Am Quell
der Gefahr:
Kampf um das knappste Gut im Nahen Osten
Der See Genezareth
schrumpft und der Jordan wird zum Rinnsal – am Streit um das Wasser
entzünden sich neue Konflikte
Von Thorsten Schmitz
Tiberias - Früher oder später musste ich Schmuel
Ochana begegnen. Jeder kennt den 108 Kilogramm schweren achtfachen
Familienvater in Tiberias. Als handelte es sich um den Bürgermeister der
Stadt am See Genezareth, grüßen ihn die Menschen auf den Straßen, auf
dem Markt, auf der Bank. Zu lokaler respektierter Größe aufgestiegen ist
Herr Ochana durch sein koscheres Steakrestaurant "El Gaucho", dessen Ruf
über die Stadtgrenzen hinaus bis zur rund 200 Kilometer südlich
entfernten Negev-Farm von Regierungschef Ariel Scharon vorgedrungen ist.
Alle paar Monate klingelt das Telefon bei "El Gaucho", und das Büro von
Scharon reserviert einen Platz, ganz allein für den Regierungschef. Wenn
Scharon kommt, wird das gesamte Lokal geschlossen, und noch nicht mal
Pablo aus Buenos Aires, der seit 20 Jahren am Grill der Ochanas steht,
darf dann die Steaks für Scharon und seine Likud-Gäste grillen, nur
Schmuel und seine Frau Elisabeth. Der Sicherheit wegen.
Bei der letzten Visite des Regierungschefs bat Schmuel
Ochana Scharon um einen Gefallen. Er sei sicher vollauf von der Intifada
gefangen, versicherte Schmuel Ochana beim Espresso nach dem Steak, "aber
Sie dürfen unseren See nicht vergessen, uns geht das Wasser verloren!"
Scharon habe genickt, erzählt Schmuel Ochana, und daran erinnert, dass
er den Bau einer großen Meerwasserentsalzungsanlage in der Küstenstadt
Aschdod angestoßen habe.
Jeden Morgen um acht Uhr steht Schmuel Ochana auf,
duscht ausgiebig, wobei er sich auch die Zähne unterm Brausekopf putzt,
und setzt sich an den Frühstückstisch. Kaffee morgens mag er nicht, auch
keinen Tee oder Fruchtsäfte, nur Wasser aus dem Hahn. Einen halben Liter
ab halb neun, der Arzt hat gesagt, das fördere die Verdauung. Wasser ist
das Lebenselixier von Ochana, wie es der See Genezareth für ganz Israel
ist: "Ich liebe es. In meinem früheren Leben war ich bestimmt ein
Fisch."
Am See Genezareth, dem Hauptwasserreservoir Israels,
ist Schmuel Ochana geboren, aufgewachsen und inzwischen 58 Jahre alt
geworden – "und sterben werde ich hier auch". Das zweistöckige
Familienhaus der Ochanas liegt in den hügeligen Vororten von Tiberias,
vom Wohnzimmerfenster aus hat man einen Postkartenblick auf die
spiegelglatte Wasseroberfläche des 21 Kilometer langen und bis zu 13
Kilometer breiten Süßwassersees, von dessen Nordufer aus der Papst im
Sommer 2000 seinen Segen sprach. Jeden Tag, den Gott werden lässt, wirft
Schmuel Ochana mit seinem Fernglas einen Blick auf die Talsenke und
lässt die Augen an den Rändern des Sees entlangwandern, der 214 Meter
unterm Meeresspiegel liegt. Und dann seufzt er über den täglich
sinkenden Wasserstand.
An manchen Badestellen müssen die Menschen inzwischen
bis zu hundert Meter auf ausgetrocknetem Seegrund entlanglaufen, bis sie
überhaupt das Genezareth-Ufer erreichen. Holzhäuser von Bademeistern
stehen verwaist in getrocknetem Schlamm, weit weg vom Ufer, das sich
stetig zurückzieht. Vor zwei Jahren wurde Ochana stutzig. Am südlichen
Ufer des Sees erblickte er mitten im Wasser Bambushalme. Erst dachte er,
er sei kurzsichtig, doch innerhalb eines Monats wuchsen die Stengel
sichtbar aus dem Wasser heraus. Es sollte sich um keine Fata Morgana
handeln – im See Genezareth hat sich inzwischen eine Insel gebildet, so
groß wie eine Vier-Zimmer-Wohnung, bewohnt von Vögeln aller Couleur.
Seitdem wacht Schmuel jede Nacht, wenn er sein Lokal schließt, dass die
Putzfrauen mit so wenig Wasser wie möglich den Fußboden wischen.
"Irgendwo muss man ja anfangen."
40 Prozent des Trinkwassers in Israel kommen aus dem
See Genezareth, der vom Jordan-Fluss gespeist wird. Er ist die
Hauptwasserader Israels, der Palästinensergebiete und Jordaniens. Seit
dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 kontrolliert Israel den Fluss nahezu
vollständig. Am Nordufer fließt das Flusswasser, das über den Höhenzug
der ebenfalls im Sechs-Tage-Krieg eroberten Golan-Höhen kommt, in den
See, am südlichen Ende setzt der Fluss seinen Weg entlang der Grenze zu
Jordanien fort – als ein Bächlein. Ein Sprecher von Mekorot, der
staatlichen Wassergesellschaft, beschreibt die Lage in einem einzigen
Wort: "Katastrophal." In den regenfreien Sommermonaten verdunsten jeden
Tag mehrere hunderttausend Kubikmeter Wasser, so dass der Pegel alle 24
Stunden um einen Zentimeter sinkt und der Salzgehalt steigt, da am Boden
kleine Salzquellen liegen.
