiden
Ländern lebenden palästinensischen Flüchtlinge zu integrieren. Als ein
gelungenes Beispiel für die Integration führt der Autor, Ata'ullah
Mansur, Deutschlands Flüchtlingspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg an.
Der Text erschien in der arabischen, in Jerusalem herausgegebenen
Tageszeitung Al-Quds am 25. Juni 2004:
"Die Flüchtlinge -
positive Impulse für die Aufnahmeländer"
"Äußerungen von Präsident Yassir Arafat gegenüber Redakteuren der
[israelischen] Zeitung Ha’aretz haben eine hitzige Debatte entfacht. Das
betrifft insbesondere jene Erörterungen, mit denen Präsident Arafat
verdeutlichen wollte, dass er versteht, wenn die Juden in Israel sich
Sorgen über die palästinensische Haltung machen, auf dem Rückkehrrecht
der Flüchtlinge zu beharren. [Arafat versicherte], dass er um die Angst
der Juden vor einer demographischen [Durchdringung] und dem Verlust des
jüdischen Charakters von Israel wisse, wenn der Anteil arabischer Bürger
in Israel steigen würde. [1]
Nun kann der neutrale Beobachter durchaus verstehen, dass die Flüchtlinge
auf ihrem Recht auf Rückkehr zu ihren Häusern und ihrem Eigentum
bestehen, obwohl der Blick auf die Geschichte einer Vielzahl von Staaten
im vergangenen Jahrhundert es kaum erlaubt, auf eine gemeinsame
internationale Anerkennung dieses natürlichen Rechts zu vertrauen. […]
Meine Aufmerksamkeit richtet sich [daher] besonders auf diejenigen
[Positionen in der Debatte], die das übliche Beharren auf den
natürlichen Rechten der [palästinensischen] Flüchtlinge infrage stellen.
So meinte einer von ihnen, dass Präsident Arafat das Rückkehrrecht [nur]
für eine bestimmte kleine Gruppe von Flüchtlingen fordere, die im
Libanon leben, wo sie stärker unter Repression und Diskriminierung
litten als ihre Brüder in den übrigen arabischen Staaten. Der Vertreter
dieser Ansicht fügte hinzu, dass die Rückkehr der Flüchtlinge aus dem
Libanon die Regierungen Syriens und Jordaniens dazu veranlassen werde,
die [Rechte der bei ihnen lebenden] Palästinenser noch stärker zu
beschränken, um auf diese Weise eine Rechtfertigung dafür zu schaffen,
sie loszuwerden!
Als ich diese Äußerungen hörte, begann ich nach jemandem zu suchen, der
sie wie ich missbilligte und ihnen [etwas] entgegen zu setzen hatte.
Doch ohne Erfolg. Das macht deutlich, wie Syrien und Jordanien und die
‚übrigen Aufnahmeländer(!)’ allein darauf aus sind, die Flüchtlinge
loszuwerden. Und wohl um ihnen zu ihrem Recht ‚zu verhelfen’ und ihre
Forderungen nach Rückkehr zu verwirklichen, greifen sie auf das Mittel
zurück, sie unter Druck zu setzen!
Zum Beispiel begründet der Libanon - also der arabische Staat, der am
stärksten von der Anwesenheit der Palästinenser betroffen ist - seine
ungerechte Politik [gegenüber den Flüchtlingen] damit, dass sie doch nur
dem Schutz ihrer nationalen Rechte diene. Dies, obwohl der Libanon immer
noch darauf hofft, wieder ein Tourismus-Land zu werden, in dem Ausländer
freundlich empfangen werden und obwohl das Land vom palästinensischen
Potential an billigen Arbeitskräften und der internationalen Hilfe
profitiert, die ein [wichtiger] ökonomischer Faktor ist und einen Markt
für den Absatz libanesischer Produkte eröffnet. Trotz alledem bestehen
die Regierungen Libanons seit 56 Jahren darauf, die Palästinenser aus
vielen Feldern und Branchen der libanesischen Wirtschaft herauszuhalten.
Jordanien und 'nach ihm' Syrien waren Länder, die die Palästinenser mit
offenen Armen empfingen. Trotz des blutigen Zusammenstoßes im Juli 1970
kann man das jordanisch-palästinensische Zusammenleben in den Grenzen
des jordanisch-haschemitischen Königreiches als erfolgreiches Experiment
ansehen, das allen diente. Ich glaube nicht, dass sich heute auch nur
ein vernünftiger Jordanier Amman ohne die Palästinenser vorstellen kann.
