Verweigerer in der israelischen Armee: "Wir kämpfen nicht, um eine ganze
Bevölkerung zu erniedrigen"
Ein
Nein aus der stillen Reserve
Warum die Regierung um das Image der Armee bangt–und immer mehr Soldaten
lieber ins Gefängnis gehen, als in den besetzten Gebieten zu dienen
Von
Thorsten Schmitz
Jerusalem, im Juli – Das
Lächeln des Wachmanns vor dem Café gefriert, er rückt seine Kippa
zurecht und verschränkt die Arme vor dem Bauch. Der Wachmann verweigert
den Dienst. Er weigert sich, Sergio Jachni nach Waffen zu untersuchen,
und ohne Sicherheits-Check darf Jachni nicht ins Café. Der Wachmann ruft
per Walkie Talkie einen Kollegen, der schließlich einen Metallscanner an
den Hosenbeinen von Sergio Jachni entlang wandern lässt. Erst jetzt darf
dieser das Gittertor zum Café öffnen. Der Wachmann hat den Dienst an
Sergio Jachni verweigert, weil Sergio Jachni den Dienst in der Armee
verweigert. "So einen", hatte der Wachmann gesagt und Jachni keines
Blickes gewürdigt, "untersuche ich nicht."
Vor zwei Monaten hat sich an
einem Samstagabend ein Palästinenser im Café Moment in die Luft
gesprengt und elf Menschen mit in den Tod gerissen. An dem Abend hatte
sich an der Bar eine Fotografin des Massenblatts Maariv mit Freunden
getroffen. Nach der Explosion machte sie, wie ferngesteuert, Bilder, die
Maariv auf ganzen Seiten veröffentlichte. Bilder des Grauens, Bilder mit
Toten, die unter den Caféhausstühlen lagen oder über der Bar
zusammengesackt waren. Entsetzliche Bilder, die vor Blut trieften. Seit
einem Monat hat das Café wieder geöffnet, die Besitzer ließen es genauso
renovieren wie es vor dem Anschlag war, nur dass jetzt auch Fernseher
auf den Toiletten laufen. Aus den Lautsprecherboxen tönt Leonard Cohen,
kein MTV wie sonst.
Durst, der das Leben rettet
An jenem Samstagabend, an dem ein
22-jähriger Palästinenser seinen Körper als menschliche Bombe einsetzte
und Menschen tötete, die er nicht gekannt hatte, waren Sergio Jachni und
eine Freundin durstig. Jachni holte die Freundin ab, und zu Fuß machten
sie sich auf den Weg ins Café Moment, das vis-à-vis der Jerusalemer
Residenz von Premierminister Ariel Scharon liegt und das deshalb bis
dahin als der sicherste Ort in Jerusalem galt. Welcher
Selbstmordattentäter wird sich schon hierher trauen, wo es vor
Polizisten und Geheimdienstagenten nur so wimmelt. So dachten die Gäste
des Moment und auch die Bewohner des noblen Rechavia-Viertels. Die
Freundin wollte einen Kaffee trinken, Sergio war plötzlich nach einem
kühlen Bier. So entschieden sich die zwei für eine Bar, nicht für das
Moment. Der Durst, sagt der 34 Jahre alte Sergio Jachni aus Buenos
Aires, habe ihm vermutlich das Leben gerettet.
Wir sitzen in einem Café, in dem
elf Menschen getötet wurden, und Jachni sagt, er habe Angst, dass
dasselbe auch uns passieren könne. Wie er überhaupt Angst habe vor den
Palästinensern und ihren autonomen Gebieten, deren Autonomie derzeit
wegen der israelischen Militäroperation "Entschlossener Weg" auf ein
Minimum reduziert ist. Und trotzdem geht Jachni in die
Palästinensergebiete, nach Dschenin, Nablus, Tulkarem, Ramallah. In all
jene Orte, in die jüdische Israelis laut Regierungsbeschluss nicht
dürfen, weil ihr Leben dort in Gefahr ist. Als Mitglied einer
Nichtregierungsorganisation (NGO) dringt er über Schleichwege und
Holperpfade in die palästinensischen Städte ein und nimmt die Gefahr in
Kauf, dort als Jude erkannt zu werden, weil er trotz der inzwischen 560
getöteten Israelis eine Vision hat: die Vision von einem Zusammenleben
mit den Palästinensern. Die Besatzung sei Gift, das Israels Moral
zersetze.
Sergio Jachni sitzt im "Moment",
zündet eine Zigarette an der nächsten an, nippt am Kaffee, seine Augen
können nicht ruhig an den Augen seines Gegenübers haften bleiben. Er
spricht im Stakkato, schwitzt dabei, als bereitete ihm die Besatzung von
Westjordanland und Gaza-Streifen physische Qualen. Sergio Jachni ist
tatsächlich zerrissen. Er liebt Israel, seine Landschaft, die Natur, und
macht Radtouren in den Golan-Höhen, die Israel seit dem Sechs-Tage-Krieg
von 1967 besetzt. Aber er hasst den Staat dafür, dass er sich vor den
Palästinensern zu schützen glaubt, indem er ihnen vorschreibt, wann sie
einkaufen gehen dürfen oder zum Arzt in eine andere Stadt. Und er hasst
die jüdischen Siedler, die dafür sorgen, dass die Autonomiegebiete ein
palästinensischer Flickenteppich sind, der nie zu einem Ganzen
zusammengenäht werden kann.
