
Stimmenfang:
Roter Platz im gelobten Land
Israels Parteien buhlen um die Stimmen der
russischen Einwanderer – sie machen fast ein Fünftel der Einwohner aus und leben
doch sehr isoliert in der neuen Heimat
Von Thorsten Schmitz
Ein Fünftel der Gesamtbevölkerung Israels sind Russen, ihre
Stimmen sind bei der Parlamentswahl am kommenden Dienstag genauso entscheidend
wie die der arabischen Israelis. So buhlen fast alle Parteien um die Gunst der
Russen, darunter die rechtsextreme Nationale Union des russischstämmigen Avigdor
Lieberman sowie die Immigrantenpartei "Israel B’Alija" von Wohnungsbauminister
Natan Scharanski, einem ehemaligen Gulag-Häftling. Der unter Russen sehr
populäre Scharanski hatte vergangenen Sommer durch seine Forderung nach
Entmachtung von Palästinenserpräsident Jassir Arafat US-Präsident George W. Bush
als Ideenlieferant für dessen programmatische Nahost-Rede geholfen.
Premier Ariel Scharon und Arbeitspartei- Chef Amram Mitzna werden
in russischen Wahlkampfspots ausschließlich als "starke" Männer portraitiert,
denn Israels Russen wählen traditionell rechts. Von Linken und Kommunisten haben
sie genug. Noch aber haben sich 50 Prozent der Russen laut Umfragen nicht für
eine Partei entschieden. Viele schwanken demnach noch zwischen dem Likud und der
säkularen "Schinui"-Partei.
Die größte Auswanderungswelle hatte der russische Ex-Staatschef
Michail Gorbatschow initiiert. Auf dem Höhepunkt des Zerfalls der UdSSR
gestattete er 1989 allen Juden die sofortige Ausreise. Israel tut alles, um
jüdischen Russen den Umzug ins gelobte Land so attraktiv wie möglich zu
gestalten. Vertreter der "Jewish Agency" in Moskau, Kiew und Nowosibirsk locken
mit dem Argument, in Israel brauche man keinen Antisemitismus zu fürchten.
Außerdem erhalten die "Olim Chadaschim" (Neueinwanderer) Kühlschränke gratis und
zinsgünstige Kredite für Häuserbau in den besetzten Gebieten.
Es ist Scharons Ziel, in den kommenden zehn Jahren eine Million
Juden aus der Diaspora nach Israel zu holen. In der "Heimholung" der Russen
sieht er ein zionistisches Ideal realisiert, verfolgt damit aber auch
demographische Absichten. Denn in wenigen Jahren werden in der Region mehr
Palästinenser leben als Juden. Dennoch ist für russische Juden Israel stets die
zweite Wahl vor den USA. Aus russischer Sicht herrscht in Israel ein archaisch
anmutender Krieg mit den Palästinensern um Land und Boden, während die Russen
doch Anschluss suchen ans High-Tech-Zeitalter. Viele sind Akademiker – und enden
in Israel als Verkäufer oder als Müllmänner. Die Intifada hat Israel in eine
tiefe Rezession gestürzt. Auch schreckt viele Russen die ungestüme israelische
Mentalität ab. So leben viele russische Juden sehr isoliert von ihren
Landsleuten, es gibt nur wenig Kontakt zwischen Russen und "Sabres", den in
Israel Geborenen. Das liegt auch daran, dass das religiöse Israel vielen Russen
vorhält, sie verfügten höchstens über jüdische Großväter und hielten sich nicht
an jüdische Traditionen. Zum Missfallen des Oberrabinats feiern viele Russen
Weihnachten und essen Schweinefleisch.
In der Welt der israelischen Russen fehlt es an nichts. Es gibt
vier Tageszeitungen, elf Wochenblätter, fünf Magazine und drei russische
Fernsehsender, die aus Moskau direkt ins Kabelnetz eingespeist werden. Russisch
ist neben Hebräisch und Arabisch zur inoffiziellen dritten Amtssprache
avanciert. Auf der Post, im Einwohnermeldeamt, bei der Polizei und an den
Universitäten wird russisch gesprochen. Außerdem gibt es russische Parteien,
Restaurants, Buchhandlungen, Discos, Läden und sogar einen "Roten Platz" – in
der Küstenstadt Aschdod.

hagalil.com
22-01-03 |