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Nach 15 Jahren Ausnahmezustand:
Nicht ganz friedlich


Kurdische Hauptstadt sucht Normalität und bereitet sich auf Wahlen vor

Eine Reportage von sabine küper-büsch, diyarbakir
Jungle World / 11. Februar 2004


Im Büro des Menschenrechtsvereins von Diyarbakir herrscht heilloses Durcheinander. Viele Leute füllen Formulare aus, andere warten, eine alte Frau möchte Almosen, weil doch islamisches Opferfest ist. Muharrem Erbay, Anwalt und Sekretär des Vereins, bahnt sich mühsam seinen Weg durch die Räume. Immer wieder muss er Hände schütteln, er drückt der alten Frau ein groß-zügiges Geldgeschenk in die Hand und atmet auf, als sie verschwindet. In seinem Büro macht er rasch die Tür zu und setzt sich angestrengt an den Schreibtisch. »Es sind diese Wahlen«, erklärt er hastig, »alle sind sehr beschäftigt.«

Erbay ist unter 40, jung für einen leitenden Funktionär des Vereins im Kurdengebiet. Auf die Frage, ob er auch kandidiere, winkt er hastig ab. Aber der Vorsitzende kandidiere für die Demokratische Volkspartei (Dehap).

Die Kommunalwahlen am 28. März sind äußerst wichtig für die Machtverteilung in der Region. In den Stadtverwaltungen saßen in den vergangenen fünf Jahren vor allem Bürgermeister der Dehap. Auf die Frage nach den Chancen von Tayyip Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) in der Region zucken Erbays Mundwinkel verächtlich. Sie habe hier keine Chance. Offensicht-lich geht es dem Verein sehr viel besser, seit die Dehap die Stadtverwaltung leitet.

Erbay liest die Menschenrechtsstatistiken vom Bildschirm seines Laptops ab. »Im vergangenen Jahr ist es direkt friedlich gewesen«, meint er spöttisch. Nur 104 bewaffnete Auseinandersetzungen im gesamten Südosten der Türkei, 31 Verwundete und 80 Opfer unaufgeklärter Morde seien kaum der Rede wert im Vergleich zu früheren Zeiten. Auf die Frage, ob die Aufhebung des Ausnahmezustandes in der Provinz 2002 wirklich einen Demokratisierungsprozess ausgelöst hat, wird der Anwalt ernst und legt die Stirn in Falten. »Nicht wirklich«, seufzt er müde. Die Bemühungen der Regierung um Gesetzesänderungen zur Anpassung an EU-Normen seien lobenswert, allein an der Umsetzung hapere es noch, immer gebe es Fälle von Folter und willkürlichen Festnahmen. Das Telefon klingelt, wieder geht es um die Wahlen. Wir beschließen, uns lieber in der »Hauptstadt Kurdistans« umzusehen, die bis zum Herbst 2002 fünfzehn Jahre lang unter Notstandsgesetzen stand.

Auf dem Weg vom modernisierten Flughafen in die Stadt fallen von weitem die großen Schilder der Einkaufszentren auf. Die Alt-stadt wird von einer Mauer umschlossen, die auf das 4. Jahrhundert zurückgeht. Früher säumten Teegärten und preiswerte Restaurants den inneren Gürtel der Mauer, »gecekondus«, wie »über Nacht gebaute« illegale Häuser heißen, den äußeren. Die unerlaubten Ansiedlungen wurden im vergangenen Sommer abgerissen, Banden verwahrloster Kinder und Bettlerhorden haben hier das Kommando übernommen. Die meisten kommen aus den Provinzen Hakkari, Sirnak, Mus und Bingöl. Diese Gebiete waren in den neunziger Jahren am stärksten von den Räumungsaktionen des türkischen Militärs betroffen, die der PKK Unterschlupf, Lebensmittelressourcen und Zuläufer abgraben sollten. Damit wurde beinah eine ganze Region zur Völkerwanderung gezwungen.

Tatsächlich sieht man weniger Militär als früher in der Stadt. Dafür ist die Polizei um so präsenter, vor dem Tor nach Mardin donnert immer wieder ein Polizeipanzer vorbei, als wolle er das »gecekondu« oberhalb des Tigris-Deltas vor neugierigen Blicken schützen.