Sergio Jachni hat nicht immer so
gedacht. Mit 18, gerade die Schule hinter sich, hat er den drei Jahren
Grundwehrdienst–Frauen müssen nur zwei Jahre in die Armee–nahezu
entgegengefiebert. Hat sich als Fallschirmjäger spezialisiert, in
Elite-Einheiten gedient, bis er dann mit 20 in den Süden Libanons
geschickt wurde, wo Israel 18 Jahre eine Sicherheitszone installiert
hatte, um sich vor den Raketen der Hisbollah- Guerilleros zu schützen –
ohne dabei zu beachten, dass Raketen vor Stacheldrahtzäunen und Panzern
keinen Halt machen. "Der Libanon hat mir die Augen geöffnet", erzählt er
mit zugekniffenem Blick.
Von da an wollte er nicht mehr in
einer Armee dienen, die Gebiete besetzt, "wo wir nichts zu suchen
haben". Er begann, den Dienst zu verweigern, was in Israel sehr
ungewöhnlich ist. So ungewöhnlich, dass die Armeeführung zunächst
versöhnliche Angebote machte, die paar Verweigerer zu versetzen, um so
wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Doch Sergio Jachni ist ein
hartnäckiger Fall, seit 1988 verweigert er den Reservedienst, den Männer
in Israel jedes Jahr vier Wochen lang bis zum Alter von 44 Jahren
ableisten müssen, und war seitdem viermal im Gefängnis, mal 28 Tage
lang, mal 35. Das letzte Mal musste er seinen Koffer für einen Monat
Haft packen, als er im April der Einberufung zur Militäroperation
"Schutzschild" nicht Folge leistete. Ein Offizier hatte ihn extra
angerufen und um ein Treffen gebeten. Er hatte versucht, Sergio Jachni
zu überreden, doch der blieb sich treu und ignorierte den Tipp seiner
Freunde, eine Krankheit zu simulieren, mit einem aufrechten Gang ins
Gefängnis.
23 Stunden Nichtstun
Zuvor hatte Jachni dem
Verteidigungsminister in einem Brief geschrieben, er könne keinen Dienst
tun in den Gebieten, weil die Armee einen "schmutzigen Krieg" führe
gegen die Palästinenser mit außergesetzlichen Tötungen, den Mord an
Frauen und Kindern, der Zerstörung von Häusern und Olivenhainen. Statt
Hoffnung säe die Armee Verzweiflung unter den Palästinensern – und keine
Sicherheit für Israels Zivilisten. Auf den Brief bekam er bis heute
keine Antwort. Jachni wirft Scharon vor, er wolle durch seinen
"konservativen Kolonialismus" einen Nahen Osten ohne Araber schaffen,
Arafat sei Führer einer unterdrückten Nation, dem die Hände gebunden
seien, entschuldigt er den Palästinenserführer.
Das Einzige, was Sergio Jachni im
Gefängnis fürchtet, ist die Langeweile: "Sie bringt dich um." Morgens um
fünf ist Kollektivwecken, danach Bude aufräumen, danach 23 Stunden
nichts tun. Beim letzten Mal haben Jachni und die anderen Verweigerer,
allesamt studierte Männer aus der High-Tech- Industrie oder dem
akademischen Leben, eine Volkshochschule hinter Gittern eingerichtet.
Ein Mathematiker führte die anderen Gewissenskollegen in die
Quantentheorie ein, ein Sachbuchschriftsteller hielt einen Vortrag über
den Holocaust, und Jachni selbst berichtete vom Leben der Palästinenser
und was seine NGO-Organisation an täglicher Hilfe zu Stande bringt.
Immer mehr israelische
Reservesoldaten brechen mit der Armee– und die Armee mit ihnen. Bis zu
tausend Reservesoldaten haben seit Beginn der zweiten Intifada den
Dienst in den besetzten Gebieten verweigert, 91 mussten dafür
Haftstrafen in Kauf nehmen. Ihr Hauptargument: Sie wollen nicht als
Kanonenfutter eingesetzt werden für eine Regierung, die den Dienst als
Schutz- Maßnahme verkauft, die tatsächlich aber die Soldaten für die
Institutionalisierung der Besiedlung missbrauche. Zuerst ausschließlich
mit israelischen Journalisten im Gespräch, seit ein paar Monaten nun
auch mit Korrespondenten aus aller Welt–schildern die Offiziere,
Jom-Kippur- Kriegsveteranen und Reservesoldaten Details aus einem
demütigenden Alltag in den Gebieten. "Wir kämpfen nicht, um eine ganze
Bevölkerung auszuhungern, zu erniedrigen, zu dominieren." In der Gruppe
"Jesch Gvul" ("Es gibt eine Grenze") haben sich die Verweigerer
organisiert, die 1982 als Reaktion auf den israelischen Einmarsch in
Libanon gegründet worden war.
