Die rote Linie überschritten:
Handeln oder untergehen
Wenn wir nun an einem Punkt angelangt sind, an dem
Reservisten denken, sie befinden sich im falschen Krieg, dann wissen
wir, dass wir die rote Linie überschritten haben.
Kommentar von Yoel Marcus, Ha’aretz, 08.02.2002
Der Brief der Reserveoffiziere einer Kampfeinheit,
die ihren Dienst in den Territorien verweigert haben, ist ein Ereignis,
das unser Herz einen Schlag aussetzen lassen sollte.
Erstens: es ist unerträglich, dass Soldaten annehmen,
sie haben das Recht, einen Befehl zu verweigern. Für solch eine Sache
gibt es kein Verständnis, egal, wie man sie betrachtet. Heute verweigern
sie, ihren Dienst in den Territorien zu leisten; morgen verweigern sie,
die Territorien zu evakuieren. Die Armee ist nicht die Gewerkschaft oder
irgendeine Körperschaft; in der Armee streikt man nicht.
Zweitens: Dieser Protestbrief –mag er noch so mild
ausgedrückt sein- signalisiert eine nationale Stimmung, die sich schnell
in eine Art von zivilem Aufstand und in den Ausbruch eines einheimischen
Chaos ausweiten kann. Der Protest eines einzigen Soldaten -eines
Burschen namens Motti Ashkenazi- nach dem Fiasko des Yom-Kippur-Krieges
brachte eine Lawine ins Rollen und führte dahin, dass die Mapai-Partei
über Generationen hinweg ihre Macht verlor.
Drittens: die Vorstellung, dass die Regierung als
höchste Befehlsinstanz der Armee mit dem Ruf „Folgt mir!“ vorwärts
marschiert und dann feststellt, dass niemand hinter ihr ist, reicht aus,
um einem das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Ein Land, das auf
eine Reservearmee angewiesen ist, braucht einen nationalen Konsens unter
seinen Soldatenbürgern. Ein andauernd tiefer Graben zwischen den
Soldaten und der Regierungspolitik ist ein Zeichen dafür, dass die
innere Stärke der Nation bröckelt.
Die Intifada hat uns zweifelsohne an den Rand gebracht.
Man kann es an unseren militärischen Reaktionen sehen und ebenso an der
schleichenden Verzweiflung der Menschen. Wir realisieren, dass unsere
Macht in dieser Art von Krieg nicht effektiv ist. Was haben der frühere
Premierminister Ehud Barak und der jetzige Premierminister Ariel Sharon
nicht alles unternommen, um die palästinensische Gewalt zu zerstören?
Bomben, die von F-16-Fliegern abgeworfen wurden, was wir uns in unseren
wildesten Träumen nicht vorgestellt haben. Und dazu jede mögliche
Methode der Zerstörung, Belagerungen und Abriegelungen, Panzer und
Hubschrauber, Präventivschläge und Liquidationen.
Inzwischen sagen frühere Leiter des Geheimdienstes Shin
Bet, dass sich die israelische Liquidationspolitik nicht auszahlt. Was
als Präventivmaßnahme gemeint war, wurde von der Welt als
Mördergesellschaft interpretiert und diente den Palästinensern als
zusätzliche Entschuldigung für eine Masse von Terroranschlägen. Gemäß
eines jeden Kriteriums, das von unseren Führern dargelegt wurde, hat es
sich als unglücklicher Fehlschlag erwiesen, den Terror mit militärischen
Mitteln auslöschen zu wollen.
Wenn man den Schaden abschätzt, so kommen wir schlechter
weg als die andere Seite. Es ist nicht nur wahr, dass wir dieser anderen
Seite eine enorme Summe an physischen Schaden zugefügt haben, sondern
wir haben auch den palästinensischen Hass und die palästinensische
Motivation verstärkt. Es gibt nichts gefährlicheres und grausameres als
einen verzweifelten Feind. Der Schaden auf unserer Seite ist
psychologischer Art: Wir leben in ständiger Angst vor dem nächsten
Selbstmordattentäter. Das Ableben der Tourismusindustrie, der Stopp an
Investitionen, die soziale Situation, die Machtlosigkeit unserer Führer,
das ständige Kriechen auf ausländisches Weideland (für die, die es
können) attestieren die tiefen psychologischen Wunden. Wenn wir nun an
den Punkt kommen, an dem Reservesoldaten denken, sie befinden sich im
falschen Krieg, dann wissen wir, dass wir die rote Linie überschritten
haben.
Wir lassen keinem Führer freie Hand, unser Land zu
zerstören. Auf einem Gebiet haben Barak und Sharon wie siamesische
Zwillinge operiert: Beide haben versucht, Arafats und der PA „wahres
Gesicht zu entlarven“ oder deren „Maske abzuziehen“. Der Gedanke dabei
ist, Amerikas Unterstützung für uns aufrecht zu erhalten. Aber um das
wahre Gesicht der Palästinenser zu zeigen, sollten wir nicht zu hart
arbeiten. Schließlich wissen wir genau, wie sie aussehen.
Dort gibt es nicht solche Dinge wie das Zurückschrecken
vor einem Befehl, Frauen und Kinder zu töten. Dort gibt es keine
Protestbriefe von Offizieren. Wir könnten eine ganze „Blut-Enzyklopädie“
schreiben über all das, was sie uns in den letzten siebzig Jahren
angetan haben und versucht haben, anzutun. Aber das ist nicht der Punkt.
Dies ist die Nation, mit der wir leben müssen, mit der wir Kompromisse
schließen und ein Abkommen erreichen müssen.
Mit Amerika gut zu stehen ist sehr wichtig. Und nach der
Zerstörung der Zwillingstürme hat US-Präsident George W. Bush ein
besseres Verständnis für unsere Sorgen und Ängste. Aber diejenigen, die
vorgeben, dass alles gut ist, bringen uns einer Lösung um keinen Jota
näher. Im Gegenteil, sie bestätigen den Status quo, und das ist nichts
anderes als eine Rückwärtsbewegung. Die Medien haben oft über Sharon
geschimpft, weil er nicht zu seinem Volk spricht. Als wir ihn nun jedoch
am Vorabend seiner Abreise nach Amerika ununterbrochen reden hörten,
wussten wir, warum er sonst nicht sprach. Er hat nichts zu sagen; er hat
keinen Plan; er hat keine politische Lösung; er hat keine militärische
Lösung. Vergesst den Frieden. Vergesst die Sicherheit. Sharon nähert
sich dem zweiten Jahr seiner Amtszeit und sein Versagen als Führer steht
bereits an der Wand geschrieben. Wenn er jetzt nicht handelt, wird er
untergehen.
haGalil onLine
08-02-2002 |