Pakistan:
Wo Blicke tödlich enden können
Anm.: Der Artikel wurde vor den Ereignissen in den USA
verfasst
SO genannte Küchenunfälle, bei denen Frauen zu
lebendigen Fackeln werden, sind in Pakistan keine Seltenheit. Das lehrt
ein Besuch in Islamabad bei Shanaz Bokhari, der Gründerin einer
Hilfsorganisation für Frauen, die Opfer von Gewalttaten wurden.(1) Die
Fotos von den Körpern verbrannter pakistanischer Frauen, die sie uns
zeigt, sind genauso grauenvoll wie die Bilder der jungen Inderinnen im
Krankenhaus von Bangalore. Aber in Pakistan geht es weder um
Mitgiftforderungen noch um Geld. Die brutalen Übergriffe sind vielmehr
"normaler" Bestandteil einer weit verbreiteten, alltäglichen Gewalt
gegen Frauen. Wie die Menschenrechtskommission in Pakistan schätzt,
haben mindestens 80 Prozent der Frauen des Landes darunter zu leiden.
In dieser islamischen Republik ist eine ganz besondere
Form von krimineller Gewalt gegen Frauen, bekannt als "Ehrenmord",
durchaus gängige Praxis. Bei dem Wort kommen einem sofort andere
Gesellschaften in den Sinn, in denen bis heute mildernde Umstände
gelten, wenn ein Mord im Zusammenhang mit Ehebruch oder Blutrache
steht.(2) Aber die außergewöhnliche Häufung der "Ehrenmorde" macht
Pakistan zum Sonderfall.
Der "Ehrenmord" ist eine präislamische Praxis, die
eigentlich jeder religiösen Grundlage entbehrt. Allerdings trägt der
zunehmende religiöse Fundamentalismus, dessen erste Opfer die Frauen
sind, erheblich zu seiner Verbreitung bei. Dabei handelt es sich um ein
komplexes soziokulturelles Phänomen, bei dem die Täter in aller Regel
straffrei bleiben. Es geht zurück auf einen archaischen Brauch, der in
den Stammesgesellschaften von Belutschistan und den Grenzprovinzen des
Nordwestens, aber auch in Punjab und Sindh unter der Bezeichnung
karo-kari (Ehebrecherin und Ehebrecher) tief verwurzelt ist.
In diesen streng patriarchalischen Gesellschaften werden
Ehefrauen, Töchter, Schwestern und Mütter beim leisesten Verdacht auf
sexuelle Eskapaden oder Ehebruch getötet. Ein Blick in Lokalzeitungen
aus Lahore, Peshawar und Islamabad vermittelt einen anschaulichen
Eindruck. Im Januar 2001 etwa haben zwei Brüder im Dorf Soom Mori einen
jungen Mann erschossen, dem sie verboten hatten, an ihrem Haus
vorbeizugehen und mit ihrer Schwester zu scherzen. Anschließend töteten
sie auch die Schwester. In Toba Tek Singh brachte ein junger Mann seine
Schwester um und erklärte der Polizei, dass er sie "unerlaubter
Beziehungen" (so lautet die übliche Bezeichnung) mit einem Mann aus dem
Dorf verdächtigte und sie "nicht auf seine Ermahnungen hören wollte".
In Mandi Bahudin lösten derartige Verdächtigungen bei
einem Büroangestellten einen wahrhaft "bestialischen Schub" aus: er
metzelte seine Frau und fünf der gemeinsamen Kinder mit dem Beil nieder.
Zwei weitere wurden schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Der
Täter "hatte Zweifel am Verhalten seiner Frau". In einem anderen Ort
wurden zwei Jugendliche beim Nacktbaden in einem Fluss überrascht. Ein
Dorfbewohner beschuldigte sie sexueller Beziehungen, es gab eingehende
Beratungen auf dem Dorfplatz - und dann wurden die beiden von ihren
Familien hingerichtet. In einem anderen Ort wurde eine junge Frau von
ihrem Bruder getötet, nachdem sie ihm anvertraut hatte, mit ihrem
Ehemann bereits vor ihrer Heirat sexuelle Beziehungen gehabt zu haben.
