DAS SCHLAGLOCH:
Alteuropäer im Nahen Osten
Von Kerstin Decker
Gestern hat Israel gewählt.
Niemanden hat es mehr so richtig interessiert. Nicht die Israelis
selber, nicht die Palästinenser. Denn dass die Arbeitspartei die
Wahl verlieren würde, meinten alle zu wissen. Obwohl sie, wie
mancher einräumte, genau das Richtige gesagt hat. Dass Scharon
siegen würde, schien ebenso klar. Obwohl Scharon, könnte man
anfügen, nichts anderes sagt und tut als das Falsche. Wer begreift
Israel?
Schlag. Gegenschlag. Bis zum Vorwahltag
ein Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, das alttestamentarische
"Auge um Auge, Zahn um Zahn". Doch sollte man diese Analogie nicht
ohne historische Tiefenschärfe denken. Denn das "Auge um Auge, Zahn
um Zahn" bezeichnet nichts weniger als das ewige Wesen Israels, es
war viel mehr der Name für einen welthistorischen Fortschritt der
Rechtsprechung: kein Unmaß der Bestrafung mehr, keine Milde gegen
Reiche und Mächtige - vielmehr gleiches Recht für alle.
Die heutige Gewalt Israels rührt aus
einer Wurzel, vor der wir still werden müssen: nie mehr Opfer sein!
Und doch zeigt diese Gewalt die Logik der Ausweglosigkeit. Auch
George W. Bush hat das auf seine Art bemerkt. Er will das "Auge um
Auge, Zahn um Zahn" durchbrechen, indem er die Zähne des anderen
präventiv entfernt. Allerdings nur, bemerkte soeben ein Literat, bei
Gegnern, die die Kosten eines Krieges hinterher auch selber zahlen
können.
Wer den Nahen Osten ansieht, ahnt, wie
sich die Welt im Kriegsfall entwickeln wird. Die ohnmächtigen
Ironiker aller Länder danken bereits heute dem US-Präsidenten, denn
er könnte bewirken, was die Islamisten wollen, aus eigener Kraft
aber niemals schaffen würden: die Logik des Hasses zur Logik des
Globus zu machen. Bereits an Israel heute erleben wir - in
kleinerem, doch höchst explosivem Maßstab - die Crux einer Politik
der Stärke.
Trotzdem kritisiert der Zentralrat der
Juden in Deutschland Schröders Antikriegspolitik wie sonst nur
US-Verteidigungsminister Rumsfeld und Die Welt. Die
Konzentrationslager seien nicht von Demonstranten befreit worden.
Man hört dieses Argument jetzt öfter. Die letzten Kriegseuphoriker
benutzen es, indem sie sagen: Wer einen Krieg verhindern will, muss
zuerst bereit sein, ihn zu führen. Es ist aber weniger ein Argument,
es ist eine Analogie.
Analogiedenken ist suggestiv. Es kann
geistige Atemstillstände bewirken. Es ist das liebste Arbeitsmittel
aller Demagogen, aber es ist die Grundlage des Denkens zugleich. Wer
keine Ähnlichkeiten erkennt, beginnt nicht zu denken. Auch
religiöses Denken ist immer Analogiedenken, denn es ist ein
Wiedererkennen von (historischen) Bildern. Aber der Durchbruch zur
Ratio ist nicht geschafft, wo es bei der Analogie bleibt. Denn sie
macht alles gleich groß, auch die Bedrohungen. Und sie kennt keine
Beziehungen außerhalb der Analogie. Sie kann die Verhältnismäßigkeit
nicht denken.
Im Vorwurf des Zentralrats der Juden
gegen Schröder klingt die Sorge mit, Israel könne ausgeliefert
werden. Kommt man denn überhaupt heraus aus einer Politik der
Stärke? Wie verlässt man militärische Logiken? Soll Scharon vor die
Kameras treten und sagen: Tut mir Leid, es hat nicht funktioniert?
Und was sollen die USA tun? Wenn es stimmt, dass die Amerikaner
nicht nur an den Rändern des Iraks, sondern schon im Land stehen -
ist nicht bereits alles entschieden jenseits aller Blix-Berichte?
Krieger besitzen nur ein Gesicht, und das haben sie zu verlieren.
Der Oberpazifist des frühen Christentums
hatte da eine einfache Idee: die andere Wange hinhalten.
