Gaza-Exodus-Plan:
Wie das Trennen von siamesischen Zwillingen
Kommentar von Yoel Marcus, Ha'aretz, 09.03.2004
Übersetzung Daniela Marcus
Aufgrund der Anzahl von Fragen, mit denen
Washington Jerusalem bombardiert, und aufgrund der Anzahl von
Abgesandten, die kommen und gehen, ist es offensichtlich, dass
Präsident Bush nicht sicher ist, warum sich Scharon plötzlich ganz
und gar aus dem Gazastreifen zurückziehen will. In der Tat ist er so
unsicher, dass das geplante Treffen mit Scharon jede Woche von neuem
auf die nächste Woche verschoben wird und bisher kein konkretes
Datum festgesetzt wurde. Während eines Wahljahres können es sich
Präsidenten nicht leisten Fehler zu machen. Sie können z. B. nicht
über Scharons Geschichten mit ihren Ungereimtheiten stolpern.
Wir Einheimischen können nur Vermutungen
anstellen. Eine Vermutung ist, dass Scharon in seinem vierten Jahr
als Premierminister den Punkt erreicht hat, an dem ihm nur noch eine
Möglichkeit offen steht: einen Spielzug zu machen oder das Spiel zu
verlieren. Sein stetiger Abrutsch in den Meinungsumfragen hat ihn zu
der Schlussfolgerung geführt, dass etwas getan werden muss, um die
Öffentlichkeit von den polizeilichen Ermittlungen bezüglich seiner
eigenen Angelegenheiten und der seiner Söhne abzulenken und um den
Verlust an Vertrauen in einen Premierminister, der sein Versprechen,
Frieden und Sicherheit zu bringen, nicht gehalten hat, zu stoppen.
Im Prinzip ist die Idee, sich aus dem
Schlangennest oder dem brodelnden Vulkan –auch bekannt unter dem
Namen "Gazastreifen"- zurückzuziehen, eine ausgezeichnete. Doch
Scharons Fehler –manche sagen, es sei ein historischer- war
derjenige, dass er Bush diese Idee nicht sofort nach der Besetzung
des Irak präsentiert hat. Zu dieser Zeit hatte Amerikas Stärke noch
Schockcharakter. Und die Terrororganisationen und die arabischen
Länder, die den Terror unterstützten, spürten den Druck. Stattdessen
legte Scharon diese Initiative jedoch erst im Wahljahr auf den
Tisch, zu einer unpassenden Zeit, ohne sich mit Bush zu besprechen,
ohne klare Richtlinien vorzulegen, ohne ein Handbuch zu
präsentieren, in dem das Wer, Was und Wo genau aufgelistet ist.
Während sich Bush immer mehr im Irak verheddert und Fragen gestellt
werden, ob der Krieg im Irak wirklich gerecht war, ist eine
israelische Initiative, die sich als Niete entpuppt, das letzte, was
er gebrauchen kann. Die US-Beamten, die hierher geflogen kommen und
der nach drüben fliegende Dov Weisglass -der Scharon zwar besser
imitiert als es Yatzpan im Fernsehn tut, der jedoch kein großer
Kenner der politischen Geschäfte in Washington ist- sind Beweis
dafür, dass jemand auf der anderen Seite des Ozeans einen Haufen
Fragen und Zweifel hat.
Bush will zum Beispiel wissen, an wen der
Gazastreifen übergeben wird. Er möchte wissen, wer die Häuser der
evakuierten Siedlungen bekommen und wer der Chef sein wird. Er
möchte wissen, wie die Dinge am Tag nach dem Rückzug aussehen
werden. Werden Hamas und Dschihad, die inzwischen auf Amerikas
schwarzer Liste stehen, eine Siegesparade veranstalten und eine
Übernahme durchführen? Als sich Israel im Alleingang aus dem Libanon
zurückzog, verlegte es seine Truppen entlang der internationalen
Grenze. Dies geschah mit Einwilligung und unter Kooperation der UNO.
Wir wussten, dass die Hisbollah das Gebiet kontrollieren würde, doch
bereits im Voraus war festgelegt worden, dass die Regierungen von
Syrien und dem Libanon die Verantwortung für jede Art von Aggression
übernehmen würden.
In Gaza gibt es noch Fragen: Wer bekommt die
Schlüssel? Wie können wir diesen Ort davor bewahren, ins Chaos zu
stürzen und wieder eine reine Terroristenbasis zu werden? Wird
Ägypten einwilligen, die Verantwortung über den Philadelphi-Korridor
zu übernehmen? Wenn ja, welche Garantie werden wir haben, dass es
die Terroristen nicht unterstützt? Wenn andererseits die israelische
Armee nach der Evakuierung der Siedlungen im Gazastreifen bleibt und
die Blutbäder von der Sorte, die wir am Sonntag gesehen haben,
weitergehen, was haben wir dann erreicht?
Etwas ist im Gaza-Exodus-Plan durcheinander
geraten: a) Es war ein Fehler, damit an die Öffentlichkeit zu gehen,
bevor die Dinge mit Bush ausgearbeitet waren. b) Die Architekten
vergaßen, dass sich in einem Wahljahr nichts bewegt, d. h. dass bis
mindestens 2005 niemand irgendwohin geht. c) Was geschieht, wenn
Bush gegen John Kerry verliert? Hat irgendjemand Kerry nach seiner
Meinung über diesen Plan gefragt? d) Niemand hat daran gedacht, dass
Israel in Abwesenheit eines Gesprächspartners mit den USA verhandeln
sollte. Israel sollte jedes Detail mit Washington koordinieren und
nach dessen Pfeife tanzen. e) Während eines Wahljahres gibt es
keinerlei Möglichkeit –man sollte nicht einmal davon träumen-, dass
ein amerikanischer Präsident auch nur ein winziges Versprechen geben
wird, die Milliarde-Dollar-Rechnung für den historischen Fehler, der
auch als Siedlungsbau bekannt ist, zu zahlen. f) und am wichtigsten:
Scharon hat bisher keinen Finger gekrümmt, um innenpolitische
Unterstützung für diesen Schritt zu mobilisieren. „Alleingang“
bedeutet, dass die ganze Sache auf unseren Schultern liegt. Es gibt
keine Ausreden.
Den Gazastreifen verlassen ist eine Idee, die in
die richtige Richtung geht. Zur Zeit ist sie ein Thema für die
Titelseiten, genauso sensationell wie eine Operation zur Trennung
siamesischer Zwillinge. Alles hängt vom Ergebnis der Operation ab:
von der Fähigkeit, die Trennung zu ermöglichen – und am Leben zu
bleiben.
hagalil.com
10-03-2004 |