Jerusalem als Hauptstadt
zweier Staaten
Vor ziemlich genau 3000 Jahren beschloß der
israelitische Stammesfürst David, seine Hauptstadt zu verlegen. Seine
Beweggründe waren praktischer Natur. Er gehörte zum Stamme Juda, einem
der zwölf lokalen Stämme des noch jungen Königreiches Israel. Er wollte
demonstrieren, daß er nicht nur im Namen seines eigenen Stammes die
Macht ausübt, sondern im Namen aller Stämme. Seine Hauptstadt Hebron
gehörte aber zum Gebiet Judas. Darum suchte er einen Ort, der keinem der
Stämme gehörte. Modern ausgedrückt: Er wollte eine Bundeshauptstadt, die
mit keinem der Bundesländer identifiziert wurde.
Davids Wahl fiel auf die alte Stadt
Jeruschalem, auch Schalem (Salem) genannt. Sie war eine der vielen
Städte im Land, die nicht von israeiitischen Stämmen erobert worden
waren, weil mit deren einfachen Waffen keine befestigten Städte
eingenommen werden konnten. Schalem war der lokale Schutzgott, und der
Name der Stadt bedeutete "dem Gott Schalem gewidmet" oder "von Gott
Schalem gegründet".
Der Wortstamm "Sch-l-m" bedeutet in der
kanaanitisch hebräischen Sprache "vollkommen" und damit auch "sicher",
"wohl". Das hebräische Wort "Schalom", auf arabisch "Salam", ist davon
abgeleitet. Es bedeutet nicht nur "Frieden", sondern auch "Sicherheit"
oder "Wohlbefinden". Wenn Israelis beispielsweise fragen "Wie geht es
dir?", verwenden sie die Redewendung "Wie ist dein Schalom?" Schalems
Pflicht war es also, das Wohlbefinden und die Sicherheit seiner Stadt zu
gewährleisten.
Die Stadt Schalem war für David ideal:
Jerusalem ist zentral gelegen, von Hügeln umgeben und leicht zu
verteidigen. Von allen Seiten muß man zu ihr "emporsteigen", und dieses
Wort wird auch heute noch im Hebräischen für eine Fahrt nach Jerusalem
benutzt. Das Klima ist das angenehmste im Land: kühl im Sommer, trocken
und gemäßigt. Und was für David wohl am wichtigsten war: Die Einwohner
waren keine Israeliten, sondern Jebusiter, die zu den Kanaanitern
gehörten. Der König, der seine Leibwache aus dem fernen Kreta
rekrutierte, fühlte sich bei diesen "fremden" Einwohnern am sichersten.
Wie die Bibel im Buch der Richter erzählt, wurden die Jebusiter nie
vertrieben oder enteignet. Das Grund stück für den Tempel kaufte David
von dem Jebusiter Arauna für 50 Silberschekel.
Menschen, die Hebräisch nicht sonderlich
gut sprechen — und das schließt die meisten Israelis mit ein —,
übersetzen "Jerushalajim" mit "Stadt des Friedens". Das ist linguistisch
jedoch falsch und historisch ebenso, denn kaum eine Stadt auf der Welt
hat in ihrer langen Geschichte so wenig Frieden erlebt wie gerade
Jerusalem. Die Stadt wurde mehr als 80mal erobert, manchmal gewaltlos
wie bei der Einnahme durch die Moslems unter dem humanen Kalifen Omar.
In anderen Fällen verlief die Eroberung grausam wie das Massaker der
Kreuzritter, die "bis zu den Knien" in moslemischem und jüdischem Blut
wateten.
Der Bibel nach war Jerusalem schon eine
alte Stadt, als Abraham ins Land kam. Er zahlte dem König von Schalem
Tribut. Bereits in den ägyptischen Amarnabriefen aus dem 14. Jahrhundert
v. Chr. erbat der König von Jerusalem (Urusalim) vom amtierenden Pharao
Hilfe gegen die Habiru — Beduinen, die in das Land Kanaan eingedrungen
waren und von denen man heute annimmt, daß sie identisch mit den
Hebräern sind.