Der Regierung ist die Bewegung
unheimlich – und peinlich. Sie fürchtet um die Reputation der Armee, die
den israelischen Alltag bestimmt, und beschimpft die Verweigerer.
Während der Staat für den Verdienstausfall der Reservesoldaten aufkommt,
wenn sie statt in ihren Firmen in palästinensischem Gebiet Dienst
schieben, bekommen Verweigerer keinen Schekel von Jerusalem, selbst wenn
sie einen Monat in Haft bleiben, Familie und Job haben. Doch die
Soldaten stoßen auf zunehmende Sympathie in einer Gesellschaft, die nach
35 Jahren der Besatzung von Westjordanland und Gaza-Streifen erkennt,
dass nur die Aufgabe der 150 jüdischen Siedlungen die Vision einer
friedlichen Zukunft nähren könne.
Omri Jeshurun sitzt auf dem Rasen
im Kibbutz Jagur nahe der Küstenstadt Haifa und sagt: "Ich bin kein
Held." Es ist früher Abend, die Bewohner kommen nach Hause, grüßen ihn,
ein Freund auf der Vespa hält an und erzählt Omri von seinem
Reservedienst in Dschenin vor ein paar Tagen. Der Freund hasst es, in
den Gebieten eingesetzt zu werden, aber noch viel mehr fürchtet er sich
vorm Gefängnis. Er bewundert Omris "Mut". Omri versichert dem Freund,
das Einzige, wovor er Angst haben müsse im Gefängnis, "ist die
Langeweile". Omri Jeshurun ist 26 Jahre alt und hat zum ersten Mal in
seinem Leben das Gefühl, im Reinen zu sein mit seinem Gewissen. Es habe
eine Zeit gegeben, "da habe ich meinen Panzer geliebt". Eine Zeit, in
der er ständig gezwungen gewesen sei, Dinge zu tun, die er nicht tun
wollte, in der Hoffnung, nicht noch schlimmere Dinge tun zu müssen. Omri
erinnert sich an die vor Schreck geweiteten Augen palästinensischer
Kinder, wenn er zusammen mit Soldaten in deren Häuser eindrang und die
Familie zum Verlassen aufforderte. Blicke, die ihn verfolgten.
Drei Jahre für die Heimat
Auch die von Hass erfüllten
Gesichter jugendlicher Palästinenser bei der Festnahme von
Familienmitgliedern: "Du nimmst jemanden fest und weißt, dass der
15-jährige Bruder in drei Jahren ebenfalls kämpfen wird gegen dich, und
dass du dann wieder in dasselbe Haus gehen wirst." Omri Jeshurun war in
all den Orten, die abends in der Tagesschau auftauchen, in Ramallah,
Gaza, Dschenin, Nablus und Rafiach. Er sei bereit gewesen, "mein Bestes
zu geben". Mit 18, wenn ausnahmslos alle Israelis einberufen werden, sei
man naiv und blind. Es ist eine Liebe, die sich automatisch einstellt:
drei Jahre lang verteidigt und kämpft der Soldat für seine Heimat. Bei
Jachni ist diese Liebe inzwischen abgekühlt. Jeshurun hat bereits
dreimal den Dienst verweigert, war schon dreimal im Gefängnis deshalb,
aber er bereut das nicht, im Gegenteil: "Ich bin sehr glücklich."
Einfach sei das nicht gewesen, denn die Armee zu verweigern, sei ein
schwerer Schritt: "Du stellst dich gegen alles, womit du aufgewachsen
bist." Als Jugendlicher bekomme man ein militärisches Ethos eingeflößt,
das Sicherheit und Schutz durch die Armee garantiere. Inzwischen aber
sehe er nicht mehr ein, jüdische Siedler zu beschützen, auch aus einem
Instinkt heraus: "Wenn wir als Nation moralisch überleben wollen, müssen
wir aus den Gebieten raus."
Es ist nicht so, dass Omri
Jeshurun die Loyalität zu seiner Heimat aufgekündigt hat. Er sei
jederzeit bereit, sein Land zu verteidigen. Aber Israel habe nicht das
Recht, in Westjordanland und im Gaza-Streifen zu sein: "Das ist
Palästina, und wir sollten dort nicht sein." Und obwohl eine von Omris
entfernten Cousinen vor mehreren Monaten in Jerusalem von einem
Palästinenser erstochen wurde, sagt er: "Ich will, dass sie ihren
eigenen Staat bekommen." Er hoffe, mit seinem Schritt ein Signal gesetzt
zu haben – auch an die Palästinenser.
Wobei das Signal auch falsch
verstanden werden könne: "Ich bin sicher, ich mache mit meinem
Entschluss auch einige Hamas-Terroristen happy."
haGalil onLine 09-07-2002 |