Wahrscheinlich zählen Rumsfeld und Bush ihn auch zum alten Europa.
Mag sein, dass der christliche Fundamentalist George W. Bush, ganz
Realpolitiker, Jesus für die Wangenlogik verachtet. Dann hätte er
Recht. Man muss schon Sohn Gottes sein, um sich aussichtsreich ans
Kreuz nageln zu lassen.
Vor zwei Wochen saß der Dirigent Daniel
Barenboim spanischen Journalisten auf den Kanarischen Inseln
gegenüber. Er ist gerade mit seiner Staatskapelle auf Europatournee.
Barenboim fiel vor einem Jahr, als palästinensische
Selbstmordattentate sich häuften, durch übermäßig besonnene,
alteuropäische Äußerungen auf. Dabei kommt er genau wie Bush aus
Amerika - aber nicht aus Texas, sondern aus Buenos Aires.
Aufgewachsen ist er in Israel. Wenn
Barenboim "wir" sagt, meint er entweder seine Staatskapelle oder
Israel. Würde er immer noch "wir" sagen, oder ist auch er stumm
geworden wie andere israelische Intellektuelle? Die Spanier befinden
sich gerade in einer besonders eigentümlichen Situation. Einerseits
gehören sie gewissermaßen zum Uralter Europas - schließlich hätte
uns Aristoteles niemals erreicht, wenn nicht auf dem Weg über
Spanien und die Muslime. Der Islam rettete den Philosophen vor den
Barbaren Europas.
Im Augenblick aber liegt Spanien eher in
Texas. José Maria Aznar ist mit Bush für einen Angriff auf Bagdad,
doch nur zwei Prozent der spanischen Bevölkerung wollen, was ihr
Präsident will. Schwer zu sagen, auf welche Seite die anwesenden
Journalisten gehörten. Und dann sagte Barenboim, dass es natürlich
einen eigenen palästinensischen Staat geben müsse, in Förderation
mit Israel, wirtschaftlich, wissenschaftlich, kulturell, auf längere
Sicht auch eine Föderation mit Jordanien. Und dieser
palästinensische Staat sei am besten am 14. Mai zu gründen. Die
spanischen Journalisten schauten hinter ihren Kameras hervor, als
sei der Barenboim vor ihrem Kameraauge eine Täuschung.
Aber dieser Ober-Alteuropäer aus Buenos
Aires war echt. Am 14. Mai wurde der Staat Israel gegründet. Genau,
sagt Barenboim. Der 14. Mai ist bis heute für die einen der Tag des
Sieges, für die anderen aber ist das der Tag ihrer tiefsten
Niederlage. Eben dies wäre zu ändern. Der 14. Mai - das wäre ein
Symbol.
Vielleicht kommt es auf solche Symbole
an, auf ihre unmittelbare Verständlichkeit. Wenn Israel bis heute in
den mit EU-Mitteln finanzierten palästinensischen Schulbüchern nicht
vorkommt, keine einzige israelische Stadt, kein jüdisches Heiligtum
- so müssten am Ende sogar palästinensische Schulbuchautoren
umdenken. Wer Symbole schafft, handelt nie aus Schwäche.
Es war eine ungewöhnlich symbolkräftige
Woche. Europa hat die panische Angst vor seiner Tradition verloren.
Im Zeitalter der Globalisierung bekennt es sich freimütig zu der
Vorsilbe "alt". Ohne Rumsfeld wären die Feiern zum 40. Jahrestag des
Élysée-Vertrages nie das geworden, was sie wurden. Folgt der
ökonomischen Einigung Europas jetzt auch die geistige? Nun gut, als
der Élysée-Vertrag geschlossen wurde, dachte man noch an eine
umgekehrte Reihenfolge. Aber besser spät als gar nicht. Auch dieser
40. Jahrestag wird künftig Symbolwert besitzen. Und sogar die
Altlinken, einst Intimfeinde der Tradition, stellen schon Schilder
vor ihren Sitzblockaden auf: "Hier sitzt Alteuropa."
Terror eines abstrakten,
handlungsunfähigen Gutmenschentums? So wenig wie die Entstehung
europäischen Vertragsrechts nach dem Terror des Dreißigjährigen
Krieges eine Reaktion des Gutmenschentums war.
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29-01-2003 |