MEMRI Special Dispatch – 8.
April 2004
Initiativen für einen Neuen
Mittleren Osten:
"Wo steht der Libanon ?"
Die Auseinandersetzung um
Reformen im Mittleren Osten prägt seit Monaten die arabische Presse.
Dabei werfen auch liberale Stimmen der US-Initiative vor, den arabischen
Gesellschaften die notwendigen Veränderungen aufzwingen zu wollen und
das Palästinaproblem nicht genügend zu berücksichtigen.
Vor diesem Hintergrund stellt
der Herausgeber der renommierten, liberalen libanesischen Tageszeitung
Al-Nahar, Gibran Tueini, in einem Leitartikel die These auf, dass sich
der US-Plan und die europäische (deutsch-französische) Initiative
ergänzen könnten. Sein Beitrag erschien in Al-Nahar am 18. März 2004:
Wo steht der Libanon im
Neuen Mittleren Osten?
Vor einem Jahr begann der militärische Krieg gegen das Regime Saddam
Husseins. Vorausgegangen waren ihm bereits Äußerungen über einen Neuen
Mittleren Osten – die politischen Botschaften erfolgten parallel zu den
militärischen Auseinandersetzungen auf irakischem Boden. Die USA
versuchten eine Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik zu etablieren, indem sie
politischen Botschaften durch militärische Operationen Nachdruck
verliehen.
Nach dem Sturz des irakischen Regimes sendeten die Amerikaner weiterhin
politische Botschaften an verschiedene Akteure im Nahen Osten –
insbesondere an Syrien und den Iran. All diese Botschaften liefen stets
auf das Projekt des 'Neuen Mittleren Ostens' hinaus, das darauf zielt,
die totalitären Regime abzulösen und eine demokratische Kultur sowie
eine stärkere Rolle der Zivilgesellschaft zu etablieren.
Washington betrachtete den Krieg gegen Saddam Husseins Regime als ersten,
grundlegenden und unvermeidlichen Schritt auf dem Weg zur Veränderung
des Mittleren Ostens. Schließlich galt das vormalige irakische Regime,
dessen Willkürherrschaft am hartnäckigsten war, als Haupthindernis für
das amerikanische Projekt. Also war die US-Administration der Ansicht,
dass dessen Sturz den Weg zur Veränderung öffnen und einen Präzedenzfall
darstellen würde: das erste mit Gewalt gestürzte totalitäre Regime in
der Region. Dies sollte den verschiedenen Strömungen und Parteien die
Gelegenheit geben, sich zu befreien und [selbst] über Schicksal und
Zukunft ihres Landes entscheiden zu können.
Und so geschah es. Der Sturz der Baath-Partei kam einem Erdbeben gleich
und war eine eindeutige Botschaft an alle Regime der Region – vom
Atlantik bis zum Golf. Außerdem machte er die USA zum direkten Akteur in
diesem Teil der Erde.
Um so schnell wie möglich Nutzen aus dem Fall des Regimes von Saddam
Hussein ziehen zu können, musste Amerika nun das Vertrauen der
arabischen Nationen gewinnen. Dies wurde mit der Roadmap versucht,
welche die palästinensisch-israelischen Verhandlungen in Gang bringen
und eine gerechte und umfassende Lösung in der Palästinafrage anstreben
sollte. Mit einer erfolgreichen Roadmap, hätten die Vereinigten Staaten
ihr Image in der arabischen Welt verändern können, wo sie zu recht als
unbeirrbarer Verbündeter Israels gelten!
Die Roadmap scheiterte indes schnell an den Aktivitäten der [in ihrem
Einfluss] beeinträchtigten radikalen fundamentalistischen Strömungen in
Israel wie auch in Palästina. Wie üblich stimmten die palästinensischen
Radikalen mit den israelischen Radikalen unter dem gemeinsamen Motto
überein: 'Nein zu jeder friedlichen und umfassenden Lösung, welche den
Einfluss der Extremisten und Fundamentalisten schmälert!'
