Abstimmung zum Rückzugsplan:
Scharons eiskalter Frieden
Israels Premier will die
Palästinenser im Gaza-Streifen sich selbst überlassen
Von Thorsten Schmitz
Ausgerechnet der Vater vieler jüdischer
Siedlungen im Gaza-Streifen und im Westjordanland besinnt sich eines
Besseren und beginnt mit der Auflösung einiger - wer hätte das
gedacht. Israels Premierminister Ariel Scharon hat eine Mehrheit für
den Abzug aller 7500 jüdischen Siedler und aller Armeeposten aus dem
Gaza-Streifen in seinem Kabinett erreicht. Scharon will die
Palästinenser im Gaza-Streifen sich selbst überlassen, weil er
erkannt habe, eine weitere Präsenz im Gaza-Streifen schade Israel.
Während seine siedlerfreundlichen Vasallen die
Regierungsbank verlassen, spricht sich eine Mehrheit der Israelis
für die Aufgabe Gazas aus. Handelt da ein geläuterter Scharon? Es
ist eher der Taktiker, getrieben von dem Willen zur Macht und der
Überzeugung, nur er vermöge den jüdischen Staat in eine lichtere
Zukunft manövrieren. Gerne blendet Scharon dabei aus, dass seine
Amtszeit bisher düster ausfällt.
Im Juni 1967 eroberte Israel im Sechs-Tage-Krieg
den Gaza-Streifen und auch das Westjordanland, kurz darauf begann
Israel mit dem gigantischen Siedlungsprojekt, das in der Herrschaft
über ein anderes Volk mündete. 37 Jahre später beschließt zum
erstenmal ein israelisches Kabinett, Siedlungen aufzulösen. Im
Gaza-Streifen sollen bis 2005 alle 21 Siedlungen aufgelöst werden,
im Westjordanland dagegen nur vier - von rund 150. In einem Gespräch
mit dem "New Yorker" hat Scharon einmal erklärt, sich von Siedlungen
zu trennen sei dasselbe, als verlange man von ihm, sich von einem
seiner Söhne zu trennen. Nach der Kabinettsentscheidung vom Sonntag
ist klar, welchen seiner "Söhne" Scharon lieber in der Familie
behalten möchte. Der auch als generöse Geste gegenüber den
Palästinensern inszenierte Gaza-Rückzugsplan soll internationalen
Druck abschwächen, in erster Linie aber übertünchen, dass den
Palästinensern für einen künftigen Staat so wenig Westjordanland wie
möglich überlassen bleibt.
Sogar US-Präsident Bush gab Scharon das
Einverständnis, weite Teile des Westjordanlandes, in dem 230 000
jüdische Siedler leben, annektieren zu dürfen. So ist der Rückzug
aus dem Gaza-Streifen im Vergleich zu einem Rückzug aus dem
Westjordanland für den Vater vieler jüdischer Siedlungen weniger
schmerzhaft. Zudem schlägt Scharon dadurch der tickenden
demografischen Zeitbombe ein Schnäppchen. Nach jüngsten Berechnungen
würden bereits im Jahre 2010 in Israel und den Palästinensergebieten
zusammengerechnet mehr Muslime leben als Juden. Israel liefe dann
Gefahr, als Apartheid-Staat gegeißelt zu werden, in dem eine
jüdische Minderheit über eine muslimische Mehrheit regierte.
Indem sich Israel nun vom Gaza-Streifen trennt,
wird es auf einen Schlag die Verantwortung für die dort lebenden 1,3
Millionen Palästinenser los - was sich künftig günstig auf die
Statistik auswirkt. Der Sperrzaun im Westjordanland, der
palästinensische Städte und Dörfer von jüdischen Siedlungen trennt,
hat denselben Zweck: So verleibt sich Israel weite Teile des
Westjordanlandes ein - und überlässt den Palästinensern ein in
unzusammenhängende Kantone zerstückeltes Gebiet. Scharon glaubt, er
könne den seit über drei Jahren versprochenen Frieden ohne die
Palästinenser bewerkstelligen, und weil diese den Terror innerhalb
ihrer Gesellschaft nicht selbst ausmerzen, tut das Scharon für sie
mit seiner Armee. Internationale Kritik schert ihn dabei nicht. Und
interne Kritiker werden kurzerhand gefeuert, um ihm bequeme
Mehrheiten zu ermöglichen. Doch der Sieg bei der
Kabinettsentscheidung könnte von nur kurzer Dauer sein, wenn die
¸¸Nationalreligiöse Partei" die Koalition verlässt. Ob die
Arbeitspartei tatsächlich für eine erneute Koalition zur Verfügung
steht, wie von Scharon in Erwägung gezogen, bleibt fraglich: Eine
Mehrheit in der Arbeitspartei ist gegen Scharons beabsichtigten
eiskalten Frieden mit den Palästinensern.
hagalil.com
07-06-04 |