Zweifellos waren es die Hebräer, die Jerusalem zu dem
gemacht haben, was es seitdem ist — ein Zentrum des religiösen Lebens.
Was Rom eine Zeitlang für die Politik und Florenz für die Kunst war, war
Jerusalem für die Religion. Der religiöse Genius der alten Hebräer, der
sich in der herrlich geschriebenen Bibel widerspiegelt, schuf die Basis
für eine Schöpfung, der auch das Christentum und der Islam entsprungen
sind. Abraham, David und Jesus waren — der Bibel nach — in Jerusalem,
und Mohammed stieg von hier zum Himmel auf, weil auch für ihn Jerusalem
der Ort war, der Gott am nächsten ist.
Die physische Dimension
Mehr denn je stellt sich heute aber die Frage: Was ist
Jerusalem eigentlich? Ist es die Altstadt, der von der schönen
türkischen Mauer umgebene Quadratkilometer, in der beinahe alle heiligen
Stätten liegen? Ist es die Stadt, wie sie 1948 war, als der Krieg sie in
zwei Teile zerriss — die Altstadt mit der arabischen Neustadt im Osten
und die jüdische Neustadt im Westen? Ist es das viel größere Gebiet, das
von Israel 1967 einseitig annektiert wurde und dessen Grenze so gezogen
wurde, daß die arabischen Bevölkerungszentren möglichst ausgeschlossen
wurden, und in dem massenhaft jüdische Bauprojekte entstanden? Ist es
das riesige Gebiet von "Großjerusalem", das in den Gehirnen der
Stadtplaner herumspukt und das von Beit-Shemesh bis Jericho und von
Bethlehem bis Ramallah reicht?
Wenn man von der Heiligen Stadt spricht, was ist an
dieser häßlichen Konzentration von Wohnkasernen, die weit von den
heiligen Stätten entfernt liegen, wie zum Beispiel Pisgat Zeev, heilig?
Warum ist hingegen das arabische Dorf Abu Dis, in Sichtweite des
Felsendoms, aber außerhalb des annektierten Stadtgebiets gelegen,
weniger heilig? Das ist die physische Dimension, die geklärt werden muß,
bevor man überhaupt eine sinnvolle Diskussion über Jerusalem führen
kann.
Die geistige Dimension
Noch schwieriger ist es, die geistige
Dimension festzulegen. Was ist Jerusalem? Eine Stadt? Eine Idee? Das
"Jerusalem von oben", also das "himmlische Jerusalem", oder das
"Jerusalem von unten", das irdische, wie es in der hebräischen Tradition
genannt wird?
Wenn man das Problem Jerusalem wirklich
lösen will, muss man die Stadt in ihrer Totalität sehen. In der Theorie
kann man die verschiedenen Aspekte der Stadt einzeln behandeln und für
jeden eine Lösung finden. Eine Lösung muss jedoch alle Aspekte umfassen.
Die städtische Ebene
Da ist die städtische Ebene — die Stadt, in
der Menschen leben und sterben, spielen und lernen, arbeiten und beten,
handeln und produzieren, Familien gründen; Menschen, die Wohnungen und
Arbeit brauchen, Straßen und Strom, Wasser und Kanalisation. Das ist
eine wirkliche Stadt, die verwaltet werden muss.
29 Jahre nach der sogenannten
"Wiedervereinigung" gibt es in Jerusalem keine gemischten Viertel. Die
Viertel sind streng getrennt, entweder jüdisch oder arabisch; zwischen
Juden und Arabern gibt es so gut wie keinen Verkehr. Wer zwischen dem
imposanten Notre-Dame-Gebäude und dem Neuen Tor die Straße überquert,
weiß, dass er eine unsichtbare Grenze überschreitet, von einer Stadt in
eine andere, ja, von einem Land in ein anderes gelangt. Und doch
funktioniert die Stadt als eine.