Angesichts dieser fundamentalen Krise, die bei den arabischen Nationen
erneut den Vertrauensverlust gegenüber Amerika verstärkte und angesichts
der Zunahme militärischer Operationen im Irak, kam Washington zu der
Ansicht, dass einige arabische Staaten entscheidend zum Scheitern der
Roadmap beigetragen hätten. Gemeint waren damit Syrien, Iran und Libanon
insbesondere in Bezug [auf ihr Verhältnis zur] Hizbullah und den
palästinensischen [Anti-Oslo-]Fraktionen. Washington wandte sich also
wieder der Strategie stetig ausgesandter politischer Botschaften zu -
überzeugt davon, dass 'das Projekt eines Neuen Mittleren Ostens nur
durchgeführt werden kann, wenn diese Staaten und Organisationen ihren
regional- und innenpolitischen Kurs ändern.' Man muss wohl nicht nur an
die Drohungen aus Washington in Richtung Iran und Hisbollah erinnern,
sondern auch daran, dass [die USA] den 'Syria Accountability and
Lebanese Sovereignty Restoration Act' erließen.
Ebenso wenig muss man wohl [an die Entwicklungen] erinnern, die im Jahr
nach dem Sturz von Saddam Husseins Regime zu verzeichnen waren: der
grundlegende Kurswechsel der libyschen Politik, die iranische
Nachgiebigkeit in der Frage der Atomprogramme, Saudi-Arabiens
Reformversuche und die Wendung gegen die fundamentalistischen Radikalen,
die Haltung des ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak zur Demokratie und
seine Ablehnung der politischen Erbfolge [1] oder auch die Entwicklung
bei den Golfstaaten auf der Ebene der Demokratieförderung, der
Wirtschaft und sogar der allgemeinen Freiheiten.
Trotz dieser positiven Entwicklungen scheiterte Amerika weiter an der
Kernfrage - der Palästinafrage. Das spitzte die Vertrauenskrise zwischen
den USA und den arabischen Nationen und Organisationen zu und
verhinderte, dass der Duchführungsbeginn des Plans, der für die Region
vorgelegt und unter dem Namen 'Greater Middle East Initiative' bekannt
wurde, offiziell verkündet werden konnte.
Bedeutet dies, dass die Uhrzeiger zurückgestellt werden und das irakische
Beben die Zukunft des Mittleren Ostens nicht beeinflussen wird?
Natürlich nicht. Vielmehr lautet die allgemeine Ansicht vor Ort, dass
Veränderungen unvermeidlich sind. Und auf dieser Grundlage beeilte sich
Europa, die Bühne des Mittleren Ostens zu betreten und die Dinge mit dem
Ziel in die Hand zu nehmen, der Region weitere Stöße und Erschütterungen
zu ersparen, deren Preis vielleicht die ganze Welt zu zahlen hätte. Die
europäische Position ging mit einer Initiative der Vereinten Nationen
für die schnelle Errichtung eines unabhängigen demokratischen Staates im
Irak einher.
Der europäische Vorstoß gipfelte in einem gemeinsamen
deutsch-französischen Papier, das eine Initiative zur Konzeption eines
neuen und entwickelten Mittleren Ostens enthält. Die einschlägigen
Quellen wollen wissen, dass die europäische Initiative, die bereits Ende
des Monats beschlossen werden könnte, der amerikanischen Initiative
nicht nur nicht widerspreche, sondern diese vervollständige und ergänze.
Es sind Informationen durchgesickert, nach denen die USA die europäische
Initiative und jedes gemeinsame amerikanisch-europäische Handeln
begrüßen, das den Veränderungsprozess im Mittleren Osten voranbringt.
Zweifellos bestehen zwischen beiden Initiativen viele Übereinstimmungen,
obwohl mache sagen, dass das amerikanische Papier von der
Sicherheitsfrage dominiert sei, während das europäische eher
wirtschaftlich-gesellschaftlich geprägt sei. Die wesentlichen Punkte, in
denen beide Initiativen übereinstimmen und die im europäischen Papier
deutlich hervorgehoben werden, sind diese: Verankerung der Demokratie,
Achtung der Menschenrechte, Entwicklung und Anwendung von Recht und
Gesetzen, die modern sind und die Bürgerrechte schützen, das Prinzip
transparenter Regierungsführung, Förderung pädagogischer Einrichtungen
und Erhöhung des allgemeinen Bildungsstandards, Erweiterung und
Verstärkung der Rolle der Zivilgesellschaft sowie die Entwicklung von
Wirtschaftsordnungen, die freie Wirtschaft und freien Handel
gewährleisten.
