Eine Nacht im April
Israel zwischen Macht und Ohnmacht
Von Moshe Zimmermann
Das Foto, das die Nachricht über den Einmarsch der
israelischen Streitkräfte in den Gazastreifen vor zwei Tagen, am 17.
April, am besten illustrieren könnte, ist bereits eine Woche alt – es
ist das Foto des israelischen Generalstabschefs Shaul Mofaz beim Besuch
im Vernichtungslager Auschwitz. Einen Tag später, am 18. April, als sich
das israelische Militär kleinlaut aus dem Gazastreifen zurückzog, begann
der Shoa-, der Holocaust- Gedenktag – und der Zusammenhang zwischen der
aktuellen Nachricht aus Gaza und dem Holocaust wurde somit fast
automatisch hergestellt.
Das Foto vom Auschwitzbesuch des Generalstabschefs fügt
sich in einen breiteren Rahmen ein: Seit dem Fall der Mauer ist
Auschwitz nicht nur für israelische Schüler, sondern auch für hohe
Offiziere des israelischen Militärs zum Reiseziel geworden. Die
Gegenüberstellung von jüdischer Machtlosigkeit, symbolisiert durch
Auschwitz, und jüdischer Macht, am deutlichsten über das Bild des
israelischen Militärs vermittelt, ist ein Grundmuster der israelischen
Denkart und dient als entscheidender Hintergrund für die angeblich
zentrale Schlussfolgerung, die man als Zionist bzw. als jüdischer
Israeli aus der Geschichte der Shoa ziehen soll: Nie wieder dürfen Juden
machtlos, staatenlos, waffenlos, den Feinden ausgeliefert sein. Das
„waffenfrohe Volk“, ja der „trigger-happy“-Soldat: Sie sind weitgehend
von dieser Lehre geprägt, die man aus der Geschichte der Judenverfolgung
und der Shoa gezogen hat.
Es ist auch Sitte geworden, dass Israels Generalstab am
Vorabend des Shoa-Gedenktages zu seiner wöchentlichen Sitzung nicht im
Hauptquartier in Tel Aviv zusammentrifft, sondern in Jerusalem, in den
Räumen von Yad Vashem, der Shoa-Gedenkstätte Israels. Diese Szene wird
im „Land der Opfer“ als „adäquate zionistische Antwort“ auf die lange
Geschichte des Antisemitismus samt ihres katastrophalen
Höhe-/Tiefpunktes, der Shoa, gewertet.
Kurz: Die Erinnerung an die Shoa schwebt stets im
Hintergrund des Denkens und Handelns des Militärs als repräsentativer
Institution des Judenstaates. Deshalb hätten sich die deutschen
Gastgeber des früheren Regierungschefs Israels, Ehud Barak, selbst
ehemaliger Generalstabschef, eigentlich nicht wundern dürfen, als er,
anlässlich seines Besuchs im KZ Sachsenhausen, israelische Soldaten zu
einer offiziellen Zeremonie einladen wollte. Auch in Sachsenhausen
wollte man den Kontrast zwischen Macht und Machtlosigkeit mit Hilfe des
israelischen Militärs veranschaulichen.
Die Antwort auf die Shoa
Dass sich das Militär vorgestern veranlasst sah, auf das
Einschlagen von palästinensischen Mörsergranaten in der innerhalb der
„Grünen Linie“ liegenden Stadt Sderot massiv zu reagieren, liegt auch an
diesem Zusammenhang – oder auch an diesem Kontrast: Eine israelische
Stadt, die nach der Staatsgründung hauptsächlich von Neueinwanderern aus
den arabischen Staaten besiedelt wurde und die nun unter Beschuss kommt
– das erweckt in den Köpfen der Durchschnitts-Israelis automatisch die
Assoziation mit den „Schafen auf der Schlachtbank“; eine Assoziation,
die folglich eine militärische Reaktion nach sich zieht – nach sich
ziehen muss, wenn man den Sinn der Gründung des Staates Israel als
„Antwort auf die Shoa“ ernst nimmt. Es war also kein Wunder, dass auf
diese Art reagiert wurde, schon gar nicht, wenn es sich um die
Entscheidung der rechtsgerichteten Regierung Sharons handelt.
