
Geläuterter Bulldozer?
Der doppelte Scharon
Von Thorsten Schmitz
Der Versuch der Palästinenser, mit Gewalt einen Staat zu
erlangen, hat Israel einen Premierminister beschert, der ohne diese Gewalt nie
an die Macht gelangt wäre. Das Nein der Palästinenser zu Ehud Baraks weit
reichendem Friedensangebot ist das Fundament für Ariel Scharons Macht. Die
Israelis misstrauen Jassir Arafat, der nicht den Mut besitzt, seinem Volk einen
Frieden zu verkaufen, der auf Kompromissen basiert. Und die Mehrheit in der
Bevölkerung, die den Palästinensern einen Staat und sich selbst ein Leben ohne
Gewalt wünscht, ist von den Palästinensern enttäuscht. Diese Enttäuschung,
gepaart mit Angst, ist der Nährboden für den unglaublichen Erfolg von Ariel
Scharon. Ruhe und Frieden hat er versprochen, nichts von beidem in die Tat
umgesetzt – und dennoch wird er bei der Parlamentswahl am Dienstag nächster
Woche wieder gewinnen.
Scharon verfügt über keinen anderen Plan außer über den, das
Westjordanland für die 200000 jüdischen Siedler ruhig und sicher zu machen.
Dabei fordert er die israelische Nation auf, geschlossen hinter seinem breiten
Rücken zusammenzustehen. Er suggeriert Tatkraft im Kampf gegen die
Palästinenser, lässt das Militär auffahren gegen Terroristen und blendet
gleichzeitig die Frage nach der Besatzung aus, die letztlich Israels Moral
unterhöhlt.
Scharon gelingt es, die Grenzen zu verwischen zwischen dem
legitimen Kampf gegen palästinensische Terrorgruppen und der Verteidigung der
illegalen Siedlungen. "Langfristig" stellt er zwar einen Palästinenserstaat in
Aussicht und spricht von "schmerzhaften Kompromissen", aber das ist vage
Friedensrhetorik mit dem Zweck, die strategisch lebenswichtigen Beziehungen zu
den USA nicht zu gefährden. Mit Erfolg: US-Präsident George W. Bush betrachtet
Scharon neben Großbritanniens Premier Tony Blair als verlässlichsten Alliierten
im Kampf gegen den globalen Terrorismus.
Indem Scharon die Hamas, den Islamischen Dschihad und die Milizen
von Arafats Fatah-Organisation zur "Achse des Bösen" zählt, ist ihm das
Kunststück gelungen, dass die USA die Zerstörung von Arafats Autonomiebehörde
quasi legitimieren – und dass Israel von den USA schon lange nicht mehr für die
jüdische Besiedlung des Westjordanlands und des Gaza-Streifens gerügt wurde.
Israels Premierminister hat es sich bequem gemacht in der Intifada. Sie stützt
ihn. Arafat wiederum hat sich von Scharon dieses Kunststück abgeschaut und
gaukelt seinem Volk nicht vorhandene Führungskraft vor. Zwar gibt es inzwischen
auch Intifada-müde Stimmen unter den 3,5Millionen Palästinensern, aber sie
verstummen in Arafats Autokratie.
Vor seinem Amtsantritt eilte Scharon der Ruf voraus, Intrigen zu
spinnen, zu geifern und politische Gegner niederzubrüllen. Heute gibt sich der
74-Jährige als Großvater der Nation, dem das Wohl des Landes näher liegt als
persönliche Ambitionen. Selbst der Korruptionsskandal in seinem Likud und die
polizeilichen Ermittlungen gegen Familie Scharon schaden dem Regierungschef
nicht. Sich unerschütterlich zu geben fällt ihm deshalb leicht, weil er am Ziel
seiner Träume angelangt ist: auf dem Posten des Premierministers.
Seine Ambition, die Geschicke einer Nation zu lenken, entspringt
jedoch nicht primär dem Wunsch, dem Land Frieden zu bescheren. Den wird er
selbst nicht mehr erleben, das weiß er. Scharons Triebfeder ist es, seinen Ruf
als "Bulldozer" zu korrigieren. Seit dem Massaker in den libanesischen
Flüchtlingslagern Sabra und Schatila 1982, für die ihm von einer israelischen
Kommission Mitverantwortung attestiert worden war, lastet so etwas wie ein Fluch
auf ihm. Den muss er loswerden, um seinen Seelenfrieden zu finden. In Israel ist
ihm die Korrektur dieses Bildes geglückt. Selbst linke Politiker wie
Oppositionsführer Jossi Sarid sprechen von einem "geläuterten" Scharon. Nur
weltweit sieht man ihn noch immer anders. Er braucht geradezu diese zweite
Amtszeit, um den Rest der Welt von einem angeblich anderen Scharon zu
überzeugen.
Für die Polierung seines Rufs und für seinen Machterhalt ist
Scharon auf Arafats Mitarbeit angewiesen. Der hat ihn in den vergangenen zwei
Jahren nicht enttäuscht. Die Palästinenser töten fast jeden Tag und werden fast
jeden Tag getötet, und alle Appelle Arafats zum Ende der Gewalt entpuppen sich
als Lippenbekenntnisse. Mit dieser Gewalt der Palästinenser legitimiert Scharon
die Wiederbesetzung der Autonomiezonen und macht dem israelische Volk weis,
durch Einmarsch und Ausgangssperren werde Schlimmeres verhindert. Obwohl die
Liquidierungen, Hauszerstörungen, Olivenhain-Vernichtungen eine neue Generation
potenzieller palästinensischer Attentäter hervorbringt und der teure
Militäreinsatz Israel eine beispiellose Rezession bescherte, hat Scharon nicht
an Popularität verloren.
Das Credo der Arbeitspartei und ihres Spitzenkandidaten Amram
Mitzna, sich von den Palästinensern notfalls einseitig zu trennen und Siedlungen
aufzulösen, erscheint als logische Alternative. Doch Logik ist im Nahost-
Konflikt keine Größe, die zählt. Die Israelis haben Angst um ihre Heimat und
vertrauen mehrheitlich einem Premierminister, der Stärke suggeriert – und dessen
einzige Angst darin besteht, die Macht abgeben zu müssen.

hagalil.com
21-01-03 |