
Links denken, rechts wählen:
Lehren aus der blutigen Statistik
Kommentar von Ari Shavit, Ha'aretz, 12.12.2002
Übersetzung Daniela Marcus
Das grundsätzliche Paradox in der israelischen Politik ist das
Tauben-Falken-Paradox: Warum sind die Israelis in überwältigender Mehrheit
Tauben bezüglich ihrer Grundsatzpositionen, jedoch Falken bezüglich ihrer
Wahlmuster? Warum sind die Israelis auf lange Sicht gesehen Tauben, auf kurze
Sicht jedoch Falken? Und warum möchten sie Ariel Sharon als Premierminister,
obwohl sie glauben, dass die Siedlungen in den Territorien evakuiert werden
sollten?
Die Erklärung für dieses Paradox liegt zum größten Teil im
sozialpolitischen Bereich: bezüglich des Wahlverhaltens herrschende
Familientraditionen und der Zentrum-gegen-Peripherie-Komplex beziehungsweise der
Elite-gegen-gemeines-Volk-Komplex sind Ursachen, weshalb die Mehrheit der
Israelis links denkt, jedoch rechts wählt. Das israelische Volk möchte Frieden,
wird jedoch die Likud-Partei wählen.
Wie auch immer: ein Blick auf die Statistik der israelischen
Verluste seit 1986 lässt die Möglichkeit steigen, dass es noch eine weitere,
rationale Erklärung für das Tauben-Falken-Paradox gibt. Diese Zahlen zeigen,
dass die vergangenen 16 Jahre in vier verschiedene Perioden aufgeteilt werden
können. Zwischen 1986 und 1991, als sich der Friedensprozess in einem Stadium
völliger Stagnation befand, wurden pro Jahr durchschnittlich 29 Israelis während
feindlicher Aktionen getötet. In den Jahren 1992 bis 1996, den Jahren der
Oslo-Paradigmen, wurden jährlich etwa 86 Israelis getötet. Von 1997 bis zur
Mitte des Jahres 2000 –also in den dreieinhalb Jahren, in denen die früheren
Premierminister Benjamin Netanyahu und Ehud Barak versuchten, verschiedene
Revisionen des Osloprozesses durchzusetzen- wurden etwa 40 Israelis pro Jahr
getötet. Seit dem israelischen Rückzug aus dem Libanon, seit Camp David 2000 und
seit den darauf folgenden Gesprächen in Taba, bei denen den Palästinensern
Zugeständnisse gemacht wurden, wurden pro Jahr fast 300 Menschen während
feindlicher Aktionen getötet.
Die Bedeutung dieser Zahlen ist klar: ein israelischer Rückzug
oder das Versprechen eines Rückzuges führt nicht zu einem Ende des
Blutvergießens. Im Gegenteil. Jedes Mal, wenn Israel sich zurückzieht, nehmen
feindliche Aktivitäten zu. Jedes Mal, wenn Israel einen Rückzug verspricht, geht
die Kurve der Opfer nach oben. Deshalb wurden während der Amtszeit des früheren
israelischen Premierministers Yitzchak Shamir viel weniger Israelis (und
Palästinenser) getötet als während der Amtszeit der Premierminister Yitzchak
Rabin und Shimon Peres. Deshalb wurden während der Periode von Netanyahus
territorialem Geiz weniger Israelis (und Palästinenser) getötet als während der
Periode von Baraks territorialer Großzügigkeit. Somit bringt die Übergabe von
Territorium in der Realität des Nahen Ostens keinen Frieden und auch keine Ruhe.
Im Gegenteil: die Übergabe von Territorium kostet Menschenleben.
Das bedeutet nicht, dass Israel sich nicht zurückziehen muss.
