Bürgermeister von Nablus ruft Arafat auf, das Chaos zu
beenden:
Heftige Bandenkriege fordern zehn Tote
Nachrichtenartikel von Arnon Regular, Ha'aretz,
07.12.2003
Übersetzung Daniela Marcus
Die Ermordung des Bruders von Nablus'
Bürgermeister Assan A-Shaqa vor zehn Tagen war der Höhepunkt eines
heftigen Bandenkrieges, der dieses Jahr bisher zehn Tote gefordert
hat. Unter den Toten waren auch Frauen und Kinder, die in das
Kreuzfeuer der palästinensischen Militanten geraten waren.
"Der Fortgang dieser qualvollen und bedrohlichen
Situation und die Hilflosigkeit der palästinensischen Behörden, die
für die Umsetzung der Gesetze verantwortlich sind, werden uns zu
unserem großen Bedauern zwingen, Teil des Chaos zu werden und das
Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen, um die korrupten Leute in
dieser Stadt zu bestrafen", schrieb A-Shaqa letzte Woche an den
Vorsitzenden der palästinensischen Autonomiebehörde, Yassir Arafat.
Der Brief wurde in allen palästinensischen Zeitungen in Großanzeigen
veröffentlicht.
"Meine Familie und ich erwarten sofortige
souveräne Schritte, die den Respekt vor dem Gesetz wieder
herstellen. Die Fortdauer der jetzigen Situation wird das Leben
unmöglich machen", schrieb er.
Der Bürgermeister von Nablus ist einer der
einflussreichsten Männer in den Territorien. Er ist Mitglied der
Exekutive der PLO und ist an fast jedem politischen Schritt Arafats
beteiligt. Wenn er durch die Stadt geht, ist er von Dutzenden von
Leibwächtern umgeben. Und er wird als Vermittler, Geschäftsmann und
Sprecher von Nablus' Oligarchie der reichen Familien –A-Shaqa,
Almasri und Canaan- angesehen.
Es gibt mehrere mögliche Motive für den Mord an
Ahmad A-Shaqa. Doch die Leute in der Stadt sind sicher, dass das
Motiv vor allem in den Konflikten zu suchen ist, die unter den
militärischen Fatahgruppen aus Gründen der Machterhaltung herrschen.
A-Shaqa's Brief bezieht sich zum einen auf das Chaos in den
Territorien, das dem Konflikt mit der israelischen
Verteidigungsarmee folgte, aber auch auf die Welle an Kriminalität
und auf die persönliche Sicherheit.
Assan A-Shaqa ist die lauteste Stimme in den
Territorien, die nach der Demontierung der Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden
ruft. Die Brigaden sind eine Ansammlung von Gruppen, auch
krimineller, die aus dem militärischen Zweig der Fatah kommen.
Dutzende solcher Gruppen operieren in den Territorien. Mindestens
zehn von ihnen gibt es in Nablus. Manche werden von der Hisbollah
und Fatahführern im Libanon finanziert und geleitet. Diese Gruppen
waren das ungewisseste Element der vergangenen Hudna.
In den Gesprächen, die nun in Kairo stattfinden,
werden Hamas und der Islamische Dschihad als zentrale Elemente
gesehen, deren militärische Aktionen gestoppt werden müssen, damit
die Feuerpause umgesetzt werden kann. Doch der palästinensische
Premierminister Ahmed Qureia, der mit Hamas und Dschihad
zusammensitzt, wird zunächst die bewaffneten Fatahgruppen unter
Kontrolle bringen müssen. Deren Durcheinander an Interessen stellte
für Qureia's Vorgänger Abu Mazen (Mahmoud Abbas) ein unüberwindbares
Hindernis in der ersten Hudna dar.
In den Territorien wird Arafat als derjenige
betrachtet, der als einziger diese Gruppen kontrollieren kann.
Manche sind der Meinung, Arafat selbst hat das Chaos inszeniert, um,
wenn nötig, als derjenige herauszukommen, der als einziger Ordnung
schaffen kann. Doch die Kugeln, die Ahmad A-Shaqa töteten, waren
anscheinend für den Bürgermeister selbst bestimmt. Die Brüder sehen
sich sehr ähnlich und der Bürgermeister war eigentlich am Haus von
Said Canaan erwartet worden. Doch er war aufgehalten worden und
hatte seinen Bruder vorausgeschickt.
Der Mord weckt Zweifel darüber, ob Arafat die
Ereignisse in Nablus kontrollieren kann und will. Die Motive für
diesen Kampf beinhalten Geld aus dem Iran, Gelder von Arafat,
einflussreiche Positionen in der palästinensischen Autonomiebehörde,
Kassieren von Schutzgeldern, Raubüberfälle und den Kampf um die
Fördermittel aus arabischen Staaten.
Bezüglich eines jeden Themas ist die Position der
Fatah so unterschiedlich wie die Anzahl der Fatahgruppen, von denen
jede ihre eigenen Interessen hat. Öffentlich unterstützt Arafat
keine dieser Gruppen. Jedes Friedensabkommen aus Kairo wird von
wenigstens einer dieser Fatahgruppen abgelehnt werden.
Obwohl in diesem Jahr in der gesamten Westbank
Dutzende Menschen bei Schusswechseln unter Militanten ums Leben
kamen, ist der Bandenkrieg in Nablus der schlimmste. Er macht die
Stadt zum gefährlichsten Ort in den Territorien. Seit Juli wurden in
der Stadt drei Kinder und ein –unbeteiligter- Erwachsener getötet,
ebenso zwei rivalisierende Fatahaktivisten. Der Bruder des
Gouverneurs von Nablus wurde entführt und geschlagen. Auf den
örtlichen Polizeichef wurde geschossen. Nun ist er teilweise
gelähmt. Das Haus eines Führers der Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden wurde
angezündet. Dutzende anderer Vorfälle geschahen am hellichten Tag.
Die Situation in anderen Westbank-Städten ist
nicht besser. Diese Art, Rechnungen zu begleichen, ist unter
Fatahgruppen Routine. Ihre bevorzugte Entschuldigung lautet
normalerweise, dass sie Kollaborateure umbringen.
Außer den militanten Gruppen gibt es private
Armeen, die direkt von A-Shaqa und den Oberhäuptern anderer großer
Familien finanziert werden. Diese Machtkämpfe sind ein untrennbarer
Teil von Arafats Führungsstil. Er ermutigt die Oberhäupter, die
Gruppen besser zu beherrschen und zu manipulieren. Doch nach drei
Jahren Intifada haben sich die Territorien verändert. Der Umfang von
illegalen Waffen, die Intervention von außenstehenden Truppen und
das Machtvakuum haben ein Gebilde aus Interessenkonflikten innerhalb
der Fatah geschaffen, neben dem das Zähmen islamischer
Organisationen wie ein Kinderspiel erscheint.
A-Shaqa's Brief ist eine Zurschaustellung der
Macht. Doch zwischen den Zeilen seiner Warnungen an Arafat
reflektiert der Brief die Hilflosigkeit und die Angst einer der
mächtigsten Persönlichkeiten in den Territorien. In der
Vergangenheit hat A-Shaqa selbst an den Machtkämpfen teilgenommen
und nun fürchtet er um sein eigenes Leben und um das seiner
Familienangehörigen.
hagalil.com
07-12-2003 |