
Israel vor den Parlamentswahlen:
Die Entdeckung der Müdigkeit
Die Bürger versprechen sich nichts von der
erneuten Abstimmung – Scharons Popularität leidet, doch die Macht wird er
behalten
Von Thorsten Schmitz
Jerusalem – Dem israelischen Wahlkampf fehlt die Puste. 29
Parteien haben sich für die Parlamentswahl am 28. Januar angemeldet, aber zu
hören ist von ihnen kaum Essentielles. Nach mehr als zwei Jahren Intifada, am
Vorabend eines Irak-Krieges und angesichts der schlimmsten Rezession seit den
sechziger Jahren haben weder die Politiker noch ihre Klientel Lust auf eine neue
Wahl. Das Volk ist müde, schon zum vierten Mal seit 1996 wird es zur Abstimmung
aufgerufen.
Gegen Slogans ist die israelische Bevölkerung ohnehin immun: Ehud
Barak war angetreten, einen endgültigen Frieden mit den Palästinensern
auszuhandeln. Stattdessen katapultierte ihn die Intifada vom Regierungssessel.
Sein Nachfolger Ariel Scharon wurde mit überwältigender Mehrheit im Februar 2001
gewählt, weil er Ruhe und Sicherheit versprach. Nichts von beidem setzte Scharon
um. Als ob er an sein eigenes Versprechen nicht erinnert werden möchte, schweigt
der Premier und ist landesweit nurmehr mit Konterfei und Nachnamen plakatiert:
Scharon. Als sei der Name bereits ein Gütesiegel.
Für jede Schicht eine Partei
Wie in den vorangegangenen Wahlen in Israel macht es das Gesetz
selbst kleinsten Gruppierungen einfach, sich in die Knesset wählen zu lassen.
Für die Gründung einer Partei braucht man nur 1500 Unterschriften
wahlberechtigter Israelis und eine Liste mit mehreren potentiellen Kandidaten,
schon darf man kandidieren. In einem Land, das sich aus mehreren Dutzend Ethnien
aus aller Welt zusammensetzt, gibt es für jede Bevölkerungsschicht die
entsprechende Partei. Für Russen, Kommunisten, aus dem Orient stammende Juden,
für Ultra-Orthodoxe aus den USA, selbst eine Partei für Kiffer. Ihnen werden
sogar zwei Parlamentssitze vorhergesagt, was die verzweifelte Lage in Israel auf
besondere Weise widerspiegelt: Israel gehört zu den Ländern mit hohem Pro-
Kopf-Verbrauch an Haschisch und Marihuana.
Der einzige, der sich im Wahlkampf ernsthaft mit dem
Nahost-Konflikt beschäftigt, ist der bärtige Spitzenkandidat der Arbeitspartei
Awoda, Amram Mitzna. Der 57-jährige Kibbutznik, der auf eine bewegte Karriere in
der Armee zurückblicken kann, scheut nicht das klare Wort. Am Wochenende begab
sich Mitzna zusammen mit Israels populärster TV-Reporterin auf ein für ihn
unbequemes Terrain: Er besuchte die jüdischen Siedler im Gaza-Streifen. Dort
leben rund 5000Israelis in den Filetstücken entlang des Mittelmeers, rund um die
Uhr bewacht von tausenden junger israelischer Soldaten, rund um die Uhr gehasst
von etwa 1,3 Millionen Palästinensern. Der Bürgermeister aus Haifa, der seit
zehn Jahren in seiner Küstenstadt relative Harmonie zwischen Juden und Arabern
befördert hat, sprach mit den jüdischen Siedlern Tacheles: "Wenn ich gewinne,
werde ich eure Siedlungen allesamt räumen lassen."
Noch nicht einmal Barak sprach in dieser Offenheit. Mitzna aber
weiß sich der Mehrheit der säkularen Israelis sicher, die für einen Frieden und
ein Ende der Intifada gerne auf die sinnlosen Siedlungen verzichten möchten. Auf
die Frage, weshalb die Siedler sich mit ihren Kindern ausgerechnet den
gefährlichsten Platz der Erde zum Leben ausgesucht hätten, bekam Mitzna keine
Antwort. Aber das, sagte er hinterher, hatte er auch nicht erwartet.
Mitzna ist ein erstaunlich uneitler Politiker, der mit leiser
Stimme redet und selbst bei kontroversen Gesprächen nicht laut wird. Er will mit
den Palästinensern reden, auch wenn deren Gewalt anhält. Und auch in
Palästinenserpräsident Jassir Arafat sieht er noch immer den einzigen relevanten
Ansprechpartner für Verhandlungen. Die Isolationshaft habe Arafat mehr genutzt
als geschadet, argumentiert Mitzna. Und wenn die Palästinenser nicht mit sich
reden ließen, werde er eine Trennung von ihren Gebieten einseitig forcieren.