In all diesen Fällen bildet der Körper der Frau
sozusagen das Gefäß, in dem die Familienehre aufbewahrt ist. Indem sie
eine ehebrecherische Verbindung eingeht, stellt sie die soziale Ordnung
auf den Kopf. Denn natürlich kann der weibliche Körper im Prinzip
verkauft, gekauft oder eingetauscht werden, aber eben nur aufgrund der
Entscheidung eines Mannes. Sobald eine Frau aktiv - und sei es auch nur
gerüchteweise - gegen diese Regel verstößt, muss dies gesühnt werden -
unter Umständen auch mit dem Tod. Was die Beschuldigte selbst
vorzubringen hat, ist ohne Belang. Sobald unerlaubte sexuelle
Beziehungen oder auch nur ein Flirt unterstellt werden, handelt es sich
um eine nicht hinzunehmende Beleidigung für die Ehre der Familie,
insbesondere ihrer männlichen Mitglieder - und die fühlen sich damit zur
Selbstjustiz berechtigt.
"Ob eine Frau tatsächlich unerlaubte sexuelle
Beziehungen unterhalten hat oder dessen nur verdächtigt wird, spielt
keine Rolle. Der Mann wird durch die Wahrnehmung der anderen, durch
deren Verdacht auf Untreue, in seiner Ehre gekränkt. Die Frage der Ehre
hat mit der Wahrheit nichts zu tun", schreibt amnesty international in
einem seiner zahlreichen Berichte zu diesem Thema.(3) In diesem
Zusammenhang mag die folgende, häufig erzählte Geschichte kaum noch
verwundern: Ein Mann träumt, dass seine Frau, die ruhig schlafend neben
ihm liegt, ihn betrügt. Als er aufwacht, nimmt er ein Messer und
ersticht sie. In den meisten Fällen sind es die Brüder, der Ehemann oder
die Onkel, die die Exekution übernehmen, mal mit dem Beil auf dem
Dorfplatz, mal mit einem Revolver. Das ist von Region zu Region
verschieden, aber überall können die Mörder relativ leicht entkommen.
Das Ausmaß des Dramas ist schwer einzuschätzen. Shaheen
Sadar Ali, Vorsitzende der "Nationalen Kommission zum Status der Frau",
geht davon aus, dass im vergangenen Jahr täglich mindestens drei Frauen
Opfer von "Ehrenmorden" wurden. Rund 1 000 Fälle seien 1999 registriert
worden, aber in den Provinzen mit überwiegend indigener Bevölkerung
werden viele derartige Morde gar nicht erfasst. "Allein für die Provinz
Punjab meldet die Presse in Lahore täglich einen Fall. Vermutlich sind
das gerade einmal zehn Prozent der Gesamtzahl, die sich alljährlich auf
einige tausend Opfer im ganzen Land beläuft", schätzt Tanveer Jahan von
der Menschenrechtskommission in Pakistan. Die makabre Rechnung ist noch
komplizierter, weil diese Verbrechen nicht nur aufgrund von "sexuellem
Fehlverhalten" verübt werden. Auch die Weigerung, einer Zwangsehe
zuzustimmen, oder ein Antrag auf Scheidung kann eine tödliche Vergeltung
zur Folge haben. Der inzwischen berühmt gewordene Fall von Samiya Sarwar
ist dafür ein trauriges Beispiel.(4)
"Eine Frau hat nur dann ein Recht auf Leben, wenn sie
sich strikt an die gesellschaftlichen Normen und Traditionen hält",
stellt die Rechtsanwältin Hian Jilani fest. In vielen Fällen ist ihr
Platz in der Gesellschaft durch die sprichwörtliche Alternative Kor
ya Gor (Haus oder Tod) schonungslos beschrieben. "Eine Frau hat bei
uns nicht viel mehr Individualität als ein Möbelstück. Kürzlich hat eine
junge Frau es vorgezogen, sich aufzuhängen, statt sich gegen ihren
Willen verheiraten zu lassen. Das ist das einzige Recht, das diesen
unglücklichen Frauen keiner nehmen kann: Wenn sie mit dem Willen ihrer
Eltern nicht einverstanden sind, können sie sich erhängen - oder
abwarten, bis sie umgebracht werden", hieß es im letzten Jahr in einem
Leitartikel der Tageszeitung
Dawn.(5)
Auch The News weist auf die "verzweifelte
Situation der Frauen auf dem Lande" hin: "Diese Wesen ohne Stimme, die
ein primitives Leben führen müssen, werden schlechter behandelt als eine
Ware. Sie sind wie Haushaltsgegenstände, ihr Leben oder Tod hängt allein
vom Wohlwollen der männlichen Familienmitglieder ab."(6) Die
"Ehrenmänner" in Pakistan hingegen haben durchaus ein Recht auf Untreue,
und die meisten lassen sich das auch nicht nehmen, obwohl sie dadurch
ihre Partnerinnen in Lebensgefahr bringen.