Heutzutage gibt es nur einen Stadtrat — den
israelischen. Er wird von den Israelis gewählt. Bis auf ganz wenige
Ausnahmen — vom eigenen Volk als Quislinge angesehen — nehmen die
Palästinenser nicht an den Wahlen teil. Zwischen der Qualität der
städtischen Dienste auf beiden Seiten besteht eine enorme Diskrepanz.
Praktisch ist der Bürgermeister das gewählte Oberhaupt von Westjerusalem
und der aufgezwungene Gouverneur von Ostjerusalem. So war es unter Teddy
Kollek, dem genialen Propagandisten des Mythos vom vereinten Jerusalem,
und so ist es unter seinem skandalösen Nachfolger Ehud Olmert.
Unter welchen Bedingungen wird Jerusalem in
Zukunft eine von allen akzeptierte, vereinte Stadtverwaltung haben und
der Vielfalt seiner Einwohner gerecht werden? Es gibt viele
Lösungsmöglichkeiten. Zum Beispiel: Jedes Viertel wird seinen eigenen
gewählten Stadtrat haben wie in vielen Großstädten, und über den
einzelnen Stadträten wird eine gemeinsame Gesamtverwaltung stehen, deren
Oberbürgermeister einmal ein Israeli und einmal ein Palästinenser sein
wird. Der Gesamtstadtrat wird aus den Vertretern der einzelnen Viertel
bestehen oder paritätisch direkt gewählt — die eine Hälfte von den
israelischen Einwohnern, die andere Hälfte von den palästinensischen,
unabhängig von ihrer Anzahl.
Der ästhetische Aspekt
Es gibt einen ästhetischen Aspekt, der
nicht übersehen werden darf. Jerusalem ist ein Kleinod der Menschheit,
eine der schönsten Städte auf der Welt. Diese Schönheit ist in den
letzten Jahren schwer beschädigt worden. Nationalistische Bestrebungen,
die das demographische Bild der Stadt schnell ändern wollten, sowie eine
für Ästhetik blinde Stadtverwaltung unter Kollek und Olmert haben das
Stadtbild verschandelt; und es besteht die Gefahr, dass die
Palästinenser dasselbe tun werden, wenn sie die Gelegenheit bekommen.
Jede Lösung für Jerusalem muss daher auch das optische Bild der Stadt
vor Augen haben.
Der nationale Aspekt
Der nationale Aspekt ist vielleicht der
wichtigste. Die israelische Regierung betrachtet Jerusalem als die
vereinte, "ewige und unteilbare Hauptstadt Israels", in der niemand
sonst nationale, souveräne Rechte haben darf. Die Palästinenser
ihrerseits fordern ausnahmslos "Al-Quds esh-Sharif" (das verehrte
heilige Jerusalem) — also Ostjerusalem — als Hauptstadt ihres
zukünftigen Staates Palästina. Eine andere Hauptstadt ist für sie
undenkbar.
Wer einen wirklichen Frieden will, muss
daher bereit sein, Jerusalem als eine gemeinsame Hauptstadt zweier
Staaten, Israel und Palästina, zu akzeptieren. Wie kann das
funktionieren? Es gibt mindestens zwei Modelle mit vielen Variationen.
Das einfachste wäre, den Westteil zur Hauptstadt Israels und den Ostteil
zur Hauptstadt Palästinas zu machen. Wenn die Stadt physisch ungeteilt
und gemeinsam verwaltet bleibt, wird die Souveränität mehr symbolisch
als praktisch sein und den Verkehr in der Stadt nicht behindern — wie ja
auch Rom Hauptstadt zweier Staaten ist, von Italien und dem Vatikan; man
überquert die Grenzen, ohne es zu merken.
Eine andere Lösung wäre eine gemeinsame
Souveränität über ganz Jerusalem. Detaillierte Pläne zeigen, dass die
komplexen juristischen Probleme, die damit verbunden sind — weiches
Recht gilt für wen? —, in der Praxis durchaus lösbar sind. Es bedarf
aber viel guten Willens auf beiden Seiten, wie ja jede Lösung eine enge
nachbarschaftliche Beziehung zwischen den beiden Staaten voraussetzt.
