Im Libanon bestimmt die
Angst vor einer Wiederkehr der Schrecken des Bürgerkriegs und die
Debatte um die Rolle Syriens im Land die Reaktionen auf die Ermordung
von Rafiq Hariri am Montag. Dabei macht die libanesische Opposition die
eigene Regierung und Syrien für den Anschlag verantwortlich, fordert die
Bildung einer Übergangsregierung, eine internationale Untersuchung sowie
den Abzug sämtlicher syrischer Truppen aus dem Libanon.
Dem widerspricht der folgende
Beitrag, der der links-säkularen, arabisch-nationalistischen und eher
syrienfreundlichen Zeitung Al-Safir entnommen und am heutigen 15.2.2005
erschienen ist:
"Die Zukunft des Libanon vom
Winde verweht: Rafiq Hariri stirbt als Märtyrer" [1]
"Das Blut des Libanon,
verdeckte am Montag in der Person von Rafiq Hariri die Sonne… Dieses
Verbrechen ist mehr als die Ermordung eines national, regional und
international herausragenden politischen Führers: Es ist der Versuch,
eine Nation zu ermorden. Der dabei Getötete ist viel viel größer als
sein Mörder und auch viel größer als diejenigen [Oppositionellen], die
jetzt versuchen, das Verbrechen als Rechtfertigung für eine
internationale Intervention auszunutzen, gegen die er bis zum letzten
Atemzug gekämpft hat.
Der 14. Februar 2005 ist ein
entscheidender Tag in der Geschichte des Libanon. Er zählt zu jenen
Tagen, an denen sich der Lauf der Geschichte zu beschleunigen scheint
[…] und sie auf einen bodenlosen Abgrund zustürzt. An diesem Tag
verbindet sich die grundlegend krisenhafte innere Lage mit der
Wiederkehr des regionalen und internationalen Konflikts um den Libanon.
All das zusammen ist eine explosive Mischung […]. Gestern verkleinerte
sich plötzlich der Libanon und es schien, als stünde er nun ohne Kopf
da. Als sei mit Rafiq Hariri etwas von dem ihm verbliebenen Glanz, von
den Quellen seiner Größe und der Legitimation für seine ihm auferlegte
Rolle verloren gegangen…. Die Zukunft des Libanon scheint nun in alle
Winde verweht.
Mit einem tödlichen Schlag
wurde die Idee eines nationalen Projekts zerstört, das die Rolle [des
Libanon] in der arabischen Welt und seine internationale Stellung
umfasste, die Rafiq Hariri so hervorgehoben hatte. Nun erscheint der
Libanon wie ein formloses Gebilde - ein zusammengesetzter Staat ohne
Führung, ohne politische Institutionen und ohne
Sicherheitseinrichtungen, ohne Wirtschaft, ohne eine klare
Zukunftsvorstellung und auch ohne Abwehr gegen ausländische Einmischung:
Frankreichs Verhältnis zu den inneren Angelegenheiten des Libanon ist
enger als das seiner arabischen Nachbarn und die US- Regierung bestimmt
[die Debatte] um Gegenwart und Zukunft das Landes stärker als seine
arabischen Verwandten und natürlich auch seine eigenen Bürger es tun.
Die Araber haben jetzt nichts
weiter vorzubringen als Verurteilungen, Beileidsbekundungen und die
Bitte, Gott der Allmächtige möge dem großen Verstorbenen gnädig sein und
den Libanon unter seinen Schutz stellen… Ganz anders die Ankündigungen
des Westens: angefangen mit Anspielungen auf einen internationalen
Prozess, welcher der [libanesischen] Regierung und ihrer Justiz das
Vertrauen entzöge, bis zu offenen oder verdeckten Beschuldigungen
Syriens, dessen Präsident das Verbrechen unverzüglich verurteilt und vor
dessen gefährlichen Dimensionen gewarnt hat.
Im Libanon aber brach etwas
zusammen und hinterließ ein völliges Chaos. Doch [was der Verstorbene
repräsentierte] war mehr, als der Nutzen, den die Opposition von seiner
Ermordung haben könnte. Und [auf der anderen Seite] kann auch die
Regierung nicht gerade behaupten, dass sie zu seinen 'Angehörigen'
gehört habe. […]
Die Ermordung Rafiq Hariris
stellt in mancher Hinsicht die Beseitigung einer der Säulen der
Sicherheit im Libanon dar. Dieser Mann konnte mit der Opposition
kommunizieren und deren Diskurs beeinflussen, er war in der Lage, Syrien
Vertrauen in die festen und guten nationalen Beziehungen zum Libanon zu
geben, und er konnte die Spuren des internationalen Angriffs [wohl: des
Bügerkriegs] beseitigen. Darüber hinaus war er ein geschickter
Regisseur, der das Gesicht aller wahrte, wenn ein Kompromiss geschlossen
wurde und er wahrte den Geist und den Inhalt des Abkommens von Taëf […].
Rafiq Hariri war Mensch
geblieben und in vieler Hinsicht unvergleichlich: Er war kein Erbe oder
Nachkomme eines alten politischen Hauses [2] und er blieb – vor wie nach
seiner Amtszeit – der alte: Er hatte Mitleid mit den Armen und eröffnete
deren Kindern mehr Möglichkeiten zur [Schul-]Bildung als der Staat. Er
verteilte unter ihnen alljährlich den 'Zakat' [3] und […] er pflegte
ihre Kranken im In- und Ausland, ohne dafür Gegenleistungen zu erwarten.
Mit der Treue zu seinem
Arabertum blieb Hariri […] ein Sohn der Bewegung der arabischen
Nationalisten. Das ging soweit, dass er beschuldigt wurde, den Libanon
mit seinem Handel ´arabisieren´ zu wollen. Mit seinem Agieren nahm er
gerne die Position des heimlichen 'Außenministers' von Syriens Hafez
Al-Assad ein […] und bemühte sich, diese Rolle mit Bashar Al-Assad
fortzusetzen. Mit aller Kraft mühte er sich darum, diesem Staat die
Türen zu öffnen, der lange isoliert war und unter dem Druck des
internationalen Boykotts und dem Verlust von arabischer Unterstützung zu
leiden hatte. Vielleicht war Hariri der erfolgreichste arabische
Politiker beim Weben eines schier endlosen Netzes internationaler
Beziehungen. […]
Der Libanon steuert auf eine
existenzielle Krise zu. Rafiq Hariri wusste genau, dass die regionalen
Entwicklungen über die innere Situation entscheiden und sie in Richtung
eines Zustammenstoßes treiben […]. Es gibt jemanden, der keine moderaten
Kräfte im Libanon will, jemand, der die Verpflichtung zum Ausgleich
ablehnt, selbst wenn das die Tore der Hölle für ihn und seine Nächsten
öffnet. Der Libanon ist sehr klein geworden ohne Rafiq Hariri und seine
Krise ist sehr groß. Gott schütze den Libanon und die Libanesen."
Anmerkungen:
[1] Der Begriff des Märtyrers hat zwar eine religiöse Konnotation, wird
aber unter anderem auch im säkular-nationalistischen Sinne oder für
Opfer politischer Morde verwendet.
[2] Gemeint ist hier der Kreis der traditionell in der libanesischen
Politik den Ton angebenden Familien.
[3] Vom Islam vorgeschriebene Abgaben.
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