MEMRI
Special Dispatch –
16. Juli 2004
Übersetzungen und Analysen: Länder: Palästinensische Autonomiegebiete:
Angriff auf Arafat wegen seiner Bereitschaft zu Zugeständnissen
Am 25. Juni führten zwei Journalisten der israelischen Zeitung Haaretz
ein Interview mit dem PA-Präsidenten Yassir Arafat in dessen
Hauptquartier in Ramallah. Gegenüber der israelischen Öffentlichkeit
betont Arafat darin die laufende Zusammenarbeit mit Israel in
Sicherheitsfragen, die Bereitschaft den "jüdischen Charakter" Israels
anzuerkennen und weitgehendes Entgegenkommen in der Frage des
Rückkehrrechts für Flüchtlinge (s.
www.haaretz.com).
Dieses Interview sorgte für großes Aufsehen und eine Woche später erschien
ein Beitrag in der arabisch-nationalistisch geprägten Zeitung Al-Quds
al-Arabi, in dem Arafat scharf angegriffen wird. Der in den USA lebende
palästinensische Autor Awni Farsakh wirft Arafat u.a. vor, eigenmächtig
die Kernpunkte des palästinensischen und arabischen Nationalismus sowie
des islamischen Erbes aufzugeben. Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge
aus dem Artikel, der am 1. Juli 2004 erschien:
"Was lässt Arafat noch übrig vom Erbe der Fatah und den Fundamenten der
Nation?"
"Das Interview, das die beiden israelischen Journalisten David Landau und
Akiva Eldar von der Zeitung Haaretz am 15. Juni im belagerten
Hauptquartier in Ramallah mit Präsident Arafat führten, löste unter
zahlreichen arabischen Intellektuellen, Aktivisten der palästinensischen
Nationalbewegung und in den Führungen der meisten Widerstandsgruppen
Missbilligung und Vorbehalte aus. Ich möchte mich [im Folgenden]
zunächst auf das konzentrieren, […] was der Präsident der
palästinensischen Autonomiebehörde meinte, als er vom ‚Jüdisch-Sein' des
Staates Israel sprach. Eine solche Bemerkung hat, gerade wenn sie vom
Präsidenten der palästinensischen Befreiungsorganisation geäußert wird,
eine immense Bedeutung und katastrophale Folgen für die Rechte von mehr
als fünf Millionen arabischer Palästinenser, die in den seit 1948
besetzten Gebieten oder im Exil leben. Aber dieses Interview bedeutet
nicht nur eine Absage an legitime nationale arabische Ansprüche. Es
widerspricht zudem den Realitäten des Konfliktes und der Natur der
zionistisch-imperialistischen Siedlergemeinschaft im vom Jordan bis zum
Meer besetzten Palästina.
Zum einen ist es gefährlich, wenn der [palästinensische] Präsident
Verständnis dafür zeigt, dass die Zionisten, gestützt von der
US-Regierung, den jüdischen Charakter des Staates Israels propagieren.
Darüber hinaus bekräftigt eine solche Erklärung aber auch noch jene
Lügen und Irrtümer, auf denen diese Behauptung gründet. Israel ist heute
nach eigenen offiziellen Statistiken ein binationaler Staat, in dem die
arabische Bevölkerung 18-20% Prozent ausmacht. Sie sind es, die die
natürlichen und historischen Rechte an dem Land besitzen, welches sie
bearbeiten. Israel ist in Wirklichkeit ein rassistischer Staat, dessen
prägendes Merkmal es ist, nicht demokratisch zu sein. Er ist kein Staat
für all seine Bürger. Die Gesetze machen Unterschiede zwischen den
Bürgern und der Staat verhält sich nicht allein gegenüber den Arabern
rassistisch, sondern gegenüber allen, die nicht zu den askhenasischen
Juden gehören.
[Wie kann Arafat Verständnis für den jüdischen Charakter Israels
aufbringen?]
Aber das Verständnis, das Präsident Arafat für den jüdischen Charakter
[das ‚Jüdisch-Sein'] des Staates Israels geäußert hat, ist auch sachlich
unhaltbar und verkürzt die historische Wirklichkeit. In der arabischen
Übersetzung des Interviews [...] stand Folgendes: ‚Die Palästinenser
haben dies [die jüdische Identität Israels] 1988 öffentlich und in
offizieller Form in unserem Nationalrat anerkannt'. Das stimmt so nicht,
denn was der palästinensische Nationalrat 1988 in seiner Sitzung in
Algier anerkannte, war die Resolution 242 des Sicherheitsrates von 1967.