Solch eine Lösung wäre natürlich
einzigartig, wie eben Jerusalem einzigartig ist. In dem kleinen Land,
das die Palästinenser Filastin und die Juden Erez Israel
nennen, leben heute zwei Völker, nicht zusammen, aber dicht
aneinandergedrängt. Jerusalem ist und war beinahe immer die Hauptstadt
des Landes. Es ist daher die Hauptstadt beider Völker, gleichzeitig eine
israelische und eine palästinensische Hauptstadt. Dies ist ganz einfach
eine Tatsache, und jede Lösung, die Bestand haben will, muss diese
Tatsache berücksichtigen.
Im Rahmen einer solchen Lösung müssten auch
die städtischen Grenzen neu gezogen werden. Die heutigen, nur
israelischen Interessen entsprechenden Grenzen könnten keinen Bestand
haben. Man kann auf die alten Grenzen zurückgehen oder aber auch, wie
manche Palästinenser und Israelis vorschlagen, die Grenzen erweitern und
die palästinensischen Vororte wie Abu Dis und Aram mit einbeziehen, um
eine Art demographische Parität zu schaffen.
Der religiöse Aspekt
Der religiöse Aspekt ist wohl am
einfachsten zu lösen. Gläubige aller Konfessionen müssten das Recht
haben, ungehindert nach Jerusalem zu kommen, um zu beten, und die
heiligen Stätten sollten selbständig — und unter Umständen
extraterritorial — verwaltet werden. Die geistigen, metaphysischen
Dimensionen kann man natürlich nicht politisch regeln — sie existieren
im Geist der Menschen, und dort sollten sie auch bleiben. Man darf sie
aber nicht unberücksichtigt lassen. In Jerusalem ist es nicht rational,
das Irrationale zu ignorieren.
Das Hauptprinzip ist: Jede Lösung, wie
immer sie auch aussehen mag, muss auf Gleichheit beruhen. Wenn Israelis
in arabischen Vierteln leben dürfen, dann müssen auch Palästinenser das
Recht haben, in jüdischen Vierteln zu wohnen — was ihnen heutzutage
verwehrt wird. Wenn die neuen israelischen Viertel in Ostjerusalem
bestehen bleiben, müssen auch die Palästinenser das Recht haben, neue
Viertel in Westjerusalem zu gründen.
Das alles sind Vorschläge, über die man
sich Gedanken machen kann. Sie dienen dazu, die Vielfalt der
Möglichkeiten aufzuzeigen. Keine dogmatische, "einzige" Lösung darf als
heilig angesehen werden. Aber die Einzelheiten der verschiedenen Aspekte
dürfen nicht die Gesamtheit des Problems in Vergessenheit geraten
lassen. Die Lösung muss allumfassend und Erzeugnis der schöpferischen
Phantasie sein; sie muss Israelis und Palästinensern einleuchten und
auch begeistern.
Im Sommer 1995 hat Gush Shalom, der
israelische Friedensblock, der eine klare israelisch-palästinensische
Friedenspolitik vertritt, eine Demonstration an der Trennungslinie in
Jerusalem veranstaltet. Vor der alten Stadtmauer wurde ein
Verkehrsschild aufgestellt, das die Richtungen nach "Westjerusalem,
Hauptstadt Israels" und "Ostjerusalem, Hauptstadt Palästinas" anzeigte.
Faisal Husseini, der anerkannte Führer der Palästinenser in der Stadt,
hielt eine kurze Rede, in der er sagte: "Ich träume von einer Zeit, in
der ein Palästinenser, wenn er >unser Jerusalem< sagt, Palästinenser und
Israelis meinen wird, und ein Israeli, wenn er >unser Jerusalem< sagt,
Israelis und Palästinenser meinen wird."
