Kurdische Frauen im Nordirak:
Frauen in the House
Zwischen feudal-patriarchalen
Dorfstrukturen und neuem Selbstbewusstsein
Von Thomas Schmidinger
Jungle World 35 -
18.08.2004
"Wir bemühen uns gerade darum, dass es in
Zukunft ein Schwimmbad für Familien gibt, in dem Frauen und Männer
schwimmen können", erzählt eine Professorin der Universität von
Suleymania, die erst vor einem Jahr aus ihrem schwedischen Exil in
den Irak zurückgekehrt ist. Wie viele zurückkehrende ehemalige
ExilantInnen will sie ganz alltägliche Neuerungen, die sie aus
Europa kennt, in der kurdischen Gesellschaft durchsetzen.
Aber nicht nur zurückkehrende ExilantInnen bringen
einen Modernisierungsschub in die irakisch-kurdische Gesellschaft.
Nach dem Wegfall der ba'athistischen Bedrohung, die bis zum April
2003 ständig über dem kurdischen Autonomiegebiet schwebte, können
nun verstärkt soziale und gesellschaftliche Interessen formuliert
werden, die sich nicht unmittelbar den nationalen kurdischen
Interessen unterordnen. Erste Ansätze einer politischen
Frauenbewegung wurden Anfang dieses Jahres sichtbar, als die
Massenproteste der irakischen Frauen den Versuch des Regierungsrates
vereitelten, die Sharia im Familienrecht wieder einzuführen.
Unterstützt wurden die Frauen dabei auch von kurdischen, linken und
liberalen Parteien.
Aber auch wenn die KurdInnen sich selbst immer
wieder als den fortschrittlichsten Teil der irakischen Gesellschaft
sehen, so ist die kurdische Gesellschaft dennoch weit davon
entfernt, egalitär zu sein. Nicht nur die kurdischen
Großgrundbesitzer setzen dabei die feudale Tradition fort. Auch die
Geschlechterverhältnisse sind noch lange nicht so, wie sie auch
viele VertreterInnen kurdischer Parteien gerne darstellen. Der
Analphabetismus ist unter Frauen wesentlich höher als unter Männern.
Politische Ämter werden zwar teilweise an Frauen prominenter
Politiker vergeben, Frauen, die eine eigenständige politische
Karriere gemacht haben, sind aber weiterhin eine Ausnahme. Und in
den Dörfern ist sogar eine Form der Beschneidung der Klitoris noch
weit verbreitet.
Genau darüber diskutieren auch die
"frauengeführten mobilen Teams" der Hilfsorganisation Wadi mit den
Frauen von Hewata, einem kleinen Dorf nördlich von Suleymania. Acht
Großfamilien leben in dem Dorf ohne Schule und Arzt. Alle sind
irgendwie miteinander verwandt. Das Dorf wurde, wie 5 000 andere
kurdische Dörfer, von der ba'athistischen Regierung völlig zerstört.
Erst nach der Befreiung des Gebietes 1991 kehrten die
DorfbewohnerInnen aus den bewachten "collective towns" des Regimes
wieder nach Hewata zurück. Die Frauen diskutieren mit den drei
Mitarbeiterinnen des mobilen Teams über Gesundheitsprobleme im Dorf,
ebenso wie über Schulbildung für Mädchen oder Zwangsverheiratungen.
Lebhaft wird die Debatte unter den versammelten
Frauen jedoch erst beim Thema der weiblichen Genitalverstümmelung.
Nicht alle Frauen sind davon überzeugt, dass sie schädlich für ihre
Töchter ist. Eine vielleicht 40jährige Frau umarmt schließlich ihre
jüngste Tochter und erklärt: "Bei meinen älteren Töchtern habe ich
das noch machen lassen, aber ich weiß mittlerweile, dass das falsch
war. Bei meiner Jüngsten lasse ich das nicht mehr machen."
Tatsächlich sind die Zahlen der beschnittenen
Mädchen rückläufig. Eine genaue Statistik gibt es jedoch nicht. In
einem Land, in dem immer noch Flüchtlinge auf ihre Rückkehr nach
Kirkuk und andere Städte warten, aus denen sie von den Ba'athisten
vertrieben wurden, und nicht einmal ganz gewöhnliche
Bevölkerungsregister existieren, gibt es auch kein zuverlässiges
statistisches Material über die soziale Situation von Frauen.
