Scharon, der Taktiker:
Ein fliegender Pfeil
Kommentar von Yoel Marcus, Ha'aretz, 10.02.2004
Übersetzung Daniela Marcus
Laut einem alten indianischen –oder vielleicht
auch arabischen- Sprichwort gibt es zwei Dinge, die nicht
zurückgeholt werden können: ein Pfeil, der den Bogen und ein Wort,
das den Mund verlässt. Der Ministerpräsident hat einen Pfeil
abgeschossen und auch einige Worte ausgesprochen, die er nicht mehr
zurückholen kann.
Es ist derselbe Scharon, der Fragen darüber, warum
er keine Siedlungen im Gazastreifen –nicht einmal die kleinen-
evakuiere, gewohnheitsmäßig mit dem Standardsatz beantwortete: Wir
brauchen sie aus militärischen Gründen. Nun gibt er den Befehl für
die Evakuierung von 17 Siedlungen im Gazastreifen mit 7.500
Einwohnern. Nun sagt die Mutter und der Vater aller Siedlungen Dinge
wie "Ideologie ist eine Sache, das wirkliche Leben ist eine andere".
Und das wirkliche Leben bedeutet für ihn die Garantie der maximalen
Sicherheit für Israel. Die Verlegung dieser Siedlungen wird eine
ganze Armeedivision von einer Strafe befreien, nämlich derjenigen,
die Siedlungen zu bewachen, deren strategische Bedeutung bereits vor
langer Zeit ausgedient hat.
Es ist nur natürlich, dass man nun beginnt, Fragen
zu stellen: Warum jetzt? Meint Scharon es ernst? Um diese Fragen zu
beantworten sollten wir uns einen Fachausdruck aus der Welt der
Wirtschaft leihen: Die Theorie der faktischen Präferenz ("Revealed
Preference Theory" von Wirtschaftswissenschaftler Paul Anthony
Samuelson). Gemäß dieser Theorie kümmert sich ein Hersteller oder
Geschäftsmann nicht darum, was im Kopf des Verbrauchers vor sich
geht. Was zählt, ist, dass sich das Produkt verkauft. Demnach spielt
es keine Rolle, ob Scharon durch die polizeilichen Ermittlungen oder
durch ein Umfragetief motiviert ist. Was zählt, ist, dass der Pfeil
abgeschossen wurde und eine neue Situation geschaffen hat. Dies ist
keine Sache, die während eines Gesprächs mit einem Journalisten am
Frühstückstisch aus dem Nichts geschaffen wurde. Jeder, der Scharons
Äußerungen während, vor und nach der Konferenz in Herzliya gehört
hat, konnte die allmähliche Veränderung wahrnehmen. Es ist wahr,
dass Scharon viele Dinge gesagt und sie dann doch nicht getan hat.
Dieses Mal werden seine Worte jedoch durch sofortige operative
Maßnahmen gestützt. Manche seiner alten Freunde sind schon seit
einiger Zeit davon überzeugt, dass Scharon eine wirkliche
Verwandlung durchgemacht hat.
Erstens ist dies das erste Mal, dass Scharon eine
politische Initiative gestartet hat, die von keinerlei Handlungen
der Palästinenser abhängig ist. Man hörte nichts von "48 Stunden
Ruhe" oder "Vier Wochen ohne Terror" oder ähnlichen Dingen. Scharon
hat den Befehl gegeben, sich für das Verlassen des Gazastreifens
bereit zu machen ohne eine Forderung an die Palästinenser zu
stellen. Wenn sie an irgendeinem Punkt des Weges anfangen wollen,
ein Abkommen zu verhandeln, so steht die Tür offen.
Zweitens plant Scharon, die Unterstützung von
Präsident Bush für diesen einseitigen Schritt zu gewinnen, ob dies
nun bedeutet, den Verlauf des Zauns so zu ändern, dass er so nah wie
möglich an der Grünen Linie liegt, damit die palästinensische
Bevölkerung weniger zu leiden hat, oder ob es bedeutet, das Weiße
Haus davon zu überzeugen, ein Auszug aus dem Gazastreifen stimme mit
dem "Fahrplan" und Bushs Vision eines palästinensischen Staates
neben Israel überein.
Der dritte Punkt, der der wichtigste ist, ist
Scharons Plan, Bush zu bitten, die immensen Ausgaben für die
Verlegung der Siedlungen mit zu tragen. Es ist kein Zufall, dass er
Ehud Olmert vor seinem eigenen Besuch nach Washington geschickt hat.
Nicht nur, weil Olmert der erste war, der das Thema "einseitige
Trennung" angeschnitten hat, sondern weil er als jemand bekannt ist,
dem es sogar gelingen kann, den Eskimos Eiswürfel zu verkaufen. Wenn
der Plan bei Bush gut ankommt -was Scharon verpflichten wird, an ihm
festzuhalten-, wird allerdings das Problem bleiben, eine innere
Front bilden zu können.
Scharon möchte auch weiterhin die Nationale Union
und die Nationale Religiöse Partei in der Regierung haben, damit er
den Ball ohne die Linke spielen kann. Er wird versuchen, diese
Parteien für sich zu gewinnen, indem er ihnen sagt, dass es
einfacher für sie werden wird, für Judäa und Samaria zu kämpfen,
wenn sie bleiben. Es gibt keine Garantie dafür, dass sie darauf
eingehen werden, auch wenn gemäß vorläufiger Umfragen die Mehrheit
der Öffentlichkeit für ein Verlassen des Gazastreifens ist. Aufgrund
der harten Opposition, der Scharon innerhalb des Likud ins Auge
schaut, und die sogar versuchen könnte, ihn zu stürzen, wird diese
Initiative wahrscheinlich sowohl von der Regierung wie von der
Knesset gebilligt werden. Trotz des stichelnden Slogans "Je
intensiver die polizeiliche Ermittlung, desto intensiver der
Rückzug" derjenigen Likudniks, die gegen die Evakuierung sind, ist
die Avodah-Partei -z. B. nach den Worten von Avi Gil "Je intensiver
der Rückzug, desto intensiver die Versuchung"- davon angetan, der
Regierung beizutreten.
Man kann über Scharons Charakter und über seine
Vorliebe für das Erfinden von Geschichten diskutieren, doch niemand
kann bestreiten, dass er ein hervorragender Taktiker ist. Wenn er
diese beiden Prüfungen besteht, zum einen, dass sein Plan hier
akzeptiert wird und zum anderen, dass Bush ihn gemeinsam mit dem
Versprechen, sich an der Rechnung zu beteiligen, übernimmt, hat er
einen dieser Pfeile abgeschossen, die nicht wieder zurückgeholt
werden können.
hagalil.com
10-02-2004 |