Durch diesen Satz angeregt, verfasste ich
ein Manifest, das in wenigen Tagen von 675 prominenten israelischen
Intellektuellen und Künstlern, darunter viele der bekanntesten
Schriftsteller, Dichter, Maler, Schauspieler, Professoren und
Friedensaktivisten — davon acht Träger des Israel-Preises, der höchsten
Auszeichnung im Land — unterschrieben wurde. Husseini und andere
palästinensische Repräsentanten aus Jerusalem unterschrieben ebenfalls
demonstrativ. Yassir Arafat selbst billigte den Text öffentlich, der
folgendermaßen lautet:
Unser Jerusalem
Jerusalem gehört uns, Israelis und Palästinensern,
Moslems, Christen und Juden. Unser Jerusalem ist ein Mosaik aus allen
Kulturen, allen Religionen und allen Epochen, die die Stadt vom
frühesten Altertum bis heute bereichert haben: Kanaaniter, Jebusiter und
Israeliten, Juden und Griechen, Römer und Byzantiner, Christen und
Moslems, Araber und Marnelucken, Osmanen und Briten, Palästinenser und
Israelis. Sie und alle anderen, die ihren Beitrag zu der Stadt
leisteten, haben ihren Platz in der geistigen und physischen Landschaft
Jerusalems.
Unser Jerusalem muss eine vereinigte Stadt sein, die offen
ist für alle und allen Einwohnern gehört — ein Jerusalem ohne
Grenzen und Stacheldraht in seiner Mitte. Unser Jerusalem muss die
Hauptstadt zweier Staaten sein, die Seite an Seite in diesem Land leben
— Westjerusalem als Hauptstadt des Staates Israel und Ostjerusalem
als Hauptstadt des Staates Palästina. Unser Jerusalem soll die
Hauptstadt des Friedens sein.
Im Oslo-Abkommen war man sich 1993 darüber
einig, dass die Diskussion über Jerusalem verschoben werden muss, bis
weniger komplizierte Probleme gelöst sind. Man hatte Angst, sofort in
eine Sackgasse zu geraten. Darum wurde beschlossen, die Jerusalemfrage
sowie andere Themen — wie die Siedlungen, die Flüchtlinge, die
Sicherheit und die Grenzen — im Rahmen der Verhandlungen über den
"endgültigen Status" zu behandeln. Diese sollten am 4. Mai 1996
beginnen.
Das Oslo-Abkommen — offiziell als
"Prinzipienerklärung" bezeichnet — verbietet es, in der Zwischenzeit
etwas zu tun, was den Ausgang der Verhandlungen beeinflussen könnte.
Keine der beiden Seiten hat das berücksichtigt. Besonders die
israelische Regierung, die ja die Macht in Jerusalem hat, tat alles, um
die "Tatsachen auf dem Boden" (ein beliebter zionistischer Ausdruck) zu
verändern. Arabischer Boden wird weiterhin enteignet, weitere jüdische
Siedlungen werden gebaut mit der klaren Absicht, die arabischen
Stadtteile vollkommen zu umzingeln und jede Art der Teilung unmöglich zu
machen. Diese Bemühungen gehen weiter trotz sporadischer Proteste eines
Teils der israelischen Friedensbewegung. Wichtige Politiker der
Arbeiterpartei, darunter auch sogenannte "Linke", unterstützen die
Besiedlung, während der Likud Shimon Peres beschuldigt, eine Teilung
Jerusalems herbeizuführen.
Leider gibt es im Vertragswerk von Oslo
keinen ausdrücklichen Paragraphen, der es verbietet, während der
Verhandlungen Siedlungen zu errichten oder zu erweitern. Man kann sich
nur auf das juristische Prinzip berufen, nach welchem die Verpflichtung,
über etwas zu verhandeln, automatisch beinhaltet, es im guten Glauben zu
tun. Die Schaffung neuer Tatsachen widerspricht dem jedoch.
