Das Lebenswerk Scharons:
Siedlungen
Kein Politiker in Israel hat sich mehr um
Siedler auf besetztem Boden verdient gemacht. Seit seinen frühen Tagen als
Landwirtschaftsminister 1977 ist Scharon die treibende Kraft hinter der
Konfiszierung und Besiedlung von Land im Gaza-Streifen und im Westjordanland
gewesen
von AVI MOGRABI
Avi Mograbi ist Filmemacher und lebt in Tel Aviv. Sein
Film "August" wurde auf der Berlinale 2002 mit dem Friedensfilmpreis
ausgezeichnet. Übersetzung: Harald Fricke
Ich sitze vor dem Fernseher und schaue mir eine Übertragung
des Kabelsenders al-Dschasira an. Die israelische Armee, unsere Armee, hat den
Sitz von Jassir Arafat in Ramallah umstellt, ist in das Gebäude eingedrungen und
hat unvorstellbaren Schaden angerichtet. Die israelische Regierung ist zu einer
groß angelegten Militäroperation entschlossen, für die sie extra Soldaten
braucht. 20.000 Reservisten wurden bereits eingezogen.
Ich bin kein großer Freund des israelischen
Ministerpräsidenten. Doch nehmen wir einmal an, auch ich wäre der Meinung, dass
man den Terror nur mit Gegengewalt bekämpfen kann. Nun frage ich mich, wie man
dieses Ziel ausgerechnet mit der Isolierung Arafats erreichen soll? Warum sollte
dieses Vorgehen den nächsten Selbstmordattentäter stoppen? Wie kann die
Isolierung des Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde denjenigen
Hoffnung zurückbringen, die diese Hoffnung längst verloren haben und deshalb
entschlossen sind, unser Leben so unglücklich zu machen wie ihr eigenes? Hätte
Scharon das israelische Militär angewiesen, die Stützpunkte und Sprengstofflager
ausfindig zu machen, die Handlanger und die Ausführenden der terroristischen
Aktionen festzunehmen - dann hätte jeder, der an die Durchsetzungskraft des
Militärs im Kampf gegen den Terror glaubt, weiter auf eine Eindämmung des
Terrorismus hoffen können. Indem Scharon aber Arafat praktisch wie in einem
Käfig einsperren ließ, hat er nur mehr Anreiz geschaffen, dass der nächste
Selbstmordattentäter neues Leid bringt.
Es ist eine traurige Wahrheit: Scharon kann weder den
Palästinensern noch den Israelis irgendwelche Hoffnungen geben. In den 29 Jahren
seiner politischen Laufbahn hat er nicht die geringste Ahnung gehabt, wie er den
israelisch-palästinensischen Konflikt auf friedlichem Wege lösen könnte, noch
hat er sich je darum bemüht, die bereits ausgehandelten Friedensverträge mit
Ägypten und Jordanien zu unterstützen. Er kann es auch gar nicht - wenn sein
ganzes Lebenswerk darin besteht, für mehr jüdische Siedlungen in besetzten
Gebieten zu sorgen, dann hat er auch nichts zur Lösung eines Konflikts
beizutragen, der genau in der Existenz dieser Siedlungen besteht. Das ist sein
Lebenswerk: Kein Politiker in Israel hat sich mehr um die jüdischen Siedler auf
besetztem Boden verdient gemacht. Seit seinen frühen Tagen als
Landwirtschaftsminister 1977 ist Scharon die treibende Kraft hinter der
Konfiszierung und Besiedlung von Land im Gaza-Streifen und im Westjordanland
gewesen. Er war es, der Israelis glauben ließ, dieses Land sei ihr Land - unser
Land.
Insofern zweifle ich sehr, ob es wirklich Scharons Ziel ist,
den Terror zu stoppen und Friedensgespräche zwischen Israel und Palästina neu zu
beginnen. Sollten die Verhandlungen in Bewegung kommen, wäre Scharon mit der
entscheidenden, wenn nicht einzigen Frage konfrontiert, um deren Lösung es geht:
die Zukunft der Siedlungen. Ich glaube deshalb fest, dass er alles daran setzt,
Wege zu finden, um sich dieser Frage nicht stellen zu müssen.
Es ist verrückt, aber niemand erwähnt noch, dass die
Siedlungen in den besetzten Gebieten selbst Kriegsverbrechen sind. Nach der
vierten Genfer Konvention, Artikel 49, dürfen durch die Besatzermacht
"Zivilisten nicht vertrieben oder deportiert werden und keine eigene
Zivilbevölkerung angesiedelt werden". Als Israel vergangenes Jahr um die
Teilnahme am internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gebeten wurde,
sagte man zwar zu, wollte aber die entsprechenden Abschnitte bezüglich der
Genfer Konvention ausklammern. Tatsächlich hat Israel an die 200.000 Juden in
den besetzten Gebieten angesiedelt - das gilt es für den Ministerpräsidenten zu
verteidigen.
Scharon hat erklärt, dass seine Entscheidungen allein darauf
abzielen, weitere Morde durch palästinensische Terroristen an der israelischen
Bevölkerung zu verhindern. Doch während seines ersten Amtsjahres wurden über 300
Israelis bei Terroranschlägen getötet, das sind mehr als in jedem anderen Jahr
seit der Gründung des Staates Israel vor 54 Jahren. Zu dieser Erinnerung kommen
noch andere Fakten: In den elf Monaten, bevor Scharon den Libanon-Krieg 1982
anzettelte, war nicht ein einziger Israeli an der Grenze zum Libanon getötet
wurden; dagegen kamen bis Mai 2000 in den 18 Jahren, in denen Israel Teile des
Libanon besetzt hält, über 1.000 Israelis im Kampf oder durch Terroranschläge im
Libanon oder im Norden des eigenen Landes um. Selbst ein Unterstützer der
Scharon-Politik muss zweifeln, dass er weiteres Blutvergießen an den Juden
verhindern kann. Ganz zu schweigen von den vielen libanesischen und
palästinensischen Opfern, die Israels Militäraktionen während des Libanonkriegs
und der noch anhaltenden Intifada gekostet haben.
Wenn es also unser aller Wunsch ist, dem Blutvergießen auf
beiden Seiten ein Ende zu bereiten, dann sollte man überlegen, ob nicht
womöglich Scharon isoliert und aus seiner Machtposition entfernt werden muss -
auf demokratischem Wege natürlich. Deshalb rufe ich den kommenden
Ministerpräsidenten von Israel - da ich keine große Hoffnung habe, dass Scharon
meinem Vorschlag nachkommen wird - hiermit auf, innerhalb von zwölf Monaten nach
seiner Wahl alle israelischen Siedlungen und das Militär aus den besetzten
Gebieten zu entfernen. Ohne Ausnahme.
taz Nr. 6714 42002
taz muss sein:
Was ist Ihnen die Internetausgabe der taz wert? Sie helfen uns, wenn
Sie diesen Betrag überweisen auf: taz-Verlag Berlin, Postbank Berlin
(BLZ 100 100 10), Konto-Nr. 39316-106
© Contrapress media GmbH
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags
hagalil.com
06-02-2003 |