Analyse:
Rückblick auf zwei Jahre
Von Ze’ev Schiff,
Haaretz, 29.09.2002
Übersetzung Daniela Marcus
Was wäre passiert, wenn Ariel
Scharon, der damalige Oppositionsführer, am 28. September 2000 nicht
diesen Besuch auf dem Tempelberg gemacht hätte, der Palästinenser
und israelische Araber wütend gemacht hatte? Wäre der militärische
Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern auf jeden Fall
ausgebrochen, ausgelöst durch irgendein anderes Ereignis? Wenn der
Besuch auf dem Tempelberg nicht gewesen wäre, hätte es dann eine
weitere aufrichtige Gelegenheit für Verhandlungen zwischen beiden
Seiten gegeben, nachdem der Camp-David-Gipfel gescheitert war?
Es gibt eine weitere, nicht
hypothetische Frage bezüglich der Krawalle vom 29. September 2000,
in die teilweise auch israelische Araber verwickelt waren und die
viele Opfer gefordert hatten. Warum hat Arafat nicht nach kurzer
Zeit befohlen, diesen bewaffneten Konflikt zu beenden? Im Jahr 1996,
als aufgrund der Öffnung des Westmauer-Tunnels in Jerusalem
gewalttätige Krawalle ausgebrochen und viele Menschen getötet worden
waren, hatte er einen solchen Befehl erlassen.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass
Arafat im Herbst 2000 die Kontrolle über die palästinensische Straße
hatte – doch trotz dieser Kontrolle brach dieser militärische
Konflikt aus und forderte auf beiden Seiten viele Opfer. Warum
machte Arafat diesem Konflikt kein Ende zu einem Zeitpunkt, als es
für ihn relativ einfach gewesen wäre, eine zweite Runde von
Verhandlungen zu beginnen? Warum zog er diesen gewalttätigen
Aufstand in die Länge? Dachte er wirklich, er könnte Israel
besiegen?
Zweifellos war Scharons Besuch auf
dem Tempelberg ein bedenklicher Schnitzer. Doch egal, wie provokativ
er in den Augen der Moslems war, dieser Besuch war nicht die Ursache
des gegenwärtigen bewaffneten Konflikts. Der Besuch löste eine Reihe
von Demonstrationen aus, jedoch keinen weitreichenden, gewalttätigen
Konflikt. Zu dieser Zeit betrachtete Premier Ehud Barak Scharons
Plan, den Tempelberg zu besuchen, als eine Sicherheitsangelegenheit
und als nichts anderes.
Für Barak war es klar, dass Scharon
der israelischen Öffentlichkeit demonstrieren wollte, dass er dem
Tempelberg mehr zugetan ist als jeder andere israelische Führer. Der
israelische Inlandsgeheimdienst Schin Bet informierte Barak
schriftlich darüber, dass der Besuch ohne Zwischenfälle vonstatten
gehen könnte, solange Scharon nicht eine Moschee auf dem Tempelberg
betreten würde. Doch in Wirklichkeit erregte der Besuch Ärger. Die
Spannung wuchs. Und Israels Geheimdienste behielten Recht mit der
Aussage, die sie einige Zeit vor dem Besuch auf dem Tempelberg
gemacht hatten, nämlich, dass die Palästinensische Autonomiebehörde
unter Arafats Kommando entschieden hatte, man würde sich der
gewalttätigen Konfrontation zuwenden, sollte man damit scheitern,
das Ziel über Verhandlungen zu erreichen.
Der Geheimdienst zögert mit der
Antwort auf die Frage, warum Arafat der Gewalt nicht frühzeitig ein
Ende setzen wollte. Möglicherweise erwartete er, dass seine
hauptsächlichen Ziele nicht von den Kämpfen betroffen sein würden.
In der frühen Phase hatten die Palästinenser außerdem eine hohe
Anzahl von Opfern, zum Teil wegen verrückter Angriffe der Massen auf
Posten der israelischen Verteidigungsstreitkräfte. Arafat konnte es
sich nicht leisten, das Ende des Konfliktes zu befehlen, ohne
irgendeine Art Sieg in Händen zu haben.
Ich bat einen Palästinenser, mir das
aufzuzählen, was die Palästinenser in dieser bewaffneten
Konfrontation bis jetzt erreicht hatten. Er antwortete: Obwohl es
wahr ist, dass die Palästinenser mit dem Rücken zur Wand stehen,
haben sie doch zwei wesentliche Erfolge verzeichnen können. Am
Anfang kam ein toter Israeli auf elf tote Palästinenser, inzwischen
ist das Verhältnis anders: drei tote Palästinenser auf einen
getöteten Israeli. Das zweite Ziel, das erreicht wurde, ist Israels
überaus schlechter Status in der Weltmeinung.
Doch wenn man die Dinge in rein
strategischen Begriffen beschreibt, müssen die palästinensischen
Ziele in einem vollkommen unterschiedlichen Licht betrachtet werden.
Arafats strategisches Ziel war es, Gewalt zu benutzen, um Israel zu
Zugeständnissen zu zwingen. Da Israel den Konflikt nicht ausgelöst
hat, müssen seine Ziele hauptsächlich darin gesehen werden, die
Palästinenser von der Erreichung ihres strategischen Ziels
abzuhalten. Israels primäre Entscheidung war deshalb diejenige,
keine Zugeständnisse zu machen, die durch den Gebrauch von Terror
gegen Israel aufgezwungen werden. Eine Mehrheit der Israelis glaubt,
dass ein palästinensischer Staat neben Israel entstehen sollte, die
meisten glauben jedoch, dass solch ein Staat auf dem Ergebnis von
Verhandlungen und Abkommen gegründet werden sollte.
Es ist klar, dass der bewaffnete
Konflikt die Palästinenser ihrem Traum, einen unabhängigen Staat mit
Ostjerusalem als Hauptstadt zu bekommen, nicht näher gebracht hat.
Die Realisierung dieses Traumes wurde aufgrund des militärischen
Konflikts, den die Palästinenser initiiert haben, beiseite
geschoben. Es ist auch klar, dass alle zukünftigen Verhandlungen
wesentlich härter für die Palästinenser sein werden. Die Israelis
werden zurecht weitaus misstrauischer sein.
Nach zweijährigen Kämpfen ist der
Krieg noch nicht zu Ende. Man muss mit mehr Hochs und Tiefs rechnen.
Gerüchte über gegenwärtige Verhandlungen zwischen Israel und den
Palästinensern sind trügerisch. Am Horizont ist keine größere
diplomatische Initiative zu sehen. Es ist möglich, dass solch eine
Initiative nach einem Krieg der Amerikaner gegen den Irak kommen
könnte, doch die diplomatischen Anstrengungen, die hierfür nötig
sind, werden vermutlich nicht von Israel oder von den Palästinensern
ausgehen.
hagalil.com
30-09-02 |