In der Abendsonne sieht selbst das Elendsviertel hübsch aus. Kaum zu glauben, dass sich hier im November ein sinnloser Mord ereignete. Die 15jährige Kadriye Demirel wurde von ihrem Bruder erst mit einem Säbel am ganzen Körper zerschnitten und dann mit einem Stein erschlagen. Der 18jährige bekundete vor Gericht, die Familienehre wiederhergestellt zu haben, und wurde mit mildern-den Umständen zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Ein typischer Fall, erzählt uns Nebahat Akkoc, die Leiterin des Frauen-zentrums Ka-mer. Das Mädchen war von einem Cousin vergewaltigt worden, als der Bruder beim Militär war. Bei seiner Rückkehr fand er die Schwester schwanger vor. Nach tagelangen Sticheleien der Nachbarn rächte sich der Bruder brutal an seiner Schwester, dem Vergewaltigungsopfer.

Bei so genannten Ehrenmorden können die Täter fast grundsätzlich mit Strafmilderung rechnen. Vergewaltiger, die ihr Opfer heiraten, gehen sogar ganz straffrei aus.

Bei Ka-mer gibt es seit vier Jahren einen Notruf für Frauen, der rechtliche und psychologische Betreuung und auch praktische Hilfe bietet. Im ersten Stock des Gebäudes arbeiten Frauen in einem selbstverwalteten Café, im zweiten gibt es einen Kindergarten und im dritten ein Beratungszentrum. Die Zahl der Anrufe nimmt zu, teils weil das Zentrum bekannter wird, teils weil die Gewalt an Frauen seit der Befriedung der Region zunimmt. Der Krieg habe die Leute an Brutalität gewöhnt, erklärt uns der Vorsitzende der Ärztekammer, Dr. Necdet Ipekzüz. »Der Frieden überzeugt noch nicht, denn vieles wurde nicht realisiert. Desillusionierung macht sich breit. Fußabtreter sind die Schwächsten der Hierarchie, die Frauen.« Eine Entwicklung, der sich aber die keimende Zivilgesell-schaft in der Region inzwischen entgegenstellt.

Parallel zum abnehmenden Antagonismus zwischen PKK-Anhängern und Sicherheitskräften beginnt ein mühseliger Aufbau. Drei-mal die Woche zwischen zwei und vier Uhr schauen die Frauen bei Ka-mer gemeinsam Gün-TV, einen Lokalsender, der sich mit Themen beschäftigt, die sonst schneller der Zensur zum Opfer fallen würden. Eine Moderatorin diskutiert mit Studiogästen über Abwasser-Problematik, so genannte Ehrenmorde oder über das durch das jahrelange Verbot der kurdischen Sprache im offiziellen Leben verbreitete Analphabetentum. Gün-TV gehört zu insgesamt fünf lokalen Sendern, die um die Gunst der Zuschauer konkurrieren – mit islamistischen, linken, pro-kurdischen oder kommerziellen Inhalten. Kurdische Lieder zu spielen, ist zwar er-laubt, aber eine Moderation in kurdischer Sprache nicht. Kurdische Nachrichten sind dem Lokalfernsehen nicht erlaubt, dem landesweiten nur fünf Stunden pro Woche. Die Programminhalte sollen Monate vor dem Sendetermin der Behörde zur Kontrolle der Inhalte in Funk und Fernsehen (RTÜK) vorgelegt werden. Das Resultat dieser absurden Gesetztgebung besteht aus viel kurdischer Schrummelmusik auf den Sendern, die von keiner informativen Sendung unterbrochen wird.

Nach fünf Jahren Dehap-Stadtverwaltung im relativ friedlichen Südosten macht sich auch Unmut unterm Wahlvolk breit. In den überall aus dem Boden schießenden Internet-Cafés diskutieren die Kurden in Weblogs über Politik. Der religiöse Block beschuldigt das Dehap-Umfeld, jahrelang unter dem Banner des patriotischen Kampfes alle Strukturen überlagert und die Stadtverwaltungen dilettantisch geführt zu haben.

Die diesjährigen Wahlen versprechen tatsächlich, spannend zu werden.

hagalil.com 12-02-2004

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