IN diesem System gilt der
Mann als das Opfer, wenn seine Ehefrau, Schwester oder Tochter
beschuldigt wird. Die Gemeinschaft erwartet von ihm, dass er
Gerechtigkeit walten lässt. Dies nicht zu tun käme einem noch größeren
Ehrverlust gleich. Ein "Ehrenmord" gilt strafrechtlich nicht als
Verbrechen, sondern als angemessene Vergeltung. So sehen es auch viele
Pakistaner, die nicht in Stammesgesellschaften leben. Angesichts dessen
ist es schwer, dem Gesetz zur Geltung zu verhelfen, für das ein Mord -
Ehre hin oder her - ein Mord bleibt. Auch bei den offiziellen Stellen
herrscht allgemeine Nachsicht für die Schuldigen, wie Tanveer Jahan
konstatiert: "Polizei und Justiz akzeptieren implizit die Praxis des
Ehrenmordes und behandeln die Schuldigen ganz anders als sonstige
Kriminelle."
So kann etwa vor den islamischen Gerichten, die nach den
Gesetzen der Scharia urteilen, ein Angeklagter in der Regel mit
mildernden Umständen rechnen, falls als erwiesen gilt, dass seine Tat
auf "eine plötzliche und schwere Provokation" hin erfolgte. Ein
ursprünglich zu lebenslanger Haft verurteilter Mann, der seine Tochter
und einen jungen Mann getötet hat, nachdem er sie "in einer
kompromittierenden Situation" erwischt hatte, erreichte so beim Obersten
Gerichtshof in Lahore eine Strafverkürzung auf nur fünf Jahre Gefängnis.
Dem Gericht zufolge war seine Tat durch das Verhalten der Opfer
gerechtfertigt, das in einem islamischen Staat nicht zu dulden und für
einen Familienvater unerträglich sei.
In anderen Fällen wurden Mörder sogar freigesprochen.
Die Haltung mancher Justizvertreter verdeutlicht der Satz, den ein
Richter des Obersten Gerichtshofs von Lahore der Anwältin und Feministin
Asma Jahangir in einem Scheidungsprozess an den Kopf warf: "Sie gehören
eigentlich nicht hierher, Sie gehören ins Gefängnis."
Manchmal ergeht ein Urteil auch zugunsten der Frau. Aber
das führt häufig nur zu weiteren Feindseligkeiten, die teilweise sogar
in Gewalt ausarten. Wie Frau Jahangir berichtet, ist es schon
vorgekommen, dass Frauen niedergeschossen wurden, als sie den
Gerichtssaal verließen, in dem ihr Scheidungsverfahren verhandelt wurde.
Auch Richter haben gelegentlich schon ein Urteil mit dem Leben bezahlt -
weil jemand ihren Richterspruch für unvereinbar mit der Tradition oder
dem Islam erachtete.
"Trotz der Ernsthaftigkeit des Problems (...) hat die
Regierung bislang bestenfalls mit Gleichgültigkeit reagiert. In manchen
Fällen hat sie das Leid der Opfer noch verschlimmert und den Gang des
Verfahrens blockiert", schreibt Human Rights Watch.(7) Das
Militärregime, das die Justiz strikt kontrolliert, könnte in diesen
Verfahren als Nebenkläger auftreten, hält sich aber sehr zurück. Die
Statistiken sprechen Bände: In kaum 10 Prozent der Fälle von
"Ehrenmorden" und
karo-kari kommt es zu Festnahmen und Verurteilungen - das ist fast
schon eine Anstiftung zum Mord.
Die Regierung von General Pervez Musharaf hat zwar ein
paar Absichtserklärungen abgegeben, doch dabei ist es dann auch
geblieben. "Wenn sich etwas ändern soll, muss die Regierung erhebliche
und kontinuierliche Anstrengungen unternehmen. Man müsste gegen das
Gewohnheitsrecht vorgehen, die Bildung fördern, kurz, einen Wandel der
ganzen Gesellschaft herbeiführen. Aber dazu fehlt der politische Wille",
merkt ein Diplomat an. Am Willen zur Veränderung mangelt es umso mehr,
als regierungsnahe islamistische Kreise die Förderung von Frauenrechten
als Schande betrachten. Einige von ihnen fordern sogar eine Reform des
islamischen Familienrechts von 1961, das der Frau einige Grundrechte
zugesteht.