Das Heraufbeschwören der Erinnerung an die Shoa ist seit
der Wende 1977, also mit dem Anfang der Regierung Begins,
charakteristisch für die rechtsgerichteten Regierungen Israels. Nicht
nur Begin, sondern auch seine Nachfolger und andere prominente Politiker
aus dem rechten Spektrum bedienen sich häufig Assoziationen und der
Erinnerung an die Shoa auf eine Weise, die wiederum den Zusammenhang
zwischen dem Angriff auf den Gazastreifen und dem Shoa-Gedenktag
herstellen können. Ein Minister der jetzigen Regierung, der das Land
Israel/Palästina als „nicht ausreichend für zwei Völker“ betrachtet und
deshalb für den Transfer (euphemistisch für: die Vertreibung) der
Palästinenser plädiert, begreift die Grenzen Israels vor dem
Sechs-Tage-Krieg als „Auschwitz-Grenzen“ und beschimpfte 1995 die
Rabin-Regierung wegen ihrer Kompromissbereitschaft als
„Judenrat-Regierung“.
Die Mörsergranaten, die auf die israelische
Entwicklungsstadt Sderot fielen, auch wenn sie kein Menschenleben
kosteten und keine Schäden verursachten, bedeuten nach diesem Denkmuster
eine Bedrohung, die im Kontext des ewigen Kampfs gegen die
Machtlosigkeit von Juden einzuordnen sei.
Dass ausgerechnet das Feuer auf Sderot die nach
amerikanischem Ermessen „unproportionale Reaktion“ hervorrief, hat mit
einer Überlegung zu tun, die die Palästinenser in ihrem Kampf um den
eigenen Staat nicht zum ersten Mal ignorieren: Sderot ist aus der Sicht
der meisten Israelis nicht mit einer Siedlung im Gazastreifen oder in
der Westbank gleichzusetzen, wenn es sich um ihre Gefährdung durch die
Intifada handelt.
Automatismus der Erinnerung
Für die meisten Israelis ist Israel in den Grenzen vor
1967 der automatische casus belli – das, was mit der Shoa zu assoziieren
ist. Angriffe gegen Siedlungen und Siedler erwecken dagegen bei den
meisten Israelis nicht den Automatismus des Gefühls von Machtlosigkeit.
Deshalb auch die Frustration der jüdischen Siedler in Hebron, der
extremsten und militantesten Gruppe unter den Siedlern, als der Schuss,
der ein zehn Monate altes Siedler-Baby tödlich getroffen hatte, nicht
zur Eroberung des arabischen Teils Hebrons, aus dem der Schuss gefallen
war, durch das israelische Militär geführt hatte. Nur in den Augen der
jüdischen Siedler von Hebron sind sie selbst heute die Erben der „Schafe
auf der Schlachtbank“ geworden, nicht aber in den Augen der Mehrheit in
Israel. Wird aber eine Stadt wie Sderot getroffen, ist die
Shoa-Assoziation bei vielen Israelis präsent, was zum Verlangen nach der
„adäquaten zionistischen Antwort“, also nach einer massiven Anwendung
von Waffen führt. Hätten die palästinensischen Kämpfer mehr auf den
Unterschied zwischen Israel in den Grenzen vor 1967 und den Siedlungen
in den besetzten Gebieten geachtet, hätte sich mit diesem
Shoa-Automatismus wohl leichter umgehen lassen.
Der Shoa-Gedenktag Israels heißt „Gedenktag der Shoa und
des Heldentums“. Unter Heldentum versteht man in Israel eine bestimmte
Art von Heldentum – den bewaffneten Widerstand. Im kollektiven
Gedächtnis steht der Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 eindeutig im
Vordergrund. Man marginalisiert die Tatsache, dass es nicht nur
Zionisten waren, die am Aufstand beteiligt waren, und man wird so zur
Schlussfolgerung verleitet, der Warschauer Aufstand sei das erste
Kapitel in der adäquaten zionistischen, also israelischen Antwort auf
die Shoa gewesen: die Antwort der Waffe.
Die Mahnung „Wehret den Anfängen“ wird somit auf eine
spezifisch israelische Weise verinnerlicht: Bereits die kleinste
Gefährdung von jüdischem Leben muss eine heftige Reaktion hervorrufen.
Und so kann der eilige Rückzug aus dem Gazastreifen nicht als Teil einer
„adäquaten zionistischen Antwort“ im Sinne der vorherrschenden
israelischen Meinung gesehen werden.
Moshe Zimmermann lehrt Geschichte an der Hebräischen Universität
von Jerusalem und ist Direktor des Richard-Koebner-Centers for German
History.
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