In dieser Resolution steht nichts über die jüdische Identität des
Staates Israel. Sie ist vielmehr eine Resolution, die allein den Rückzug
Israels hinter die Grenzen vom 4. Juni 1967 zum Gegenstand hat und es
dem Aggressor untersagt, seine [Gebiets]gewinne zu behalten.
Darüber hinaus billigte weder die Resolution 242 noch die Resolution 338
die israelische Besetzung von Territorium jenseits der in der
Teilungsresolution 181 [von 1947] festgelegten Grenzen. Beide
Resolutionen beschäftigten sich lediglich damit, wie mit den Folgen der
Aggression von 1967 umzugehen sei. Israel wird in den Resolutionen 242
und 338 des Sicherheitsrates immer noch als Besatzungsmacht in den
Gebieten beschrieben, die es außerhalb der im Teilungsplan von 1947
[festgelegten] Grenzen kontrolliert. Ein Beweis dafür ist [auch], dass
das 1948 besetzt West-Jerusalem von der internationalen Gemeinschaft
immer noch als besetztes Gebiet angesehen wird. […] Und da Israel
weiterhin als unrechtmäßiger Besetzer gilt, weigerten sich die Staaten -
auch die USA - ihre Botschaften nach Jerusalem zu verlegen. […]
Wenn Präsident Arafat sich die Geschichte der palästinensischen
Nationalbewegung vor Augen führen würde, wäre ihm klar, dass es einen
fortwährenden Konsens über die Ablehnung eines ‚jüdischen Staates' auf
jeglichem Stück palästinensischen Bodens gibt. Die Weigerung, diesen
Anspruch [auf einen ‚jüdischen Staat'] anzuerkennen, steht an der Spitze
der Grundsätze des palästinensischen und des arabischen Nationalismus
und der islamischen und christlichen Lehre. Dabei basiert diese
dreifache Ablehnung nicht auf einer religiösen Perspektive, sondern auf
einer nationalen und demokratischen Position. Seit den zwanziger Jahren
des letzten Jahrhunderts erklärt sich die palästinensische
Nationalbewegung mit der Errichtung eines demokratischen Staates
einverstanden, in dem die Juden volle Staatsbürgerrechte genießen
würden. Die britische Regierung und die zionistische Bewegung lehnten
das arabische Angebot immer wieder ab, da es im Widerspruch zur Idee
eines ‚jüdischen Staates' stand, die von der
imperialistisch-zionistische Allianz betrieben wurde."
[Wie kann Arafat das Rückkehrrecht von 4 Millionen und die Westmauer
abtreten?]
"Die israelischen Journalisten versuchten Präsident Arafat dazu zu
bewegen, die Grenzen von 1967 als legitim anzuerkennen, indem sie ihn
fragten: ‚Im derzeitigen Streit unter [israelischen] Geheimdienstleuten
gibt es einige, die meinen, Arafat könne die Erklärung von Algier aus
dem Jahr 1988 unterzeichnen, was die [Anerkennung der] Grenzen von 1967
einschließlich Ost-Jerusalems sowie eine sofortige Lösung der
Flüchtlingsfrage, bedeuten [würde].' Statt dieses Missverständnis über
den Beschluss des palästinensischen Nationalrates zu korrigieren,
antwortete Arafat: ‚Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns auf einen
Austausch von Gebieten gleicher Qualität und Quantität verständigt
haben.' [...] Eine solche Interpretation der Beschlüsse des
palästinensischen Nationalrats hat vor Präsident Arafat noch niemand
geäußert.
Und als ob die Haltung des Präsidenten die beiden [Journalisten] motiviert
hätte, fragte einer der beiden umgehend: ‚Wenn Ihr Freund und Partner im
‚Frieden der Mutigen', Yitzhak Rabin, zurückkommen könnte und sagen
würde: ‚Mein Freund, ich biete Dir das Genfer Abkommen an, d.h. 100%
[des Territoriums] nach dem Gebietstausch, dazu die Genfer Lösung des
Flüchtlingsproblems, der Frage Jerusalems und der Souveränität über den
Tempelberg….'. Könnten wir dann [zu einer Übereinkunft] gratulieren?'