Scharon dagegen glaubte sich bislang seiner zweiten Amtszeit so
sicher, dass er bis heute keinen klar definierten, inhaltlich fundierten Plan
offeriert, wie er mit den Palästinensern Frieden zu machen gedenke. Scharon
peilt das politische Zentrum Israels an, will er doch wieder eine Koalition mit
der Arbeitspartei eingehen. Mitzna jedoch hat diesem Ansinnen eine Absage
erteilt. So könnte es nach der Wahl zu einem Patt kommen, das keine stabile
Regierungsmehrheit zustande kommen lässt. Dann müsste erneut zur Wahl aufgerufen
werden.
Der Korruptionsskandal im Likud hat Scharons Partei einen großen
Ansehensverlust eingebrockt, weshalb er höchstens mit 30 Sitzen rechnen kann –
zu wenig, um als machtvoller Premierminister aufzutreten. Die israelische
Öffentlichkeit beschäftigt sich inzwischen mehr mit den Bankkonten der beiden
Scharon-Söhne Omri und Gilad und damit, weshalb der Premierminister bei
Polizeivernehmungen geschwiegen hatte. Die vergangenen zwei Wochen sind für
Scharon ein Spießrutenlauf und ein Alptraum zugleich. In den zwei Jahren seiner
Amtszeit verkaufte sich der 74-jährige Farmer als unbescholtener Premierminister
mit Großvaterimage, dem einzig die Existenz Israels am Herzen gelegen habe.
Scharons Popularität fußt auf der Vorstellung, er setze das Wohlergehen Israels
vor persönliche Ambitionen. Nun erfährt die Öffentlichkeit, dass Scharon dem
eigenen Portemonnaie womöglich genauso nahe war wie der Zukunft Israels.
Angesichts eines Korruptionsskandals innerhalb seiner Likud- Partei und der
ungeklärten Beschaffung eines 1,5 Millionen-Dollar-Darlehens durcheinen
südafrikanischen Familienfreund ist der schwergewichtige Scharon plötzlich nur
noch dünne Haut. Bei seiner missglückten Verteidigungsrede vergangene Woche im
Fernsehen, die dann auch noch vom Wahlkommissionsleiter wegen unlauterer
Wahlpropaganda abgebrochen worden war, schrie Scharon förmlich: "Seid ihr denn
alle verrückt geworden, dass ihr diese ganzen Vorwürfe ernst nehmt?" Voller Wut
griff Scharon Mitzna persönlich an.
Der Schlammassel der Scharons hat die Partei von einst
vorhergesagten 40 Mandaten auf 30 abrutschen lassen. Die Arbeitspartei jedoch
profitiert davon kaum: sie wird auf maximal 25 Sitze taxiert. Nach dem
gescheiterten Camp- David-Gipfel und den fehlgeschlagenen Versuchen Baraks, den
Palästinensern auf diplomatischem Wege einen Staat zu ermöglichen, sind die
meisten Israelis enttäuscht über ihre Nachbarn. Dieses Misstrauen erklärt die
Zuflucht selbst links geprägter Israelis in die Arme des Likud, der einen
Palästinenserstaat erst in Jahren in Aussicht stellt.
Der neue Königsmacher
Der große Gewinner könnte die Schinui (Wechsel)-Partei des
charismatischen Tommy Lapid werden. Viel Programm bietet die Partei nicht, aber
eine prononcierte Abneigung gegen alles Religiöse. Bis zu 15 Mandate werden der
Partei vorhergesagt, zu Lasten der ultra-orthodoxen Schas-Partei, die mit ihren
fundamentalistischen Forderungen nach Religionsgesetzen Scharon das Regieren
erschwert hat. Schinui könnte sogar zum Königsmacher werden, falls sich die
Arbeitspartei doch noch zu einer großen Koalition mit dem Likud durchringt.
Lapid schwebt eine Koalition ganz ohne die orthodoxen Parteien vor. In großen
Anzeigen schwärmt Schinui, erstmals stünde Israel vor der historischen Chance,
eine rein weltlich orientierte große Koalition formen zu können. Über die
Zukunft der Siedlungen aber herrscht Schweigen in der Partei, die sich die
Trennung von Staat und Religion zur Hauptaufgabe macht. Auch offeriert Schinui
kein wirtschaftliches Programm zur Überwindung der Rezession. Die Partei ist für
enttäuschte Arbeitspartei- und Likud-Wähler ein schmerzloser Kompromiss.
Der neue Premier wird der alte sein: Scharon. Doch ob er eine
regierungsfähige Koalition zustande bringt, wird bezweifelt.

hagalil.com
16-01-03 |