Es ist nicht damit zu rechnen, dass die Regierung in
irgendeiner Weise gegen die "Ehrenmorde" vorgeht, erklärte kürzlich
Shala Zia, Rechtsanwältin und Mitglied der Nationalen Kommission für den
Status der Frau. Und sie fügte hinzu: "Die religiöse Front ist zu
mächtig."
Der seit rund zwanzig Jahren zunehmende Einfluss des
islamischen Fundamentalismus und die Ausbreitung der Scharia (auch als
Talibanisierung Pakistans bezeichnet) haben tief greifende Auswirkungen
auf das Schicksal der Frauen. Die Verordnungen von 1979, die Ehebruch
und Unzucht zu Verbrechen erklärten und unter Todesstrafe stellten,
haben nicht nur strafrechtliche Delikte zu religiösen Verbrechen
gemacht, sondern auch üblen Stammestraditionen Vorschub geleistet und
die in Pakistan weit verbreitete Vergewaltigung praktisch straffrei
gestellt - denn seither liegt die Beweislast beim Opfer.
Eine Reihe von Verordnungen, Gesetzen und Dekreten sorgt
dafür, dass die Diskriminierung der Frauen fortbesteht. Das verstößt
sowohl gegen die pakistanische Verfassung als auch gegen internationales
Recht, wie etwa gegen die Konvention der Vereinten Nationen über die
Abschaffung der Diskriminierung von Frauen, die Pakistan im März 1996
unterzeichnet hat. Wer auch immer es wagt, sich für die Einhaltung
dieser Vorschriften stark zu machen - Vereinigungen, humanitäre
Organisationen, die Presse oder einzelne Rechtsanwälte -, wird nicht
selten mit brutalen Hetzkampagnen bestraft.
Nach allgemeinen Einschätzungen sind "Ehrenmorde" und
karo-kari nach wie vor weit verbreitet. Da die Täter oft straffrei
ausgehen, werden diese Motive immer häufiger vorgeschoben, um damit
andere Verbrechen zu verschleiern. Sirkhat Gah, die feministische
Organisation von Lahore, zitierte kürzlich den Fall eines Dorfbewohners,
der einen anderen im Streit getötet hatte und dem eine hohe
Gefängnisstrafe drohte. Um sich dieser zu entziehen, riet ihm sein
Vater: "Bring einfach deine Schwägerin um, und wir behaupten dann, dass
sie mit dem Toten eine ehebrecherische Beziehung hatte."
"Wenn Pakistan zur Gemeinschaft der zivilisierten
Staaten gehören will, muss es mit dem Fluch des karo-kari ein
Ende haben", hieß es kürzlich in der Tageszeitung Dawn.(8) Aber
damit ist so bald nicht zu rechnen. Asma Jahangir zieht ein bitteres
Fazit: "Pakistan ist ein Land, das noch nicht eingesehen hat, dass man
die Menschenrechte achten muss" - von den Rechten der Frauen ganz zu
schweigen.
R.-P. P.
Fußnoten:
(1) Shelmaz Bokhari ist Vorsitzende der Vereinigung
fortschrittlicher Frauen in Pakistan (The Pakistan Progressive Women
Association). In den drei großen Krankenhäusern von Islamabad und
Rawalpindi hat sie seit 1994 über 4 000 Fälle dieser Art erfasst.
(2) "Ehrenmorde" gibt es heute noch, wenn auch viel weniger verbreitet, in
einigen Ländern des Nahen Ostens, so in Jordanien, Palästina und im
Jemen, wo jährlich mehrere dutzend Fälle registriert werden.
(3) "No Progress on Womens Rights", Pakistan, September 1998.
(4) Die 19-jährige Frau war am 6. April 1999 unter den Augen (und mit
Komplizenschaft) ihrer Mutter erschossen worden, weil sie die
Familienehre verletzt hatte: Sie hatte die Scheidung eingereicht.
(5) Karachi, 3. Januar 2001.
(6) Lahore, 6. Februar 1999.
(7) Human Rights Watch, "Crime ou coutume, la violence à lencontre des
femmes au Pakistan", New York, London, Brüssel, August 1999.
(8) Aziz Malik, "Fighting karo-kari with education", Dawn, 3.
Januar 2001.
Le Monde diplomatique Nr. 6471 vom 15.6.2001, Seite
18-19, 347 Zeilen, Dokumentation R.-P. P.
haGalil onLine
28-09-2001 |