Aber auch ohne solche Statistiken sind die
Probleme offensichtlich. Dabei sind nicht nur große Unterschiede
zwischen Stadt und Land, sondern auch zwischen den einzelnen
Regionen des Nordirak zu beobachten. In der Region Germian zum
Beispiel, auf halbem Weg zwischen Suleymania und Bagdad.Hier waren
die meisten der 182 000 Toten des ba'athistischen
Vernichtungsfeldzuges gegen Teile der kurdischen Bevölkerung 1988 zu
beklagen. Viele Witwen haben immer noch mit großen wirtschaftlichen
Problemen zu kämpfen.
Im Nawa-Center von Suleymania, dem ältesten
Frauenhaus im Irak, finden ebenso wie in den Frauenhäusern von Arbil
und Mossul nicht nur Frauen Zuflucht, die von Gewalt in der Familie
und von Ehrenmorden bedroht sind. Auch obdachlose Frauen und
Mädchen, die vor einer Zwangsheirat flüchten, kommen in die
Frauenhäuser. Dort werden sie von Sozialarbeiterinnen und
Psychologinnen betreut, die auch bei der Lösung ihrer Probleme
behilflich sind. In den meisten Fällen lässt sich das Problem mit
der Familie nach längeren Interventionen lösen. Nur wenige Frauen
leben länger als einige Monate im Frauenhaus. Es gibt nicht nur
Frauenhäuser in Suleymania, Arbil und Mossul; die
ArbeiterkommunistInnen betreiben ein Frauenhaus in Kirkuk, die
US-Zivilverwaltung unterhält eines in Bagdad.
Prügelnde Väter oder Ehemänner gibt es auch in
Deutschland, und mittlerweile sind auch Fälle von Ehrenmorden unter
nahöstlichen Immigrantenfamilien bekannt geworden. Was die Arbeit
der Frauenhäuser in Europa von jenen im Irak jedoch stark
unterscheidet, sind ihre Möglichkeiten. Trotz aller Modernisierung
der kurdischen Gesellschaft können Frauen dort immer noch nicht
alleine leben. Zwar wäre dies gesetzlich kein Problem, aber der
gesellschaftliche Druck auf allein lebende Frauen wäre zu groß. So
werden in den Frauenhäusern in ausweglosen Situationen manchmal
sogar Ehen vermittelt, die es den betroffenen Frauen ermöglichen,
ein selbstständigeres Leben zu führen als bei ihren Vätern.
Besonders stark ist dieser gesellschaftliche Druck
in jenen Gebieten, die bis 2003 von der islamistischen Gruppe Ansar
al-Islam beherrscht wurden. Heute befindet sich in Biara, dem
ehemaligen Hauptquartier der Ansar und ihres Verbündeten Sarqawi,
ein Frauenzentrum. Es handelt sich dabei nicht um ein Schutzhaus,
sondern um ein kleines Begegnungs- und Kulturzentrum, in dem
verschiedene Workshops und vor allem Alphabetisierungskurse
stattfinden. Eine kleine Bibliothek steht ebenfalls zur Verfügung.
Viele Frauen besuchen das Frauenzentrum auch nur, um unter sich zu
sein und miteinander zu reden.
Ähnliche Frauenzentren wurden auch in anderen
Orten der Region aufgebaut, das größte davon in Halabja, wo auch
Computer und Internetanschlüsse zur Verfügung stehen. Der
Bildungshunger der Frauen hier ist unübersehbar. Nach Jahren der
islamistischen Blockade äußern nun viele von ihnen den Wunsch zu
studieren. Von den rechtlichen Beratungen im Frauenzentrum sind sie
oft begeistert, so dass der Wunsch, Rechtsanwältin zu werden, bei
den jungen Frauen ganz oben auf dem Wunschzettel steht. Wie viele
von ihnen diesen Berufswunsch wirklich realisieren können, ist nicht
absehbar. Sicher ist jedoch, dass die neue irakische und kurdische
Gesellschaft viele Anwältinnen, Politikerinnen und andere gebildete
Frauen benötigen wird, um eine Gesellschaft zu entwickeln, die nicht
über 50 Prozent der Bevölkerung ausschließt.
Der Autor ist Mitarbeiter der Hilfsorganisation
Wadi.
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23-08-2004 |