Der Präsident erwiderte: ‚Wie sie wissen, habe ich ja meinen
Sondergesandten Manuel Hassassian [nach Genf] geschickt. [...] Kein
Zweifel, wir schätzen dieses Abkommen, das ja keine offizielle
Vereinbarung ist. Ich schickte Dr. Hassassian, um meine Rede zu halten.'
Damit bestätigte Präsident Arafat seine Zustimmung zum Gehalt des
‚Genfer Abkommens', das von verschiedenen Gruppen des palästinensischen
Widerstandes abgelehnt wird, [weil] es einer Aufgabe der legitimen
nationalen palästinensischen Rechte - nicht nur des Rechts der
Flüchtlinge auf Rückkehr und Entschädigung gleichkommt.
Auf die Frage nach einer Lösung [der Flüchtlingsfrage], die die Furcht der
Israelis vor einer Flüchtlingsflut zerstreuen könnte, verwies Arafat auf
Zeitungsausschnitte aus der Zeitung Haaretz, die er aufbewahrt habe.
Demnach seien 62% der Menschen, die aus der Sowjetunion nach Israel
gekommen seien, gar keine Juden, sondern zu 90 % Christen und 10 %
Muslime. Er selbst habe gegenüber Clinton erklärt: ‚Wenn sie [die
Israelis] diese 62% aufgenommen haben, warum geben sie uns nicht
dieselbe Möglichkeit, insbesondere jenen, die im Libanon unter sehr,
sehr schlechten Bedingungen leben?!' Auf die Nachfrage, ob er von allen
Flüchtlingen spreche, erwiderte er: ‚Nicht von allen, sondern von denen,
die immer noch in Flüchtlingslagern leben.' [...]
Es ist nicht zu leugnen, dass die Flüchtlinge im Libanon unter schlechten
Verhältnissen leben, und es ist Präsident Arafat zu danken, dass er
darauf hinwies. Aber ist es aus nationaler und menschlicher Sicht oder
auch aus rein sachlicher Sicht möglich, den Mantel des Schweigens über
die Rechte von vier Millionen palästinensischen Flüchtlingen
auszubreiten, um auf die schlechte Lage von weniger als 200.000 von
ihnen aufmerksam zu machen und eine Lösung für deren Probleme zu
fordern? Wie kann Präsident Arafat allein über das Rückkehrrecht
entscheiden, ohne die Experten in der Frage, nämlich die Flüchtlinge
selbst und ihre legitimen Erben? Hat der Herr Präsident vergessen, dass
das Rückkehrrecht ein individuelles Recht ist, dass niemand einfach so
aufgeben kann, nicht einmal der Präsident der PLO?!
[...] Nach Jerusalem, dem Tempelberg [Haram al-Sharif] und einer Lösung
gefragt, die es den Juden ermöglichen würde, am Tempelberg zu beten,
antwortete Präsident Arafat: ‚Es ist doch klar - und dem habe ich in
Camp David zugestimmt: Die Westmauer, das jüdische Viertel sowie ein
freier Passierweg werden unter Eurer Souveränität stehen.' Es ist
auffallend, dass der Präsident hier die Buraq-Mauer als Westmauer
bezeichnet, wie es sonst in der europäischen und zionistischen Literatur
verbreitet ist. Weder die palästinensische Nationalbewegung noch
irgendein arabischer Intellektueller haben diesen Begriff je benutzt,
weil er vernachlässigt, dass Al-Buraq ein [islamisches] Heiligtum ist.
Die Frage ist: Wie kann es sich Präsident Arafat erlauben, dieses
Heiligtum aufzugeben? Es ist ein islamisches Waqf [Teil des islamischen
Erbes]. Der britische High Court hatte den Muslimen im Jahr 1930 den
Besitz an der Mauer und der Fläche vor ihr zugesprochen! Lassen es die
Geistlichen Palästinas und die Rechtsgelehrten der Nation [Umma] zu,
dass das Recht auf die Mauer aufgegeben wird, an die der Prophet in der
Nacht der Himmelfahrt [Ezra und Mi´raj] sein Pferd [Buraq] band?"
[Wie kann Arafat mit den Israelis zusammen gegen den ‚Terrorismus'
arbeiten?]
