Worte ohne Wahrheit:
Rückzug aus Gaza?
Israels Premier Scharon hat
schon vieles angekündigt – und wenig umgesetzt
Von Thorsten Schmitz
Misst man Ariel Scharon an seinen Worten, so
hat er sich zum Revolutionär gewandelt. Misst man den israelischen
Premier an seinen Taten, ist er der Alte geblieben. Verbal hat
Scharon in den vergangenen drei Jahren seiner fruchtlosen Amtszeit
auch schon der Schaffung eines Palästinenserstaates zugestimmt, die
Auflösung aller illegal errichteten Außenposten verfügt, die
"Entfernung" von Palästinenserpräsident Jassir Arafat beschlossen
und Israels Besatzung kritisiert. Worte sind keine Wahrheiten.
Ein eigener Palästinenserstaat, wie ihn der
Friedensfahrplan des Nahost-Quartetts für Ende 2005 vorsieht, liegt
in weiter Ferne – die israelische Armee hält die
Palästinensergebiete weiter unter Besatzung wie vor Beginn des
Friedensprozesses von Oslo. Der umstrittene Sperrzaun schneidet tief
in palästinensische Gebiete ein, er zerstückelt die
Palästinenserzonen in Kantone, die Israel nicht gefährlich werden
können. Zwar wurden ein paar illegale Außenposten von Siedlungen
geräumt, aber bereits einen Tag danach wurden neue geschaffen. Auf
der anderen Seite konzentriert Arafat nach wie vor alle Macht in
seinen Händen. Die von Israel und den USA forcierte Wahl von Achmed
Kurei zum palästinensischen Ministerpräsidenten ist Marionettenspiel
und Augenwischerei.
Scharon spielt damit, dass alle Welt rätselt, was
er wohl beabsichtige. Jetzt will er den Gaza-Streifen räumen, aber
wann und wie, das verrät er nicht. Stattdessen lässt er seine
Minister darüber spekulieren – während sich die Lage in den
besetzten Gebieten diametral zu den angekündigten "schmerzhaften
Kompromissen" entwickelt: Im Westjordanland werden ungebremst
jüdische Siedlungen gebaut. Innerhalb der vergangenen drei Jahre
sind nach Angaben des Innenministeriums 36 000 neue Siedler ins
Westjordanland gezogen.
Der Aufschrei der Koalitionspartner über Scharons
progressive Äußerungen ist groß, aber bigott. Denn die Rechten und
Orthodoxen verlassen das Regierungsboot nicht, weil sie nicht an
Scharons Taten glauben. Ob der Premier selbst seine Ankündigung
ernst nimmt, 17 jüdische Siedlungen im Gaza-Streifen zu räumen, ist
fraglich. Jedenfalls hängt er sich ein liberales Mäntelchen für die
US-Regierung um. Noch 1999 rief er die Siedler dazu auf, die "Hügel
zu erobern". Und im vergangenen Jahr widersprach er im Wahlkampf
vehement seinem Herausforderer von der Arbeitspartei, Amram Mitzna,
der einen kompletten Rückzug der Siedler aus dem Gaza-Streifen
verlangt hatte. Die Armeeführung besteht aus Sicherheitsgründen auf
Präsenz im Gaza-Streifen: Sie will verhindern, dass sich
Terror-Gruppen auf dem Seeweg via der Küste vor Gaza mit Waffen und
Munition versorgen.
Scharons Wirbel könnte aus eigennützigen Motiven
inszeniert sein. Am Donnerstag wird er wegen Korruptionsvorwürfen
erneut verhört. Mit dem verbalen Gaza-Rückzug will er womöglich nur
von negativen Schlagzeilen ablenken. Oder er möchte dem neuen
Generalstaatsanwalt Menachem Masus imponieren, der demnächst
entscheiden wird, ob gegen Scharon ein Ermittlungsverfahren
eingeleitet wird. Ein solches könnte zu Scharons Rücktritt oder
zumindest zu einer vorläufigen Amtspause führen.
Eine andere Absicht könnte es sein, die Linke um
sich zu scharen, damit diese ihm den Rücken stärkt und ihm die
Forderungen nach Rücktritt erspart. Für diese Version spricht, dass
der amtierende Arbeitspartei-Vorsitzende Schimon Peres am Dienstag
bereits Hilfe für die Scharon-Regierung in Aussicht gestellt hat.
Denkbar ist auch, dass Scharon sein politisches Ende kommen sieht
wegen der Bestechungs- und Korruptionsaffäre – aber als ein Premier
in Erinnerung bleiben möchte, der als erster von
Siedlungsauflösungen gesprochen hat. Scharon möchte nicht als der
Ministerpräsident in die Geschichte eingehen, dem einst eine
israelische Kommission nach dem Libanon-Krieg Mitschuld am Massaker
in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila attestiert hatte.
hagalil.com
04-02-04 |