Während die beiden großen Parteien in
Israel beteuern, dass hinsichtlich Jerusalem ein nationaler Konsens
besteht, entwickelt sich die Stimmung in der Bevölkerung in eine ganz
andere Richtung. Die Terroranschläge der islamischen Fundamentalisten im
Lande — und besonders in Jerusalem — haben die große Mehrheit in Israel
dazu gebracht, eine "Trennung" zu befürworten. Im Volksmund wird das so
ausgedrückt: "Wir wollen die Palästinenser nicht mehr sehen. Wir müssen
eine große Mauer zwischen ihnen und uns bauen. Sollen sie doch auf ihrer
Seite einen Staat errichten. Die Hauptsache ist, dass sie aus unseren
Augen verschwinden." Viele fügen dem hinzu: "Auch in Jerusalem brauchen
wir eine Mauer. Sollen sie in ihren Vierteln machen, was sie wollen:
einen Staat, eine Hauptstadt, ganz egal. Nur fort mit ihnen aus unseren
Augen."
Das ist sicher eine sehr negative
Einstellung, weit entfernt von der Vision einer gemeinsamen Hauptstadt.
Aber es kann sich positiv auswirken im Sinne des Hegelschen Ausspruchs
über die "List der Vernunft" oder Mephistos Selbstbeschreibung im Faust:
"Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das
Gute schafft." Denn auf diesem Umweg kommen viele Israelis doch zu dem
Ergebnis, dass ein Staat Palästina — mit seiner Hauptstadt Jerusalem —
notwendig ist.
Eines ist sicher: Die Verhandlungen über
Jerusalem werden äußerst schwierig sein.
Das Buch "Die
Jerusalemfrage" soll einen Diskussionsbeitrag in Form eines
Dialogs zwischen den beiden Konfliktparteien leisten. Azmi Bishara, ein
Palästinenser, hat die Israelis, ich, ein Israeli, habe die
Palästinenser interviewt. Wir wollen in diesem Rahmen keine
Verhandlungen führen — das soll den Politikern überlassen sein. Aber wir
möchten auf die Möglichkeiten der Konfliktlösung hinweisen, die
verschiedenen Einstellungen beleuchten, die historische und religiöse
Bedeutung Jerusalems aufzeigen und vor allem Stoff zum Nachdenken geben.
Die Vielfalt der Meinungen soll dazu bei tragen. Die mit Shimon Peres
und Yassir Arafat fest eingeplanten Gespräche kamen, bedingt durch die
Entwicklung im Frühjahr 1996, nicht zustande. Das Konzept für das Buch
entwarf mein Verleger Georg Stein.Psalm 122
beschreibt Jerusalem als eine Stadt, "die zusammengefügt ist". Viele
Israelis legen das als eine Prophezeiung der Wiedervereinigung der Stadt
unter israelischer Herrschaft aus. Man kann dies aber auch anders
verstehen: "Jerusalem ist gebaut als eine Stadt, in der man
zusammenkommen soll." Über die Fortsetzung des Psalms ist man sich
einig:
Wünschet Jerusalem Glück!
Es möge wohl gehen denen, die dich lieben!
Es möge Friede sein in deinen Mauern und Glück in deinen Palästen!
Um meiner Brüder und Freunde willen will ich dir Frieden wünschen.
Uri Avnery, Jerusalem, April 1996
 |
Uri Avnery/Azmi Bishara
(Hrsg.)
Die Jerusalemfrage
Israelis und
Palästinenser
im Gespräch
Zeittafel · Karten · 320
Seiten · 13,5 x 21 cm · Broschur
Euro 17,90
ISBN 3-930378-07-8
Mit Beiträgen von Teddy Kollek, Hanan Ashrawi, Amos Oz, Faisal
Husseini, Ehud Olmert, Albert Aghazarian, Shulamit Aloni, Nazmi
al-Jubeh, Meron Benvenisti, Ikrima Sabri und Michel Sabbah.
"Das Buch behandelt nahezu alles, was zu diesem Thema gedacht und
diskutiert worden ist."/arte-Themenabend zu Jerusalem
Erschienen 1996, Palmyra Verlag Heidelberg |
haGalil onLine
10-09-2001 |