"Auf die Frage, ob er mit dem aktuellen Abzugsplan Sharons zufrieden und
im Fall des israelischen Rückzugs bereit sei, die Kontrolle in Gaza zu
übernehmen - selbst wenn er dabei die Einheit seines Lagers riskieren
und die Hamas bekämpfen müsste, antwortete Arafat kurz und deutlich:
‚Ich würde sogar gegen jeden aus der Fatah vorgehen, der gegen das
Gesetz verstößt. Ich könnte nicht schweigen, dass wissen Sie. Ich halte
[org. respektiere] mein Wort.'
Die zentrale Frage hier lautet aber nun: Wo bleibt da der Respekt
gegenüber dem Recht des arabischen Volkes, dessen Land besetzt und das
seiner Rechte auf Widerstand gegen seinen Feind, Besatzer und
Unterdrücker beraubt ist? Dieses Recht steht ihm nach internationalem
Recht zu und gestattet ihm, dem Besatzer mit allen möglichen Mitteln,
auch mit bewaffnetem Widerstand, entgegen zu treten. Was muss aus Sicht
des Präsidenten der PLO respektiert werden: das internationale Gesetz,
das den Widerstand erlaubt, oder das Gesetz einer Autonomiebehörde, die
der Sicherheit des Feindes verpflichtet ist, obwohl dieser ihr
Territorium besetzt, ihre Bevölkerung vertreibt und ihre Bürger,
Institutionen und Symbole mit Staatsterror überzieht?!!
Auf die Frage nach seinen Bemühungen […] um die Sicherheit in Gaza nach
dem Rückzug der Israelis [...] nannte Arafat [unter anderem] Details
einer Reihe von Fällen, in denen die Sicherheitskräfte [der PA]
‚terroristische' Angriffe auf Israel verhindert hätten. […] Er erwähnte
sogar einen Fall, in dem eine 17jährige Beduinin gestoppt worden wäre,
die plante, sich in Israel in die Luft zu sprengen. Er habe seine
Polizisten losgeschickt, nachdem er mit den Israelis gesprochen habe, um
es denen zu erlauben, sie festzunehmen. Und er hat mit den Führern der
Beduinen gesprochen und von ihnen gefordert, ihm die Frau auszuliefern.
Der Bericht seiner Sicherheitskräfte schloss mit den Worten: ‚Um fünf
Uhr brachten sie sie uns und wir haben sie fortgeschafft. Das geschah
unter vollständiger Kontrolle durch die israelischen Sicherheitskräfte.'
Arafat fügte hinzu, dass Israel über alle Bemühungen der
Autonomiebehörde im Kampf gegen den ‚Terrorismus' informiert sei, es
aber wohl so sei, dass Israel diese Informationen nicht an die
Öffentlichkeit geben wolle!!!
Ich weiß nicht wie der Präsident den Widerstand gegen den Feind als
Terrorismus bezichtigen und stolz darauf sein kann, dass seine Behörde
eine Frau, deren Volk sie ihm anvertraut hatte, an ihren nationalen
Feind ausliefert? Wie wird die Geschichte über diesen Apparat urteilen,
auf den Präsident Arafat so stolz ist […]?
[…] Nach all dem bleibt die Frage, was denn Präsident Arafat überhaupt
noch vom Erbe der Fatah-Bewegung und den nationalen, pan-arabischen und
islamischen Grundsätzen übriglässt?!! Die Beantwortung dieser Frage
liegt in den Händen der nationalen und islamischen Kräfte und den
Gruppen des Widerstands. Die Entschlossenheit der jungen Männer und
Frauen dieser Kräfte blieb unbeeindruckt von den Verlockungen der Macht.
Die Gefängnisse des zionistischen Feindes konnten ihren Willen nicht
brechen und die Ermordungsoperationen und Verhaftungen ihre Aktivitäten
nicht verhindern. Sie sind wie Leuchttürme, die die Bereitschaft des
standhaften Volkes zum Opfer und das Festhalten an den nationalen
palästinensischen sowie den arabischen und islamischen Grundsätzen
bekunden. Darin liegt ein Trost für diejenigen, die vom Interview des
Präsidenten Arafats mit der zionistischen Zeitung Haaretz heimgesucht
wurden."
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Siehe auch:
Arafat hat in einem Interview mit der israelischen Tageszeitung
"Haaretz"
seine Anerkennung des jüdischen Charakters des Staates Israels bekräftigt.
Wie in einem früheren
Leitartikel in der NYT
betonte er erneut, dass das palästinensische Flüchtlingsproblem nur unter
Wahrung der demografischen Interessen Israels lösbar sei.
hagalil.com
16-07-04 |