So wie auch die führenden Vertreter der jordanischen Industrie mit
palästinensischer Herkunft eindeutig bezeugen können, dass der
jordanische Gerichtshof heute eine vollwertige Instanz darstellt, die es
geschafft hat, regionalistische und separatistische Tendenzen zu
überwinden. Trotz der Armut Jordaniens an natürlichen Ressourcen war die
palästinensische Immigration im Großen und Ganzen ein Segen, der zur
Bereicherung des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und öffentlichen
Lebens in Jordanien […] beigetragen hat.
Zweifellos nützte die jordanische Politik zur Förderung der Einheit unter
den [Bevölkerungsgruppen] dem Land. Und auch der Libanon würde aus der
Anwesenheit der Palästinenser im Land größeren Nutzen ziehen, wenn er
dieselbe Politik verfolgte.
Das jordanische Experiment ist nicht das erste in der Geschichte der
Menschheit. Wer sich für Geschichte interessiert, weiß, dass
Deutschland, das im Zweiten Weltkrieg dutzende Millionen junger Menschen
und den 'Großteil seiner Industrie' verlor, es innerhalb weniger
Jahrzehnte dank Millionen angeworbener Arbeiter aus der Türkei und
'vielen Staaten Osteuropas, die unter dem Einfluss des sozialistischen
Lagers standen', schaffte, seine Gesellschaft und seine Wirtschaft
wieder aufzubauen.
Ich erinnere mich gut daran, wie ich im Sommer 1960 in Westberlin die
Quartiere der aus Ostdeutschland eintreffenden Arbeiter besuchte, wo sie
von der Bundesrepublik willkommen geheißen und dorthin gebracht wurden,
wo sie gebraucht wurden. Diese deutsche Praxis hatte nicht [etwa] zur
Folge, dass die Deutschen aus dem Osten ihre Rechtsansprüche verloren -
denn ich weiß, dass jeder Deutsche, der am Tag [seiner] Flucht in den
Westen Haus und Land zurückließ, diese nach 1990 und dem Fall der
Berliner Mauer, 'die 1961 errichtet worden war, um Fluchtaktionen in den
Westen zu verhindern', zurückbekam.
Mit anderen Worten: Die Deutschen flohen, ließen sich [woanders] nieder,
verloren dabei ihre Rechtsansprüche nicht und Westdeutschland
profitierte von ihren Ressourcen in der bestmöglichen Weise. Dagegen
sterben die Kinder des palästinensischen Volkes als Flüchtlinge in den
Flüchtlingslagern und werden von den [arabischen] Brüdern mit nichts als
Parolen versorgt. Die aber machen weder dick, noch stillen sie den
Hunger.
Der Libanon hat die Ressourcen sowie die Loyalität und Sympathie von
hunderttausenden palästinensischer Flüchtlinge im Land verspielt. Schon
Anfang der achtziger Jahre war ich im Libanon und konnte dort mit
eigenen Augen das Trauerspiel ansehen, während Jordanien im Rahmen
seiner begrenzten Möglichkeiten vom Humankapital der Palästinenser
profitierte. Nun [habe ich gut Reden], denn ich kann in meinem eigenen
Land leben. Ich habe daher nicht das moralische Recht, den Flüchtlingen
das Rückkehrrecht streitig zu machen. Ich erlaube mir allerdings, allen
arabischen und 'nicht-arabischen' Staaten zu erklären, dass die Aufnahme
von Unterdrückten nie aus Wohltätigkeit und Menschenfreundlichkeit
geschieht.
Vielmehr stützen sich etwa die Vereinigten Staaten – als größte und
stärkste Volkswirtschaft der Welt – um ihren Rang zu behaupten, in
erster Linie auf die Anlockung menschlicher Ressourcen. Und weil die USA
diesen Rang innehaben, können sie sich dabei [sogar] die am besten
ausbildeten jungen Menschen aussuchen. Doch letztlich stellt jeder
Einwanderer eine Produktivkraft dar - und ich denke nicht, dass gerade
die Kinder Palästinas in puncto Leistung und Tatkraft den besten Kindern
der [anderen] arabischen Völker nachstehen würden."
Anmerkung:
[1] In einem Gespräch mit der israelischen Zeitung Haaretz hatte Arafat am
vergangenen Freitag erklärt, dass es "klar und offenkundig" sei, dass
das palästinensische Flüchtlingsproblem so gelöst werden müsse, dass
Israel ein jüdischer Staat bleiben könne.
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