Magdi Allam, italienischer Journalist
ägyptischer Abstammung und moslemischen Glaubens, ursprünglich
Soziologe, ist als "Islam- und Nahostexperte" durch zahlreiche
Bücher und Auftritte in politischen Sendungen in Italien
mittlerweile zum Star-Journalisten avanciert und fällt durch
couragiert ausgewogener Berichterstattung und Kommentierung auf, die
auch Tabu-Themen nicht scheut. In der römischen Tageszeitung "La
repubblica" online schreibt er täglich eine Kolumne und beantwortet
die Fragen der Leser unter dem Titel "La vita degli altri", das
private Leben der Anderen. Am 11. Juni 2003 ist folgender von Karl
Pfeifer übersetzter Artikel erschienen
Von Magdi Allam
Amira war kaum 16 Jahre alt. Ihr Name bedeutet Prinzessin. Ein
wahrer Hohn wenn man an ihr Lebensende denkt.
Alles geschah binnen weniger Tage im Höllenkreis von Gaza. Es
begann in der Früh, als sie sich über Bauch- und Unterleibschmerzen
beschwerte. Es folgte die Visite im nahen Spital. Die Diagnose ließ
keinen Zweifel: Amira war im achten Monat schwanger. Die Mutter
glaubte es nicht und war verzweifelt. Wegen der Schande. Wegen der
Entehrung der ganzen Familie. Die Polizei verhörte Amira im Spital.
Es ist ein Skandal. Fast ein Vorzeichen der bevorstehenden
Katastrophe. Die wirkliche Tragödie entwickelt sich nachdem ihr
Geständnis bekannt wird. Geschwängert haben sie ihre zwei 19 und 21
jährigen Brüder. Eineinhalb Jahre zwangen sie ihre Schwester zum
Geschlechtsverkehr. Scheinbar ohne Kenntnis der Mutter und auch des
Vaters. Als dieser in Kenntnis gesetzt wurde, schwörte er die
Schande mit Blut abzuwaschen. Mit dem Blut von Amira.
So beschlossen die Behörden das Mädchen und ihren Embryo, den sie
trug zu beschützen. Sie wurde in einem Sozial-Zentrum beherbergt und
von der Polizei bewacht. Der Neugeborene kam physisch und geistig
deformiert zur Welt. Ein Unglück im Unglück, das das Leben von Amira
fürchterlich kompliziert. Ihre Familie verpflichtet sich
schriftlich, das Leben von Amira und des Neugeborenen zu schützen.
Die Mutter umarmt sie und bringt sie nachhause. Kaum angekommen,
erwürgt sie ihre Tochter mit ihren Händen. Dann ergreift sie den
Neugeborenen und schlägt ihn einige Mal. Dieser stirbt an
Blutverlust.
Die Soziologin Maha Abu Diah erklärte in der Wochenzeitung Al
Majalla: "Die Mutter blieb Geisel eines starken gesellschaftlichen
Drucks, der sie dazu brachte, ihre Tochter zu töten. Sie ist
zweifach gescheitert. Sie verhinderte nicht die Schändung ihrer
Tochter durch ihre eigenen Söhne und merkte nicht die
Schwangerschaft ihrer Tochter bis zum achten Monat. Für die gesamte
Gesellschaft ist sie die wirklich Verantwortliche." Eine
Verantwortung, die noch durch diesen Doppelmord verschärft wird. Man
nennt ihn "jerimat al-sharaf", Ehrendelikt. Die Soziologin stellt
fest: "Die männerchauvinistische und autoritäre Mentalität der
palästinensischen Gesellschaft führt dazu, die Frau auch dann, wenn
sie Opfer ist, schuldig zu sprechen. Zuerst tötet dich die
Gesellschaft, die dich diffamiert und diskriminiert. Dann zeigt sich
die physische Liquidierung als die endgültige, schnellste und
einfachste Lösung."
Im letzten Jahr gab es wenigstens 31 Fälle von Frauen, die dem
"Ehrendelikt" zum Opfer gefallen sind. Mädchen, die von ihrem
eigenen Vater getötet wurden, wie Suraya. Oder von einem
enttäuschten Cousin, der das Mädchen nicht heiraten konnte, wie im
Fall Radwan. Im Kontext der Misere und der Hoffnungslosigkeit sind
die Frauen, die Opfer einer Schändung wurden, die am wenigsten
verteidigten, die schwächsten. Sie sind die unglücklichsten in einer
Gesellschaft, die zu lange den Kult des Hasses und der Gewalt
kultiviert hat.