Früher oder später hat Israel gar keine andere Alternative als sich
zurückzuziehen. Die moralische Pflicht gebietet es, außerdem demographische
Zahlen und internationale politische Zwänge. Was jedoch eindeutig aus der
blutigen Statistik hervorgeht, ist, dass Israel sich bezüglich der Planung eines
Rückzuges aus der Westbank und aus dem Gazastreifen nicht selbst belügen sollte:
Durch den Rückzug wird der Terror nicht zurückgehen, sondern zunehmen; der
Rückzug wird den nationalen Aufwand im Sicherheitsbereich nicht vermindern
sondern steigern; der Rückzug wird unseren Städten keine Ruhe bringen, sondern
eher den Ausbruch von Gewalt und die Gefahr eines Krieges.
Im Gegensatz zu den Politikern versteht die israelische
Bevölkerung diese grausame Komplexität. Selbst wenn sie die Zahlen der Opfer
nicht kennen und die Unterschiede in der blutigen Statistik nicht wahrgenommen
haben, nehmen die meisten Israelis eine rationale politische Haltung ein, die
genau von diesen Zahlen herzurühren scheint. Sie realisieren, dass die rechte
Politik auf lange Sicht nicht durchhalten kann und dass die Vorschläge der
Linken auf kurze Sicht gefährlich sind. Sie realisieren, dass die größte
existentielle Herausforderung, der sich Israel in diesem Jahrzehnt gegenüber
sieht, diejenige ist, wie man die Territorien am besten verlässt und dabei die
Begleitschäden niedrig hält: wie kann man sich zurückziehen und trotzdem am
Leben bleiben.
Deshalb ist das Tauben-Falken-Paradox kein Ausdruck hysterischer
Stimmung eines konfusen Mobs. Das Tauben-Falken-Paradox ist keine Laune einer
verrückten und erschrockenen Öffentlichkeit. Tatsächlich zeigt das
Tauben-Falken-Paradox, dass die Mehrheit der Israelis heutzutage reifer und
ausgewogener ist als sie jemals war. Wenn die Israelis den Meinungsforschern,
die Tag und Nacht an ihre Türe klopfen, sagen, dass sie einen rechten Führer
wollen, der linke Politik betreibt, dann sagen sie damit, dass die gefährlichen
und unentbehrlichen Schritte eines Rückzuges langsam, vorsichtig und überzeugend
vorgenommen werden müssen. Sie sagen damit, dass ein Rückzug im Kontext von
Aufbau und Ausstrahlung israelischer Stärke geschehen muss. Falls dies nicht der
Fall ist, wird die blutige Statistik ungeahnte Höhen erreichen. Israel wird
erschüttert und seine Existenz gefährdet werden.
Es ist noch nicht zu spät: diese Woche bewies die Arbeiterpartei,
dass sie beginnt, aus dem Mitzna-Traum, der ihre Sinne für einige Zeit
benebelte, aufzuwachen. Indem sie die Linken zurück ließ und sich in Richtung
Mitte bewegte, hat sich die Arbeiterpartei erneut zu einem relevanten
politischen Faktor gemacht. Nun muss sie einen Schritt weiter gehen: sie muss
das Versprechen für einen grundsätzlichen Rückzug innerhalb eines Jahres
zurücknehmen und einen Plan für das Ende der Besatzung präsentieren, der
ausgewogen, vorsichtig und auf lange Sicht angelegt ist. Sie muss beweisen, dass
sie versteht, wie riskant der unentbehrliche Rückzug ist und sie muss zeigen,
dass sie ernsthafte Lösungen für dieses gefährliche Problem hat.
Wenn die Arbeiterpartei dies tut, hat sie bei den anstehenden
Wahlen Ende Januar vielleicht eine Chance. Wenn sie den kummervollen Szenen, die
im Zentralkomitee des Likud gezeigt werden, etwas entgegen zu setzen hat, wird
die Arbeiterpartei eine Hoffnung präsentieren. Dieses Mal wird es eine klare
Hoffnung sein. Eine Hoffnung, bestehend aus Blut, Schweiß und Tränen.
hagalil.com
16-12-2002 |