Wichtig an der europäischen Initiative ist, dass sie jedes einzelne Land
im Mittleren Osten besonders berücksichtigt, so dass nicht der Eindruck
entsteht, das Projekt zwinge dem Osten aus dem Westen importierte
Konzepte auf. Deshalb baut die europäische Initiative auf der
Initiierung bilateraler und gemeinsamer Wirtschafts- und Handelsabkommen
zwischen Europa und dem Mittleren Osten. Dabei soll das 'erweiterte
Europa' sich am Zustandekommen dieser Abkommen sicher ebenso beteiligen
wie an der Unterstützung des wirtschaftlichen, kommerziellen und
kulturellen Austauschs. Außerdem bringt das europäische Papier zum
Ausdruck, dass der Dialog mit dem Golf-Kooperations-Rat und der
Arabischen Liga absolut grundlegend ist. Ja, der Liga könnte durch die
Gründung einer gemeinsamen Kommission zur Belebung des Dialogs über
Veränderung und Entwicklung sogar eine bedeutende Rolle zukommen. Am
wichtigsten ist aber die herausragende Rolle, die das Dokument den
UN-Institutionen zuschreibt - sei es für die Untersuchung der
gegenwärtigen Lage oder bei der Entwicklung.
Auf jeden Fall sind die Beobachter der Ansicht, dass sich die
amerikanische und die europäische Initiative darin ergänzen, den
Vereinten Nationen eine Schlüsselrolle bei der Steuerung von Veränderung
und Entwicklung im Mittleren Osten einzuräumen. Außerdem wird
versichert, dass der grundlegende Ausgangspunkt in der Wiedergewinnung
des Vertrauens zwischen Ost und West liegt, d.h. zwischen Arabern auf
der einen und Europa und Amerika auf der anderen Seite – beginnend mit
einer schnellen und gerechten Lösung in der Palästinafrage.
Ein Jahr nach Beginn des Kriegs gegen Saddam Husseins Regime sehen die
Beobachter, dass die Veränderung des Mittleren Ostens beinahe sicher
ist. Dennoch wird sich die Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik der
Amerikaner wohl nicht ändern – gleich welchen Ausgang die amerikanischen
Präsidentschaftswahlen nehmen werden. Insbesondere gilt dies, nachdem
Amerika und Europa einen kleinsten gemeinsamen Nenner über die
Notwendigkeit der Veränderung zwischen Atlantik und Golf hergestellt
haben. Das dürfte auch die Ereignisse einschließen, die sich gerade in
Syrien abspielen.
Bleibt noch die Rolle des Libanons. Man muss nicht daran erinnern, dass
die europäische, die amerikanische und auch die Initiativen der
Vereinten Nationen und der ganzen Welt vor allem einem grundlegenden
Tenor folgen, ja sogar eine Bedingung für die Umsetzung all dieser
Projekte stellten - nämlich die Etablierung eines Dialogs zwischen den
Kulturen und Religionen… Und genau hierin liegt die Rolle des Libanon,
der den richtigen Rahmen für diesen Dialog darstellte und immer noch
darstellt. Der Libanon hat den Dialog mit Erfolg praktiziert, erlebte so
manches Mal seine Prüfungen und wäre infolge ausländischer
Interventionen und der 'Kriege anderer' auf seinem Boden beinahe
zusammengebrochen.
Im Rahmen des Neuen Mittleren
Ostens ist der Libanon geradezu berufen, die Rolle eines ja bereits real
existierenden Laboratoriums für Dialog, Wandel und Entwicklung zu
übernehmen. Diese Rolle kann das Land jedoch nur richtig ausfüllen, wenn
es aus dem gegenwärtigen Stadium des politischen Verfalls herauskommt
[und sich so präsentiert], wie es seiner Geschichte, Kultur und seinem
Ansehen in der Region und der Welt würdig ist.
[1] Dieser Hinweis bezieht sich wohl auf Spekulationen, wonach Mubaraks
Sohn Gamal zum Nachfolger seines Vaters aufgebaut würde.
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