Auch in den Grundwasserspeichern entlang der Küste am
Mittelmeer steigt der Salzgehalt, Meerwasser dringt ein. Im
Friedensvertrag mit Jordanien von 1994 hat sich Israel zur Lieferung von
jährlich 50 Millionen Kubikmeter Genezareth-Nass an Amman verpflichtet,
und selbst der vergleichsweise regenreiche letzte Winter hat einen neuen
Tiefststand nicht verhindert. Jahrein, jahraus malen die wenigen
Umweltschützer, die es in Israel gibt, eine düstere Zukunft des Landes,
das vor lauter Krieg mit den Palästinensern die Hauptsorge außer Acht
lasse: dass die Region in ein paar Jahren auf dem Trockenen liegen
werde.
Doch die Rufe zur Wahrung des kostbaren Guts
verhallten bislang ungehört. Israel schöpft seit seiner Staatsgründung
vor 54 Jahren aus dem Vollen, obwohl jedes Jahr rund 500 Millionen
Kubikmeter Wasser fehlen: öffentliche Parks werden täglich besprenkelt,
Swimmingpool-Wasser erneuert, Autos gewaschen, und zwei Duschen täglich
sind so selbstverständlich wie das Ignorieren der spärlichen Aufrufe der
Regierung, beim Zähneputzen das Wasser nicht laufen zu lassen und auf
den Toiletten den Kurzspülknopf zu betätigen. Zudem ist Israel die
autonome Versorgung der Bevölkerung mit landwirtschaftlichen Produkten
wichtig. So erklärt sich der wasserintensive Anbau von Tomaten, Melonen,
Bananen; für die Bauern wird der Wasserpreis künstlich niedrig gehalten.
Zwar ist Israel von Mittelmeer und Rotem Meer umgeben,
aber noch jede Regierung hat sich bislang gescheut, die Wasserversorgung
auf Meerentsalzungsanlagen umzustellen. Die Errichtung und Unterhaltung
der Anlagen ist so kostspielig, dass der Wasserpreis sprunghaft in die
Höhe stiege – mit dieser unpopulären Maßnahme möchte kein
Premierminister seine Wählergunst schmälern, zumal in einem Land mit
vielen europäischen Einwanderern, die ihre grünen Vorgärten als Ausdruck
ihrer Herkunft erhalten möchten. Absurderweise exportiert Israel
ausgefeilteste Wasserentsalzungs- Technologie, gönnt sich selbst aber
nur eine solche Anlage im Badeort Eilat, wo sie 80 Prozent des Bedarfs
deckt. Israelis in der Küstenregion und jüdische Siedler in
Westjordanland verbrauchen täglich rund 350 Liter frisches Trinkwasser –
ein durchschnittlicher palästinensischer Haushalt dagegen nur etwa 60
Liter. Die amerikanische Entwicklungshilfeorgansiation USAID nennt als
Minimum für den täglichen Bedarf 100 Liter.
Wie hysterisch Israelis auf einen drohenden
Wassernotstand reagieren, ließ sich vergangenen Sommer erkennen, als
zwei Millionen Bewohner im Großraum Tel Aviv aufgerufen wurden, kein
Trinkwasser mehr zu nutzen – das Wasser war durch Ammoniak belastet.
Innerhalb weniger Stunden waren alle Mineralwasservorräte in den
Supermärkten ausverkauft. Für die Tel Aviver kam das Erlebnis einem
Schock gleich – für die Palästinenser ist Wassermangel Alltag. Allein in
Westjordanland verfügen 200000 Palästinenser in 218 Ortschaften über
keinen Wasseranschluss. Sie müssen lange, angesichts der israelischen
Militäroperationen gefährliche Wege zu Brunnen in Kauf nehmen – oder
teures Wasser von Tanklastwagen kaufen, wenn diese angesichts der
Blockaden überhaupt durchkommen. Palästinenser ohne fließend Wasser
haben Erdlöcher gegraben als Toilettenersatz, die Kinder werden nur
einmal die Woche gewaschen.
Die Besatzung von Westjordanland und Gaza-Streifen
durch israelische Truppen hat nach Angaben der Regierung Scharons
sicherheitsstrategische Gründe. Doch das ist nur die eine Wahrheit. Die
andere liegt unterhalb der besetzten Gebiete: Aus den dortigen
Wasservorkommen schöpft Israel jedes Jahr 450 Millionen Kubikmeter
Grundwasser – die Palästinenser erhalten vom nassen Bodenschatz nur 150
Millionen Kubikmeter. Die Frage, wie viel Wasser ein künftiger
Palästinenserstaat aus dem Boden pumpen und dem Jordan abzapfen darf,
war einer der Hauptstreitpunkte bei den Camp-David-Gesprächen im Jahr
2000. Experten sehen schon einen neuen Krieg am Horizont, sollte der
derzeitige einmal beendet sein: den Krieg ums Wasser.
haGalil onLine 14-07-2002 |