"Wenn nicht jetzt - wann dann?
Wenn nicht du – wer dann?"
Ein Erlebnisbericht von Kevin Blitz, Juni 2002
Übersetzt von Daniela Marcus
"Angesichts des Krieges in Israel und der "Operation Schutzschild" hat die
Jewish Agency ein spezielles Projekt initiiert, das dem Konzept der Solidarität
aller Juden mit Israel konkret Ausdruck verleiht. JETZT FREIWILLIG NACH ISRAEL!"
So lautete der Aufruf, den die Jewish Agency Anfang Mai 2002 über das Internet
und die jüdischen Nachrichtenmedien unter den Juden in der Diaspora verbreitete.
Eintausend Erwachsene wurden eingeladen, sofort nach Israel zu kommen, um dort
als Freiwillige in allen möglichen Funktionen zu dienen. So war ich bereits am
22. Mai auf meinem Weg nach Israel, gemeinsam mit zehn anderen Australiern. Wir
waren das erste von zwei Kontingenten, das an der neuen Initiative teilnehmen
sollte.
Israels Geschichte wird täglich auf vielerlei Arten erzählt und es wird in
vielen Fällen Bezug darauf genommen. Somit ist sie gut und ausreichend
dokumentiert. Deshalb wird sich der Bericht über meinen Besuch auf einige
persönliche Erfahrungen und Beobachtungen konzentrieren. Also, warum freiwillig?
Ich fragte die Jewish Agency in Melbourne nach dem Hintergrund des Aufrufes. Sie
informierten mich (und dies wurde während meines Aufenthaltes dann bestätigt),
dass aufgrund der militärischen Einberufung von Reservisten in Israel, die den
Ereignissen in Jenin im April gefolgt waren, viele Lücken in der israelischen
Infrastruktur entstanden seien. Deshalb könnten viele notwendige Arbeiten nicht
erledigt werden. Hilfe werde dringend gebraucht, insbesondere im medizinischen
Bereich: hier suche man Ärzte, Krankenschwestern und Sanitäter. Hilfe werde auch
für den Instandhaltungs- und Versorgungsdienst bei den Israelischen
Verteidigungsstreitkräften (IDF) gesucht, außerdem in Kibbuzim, beim Zivilschutz
und in Wohlfahrts- und Sozialverbänden.
Ich selbst leistete dem Aufruf schlichtweg deshalb Folge, weil ich dachte, dass
allein die Präsenz in Israel in dieser Zeit einen gewissen Grad an Verbindung
mit diesem Land darstellen würde und hoffentlich –wenn schon nichts anderes- zur
Stärkung der Moral und zur Anhebung der Stimmung bei wenigstens einigen Israelis
beitragen würde. Denn diese sind durch den ungewollten Terror, besonders in den
vergangenen 18 Monaten, ganz offensichtlich unter enormem Druck. Ich sagte mir,
dass der Beitrag den ich als Einzelner leisten könnte, in dem großen Bild
beinahe unsichtbar sein würde. Doch die Hilfe, die von einer Gruppe von etwas
500 Freiwilligen geleistet werden könnte, würde wenigstens bemerkt werden. Wenn
also die Moral von wenigstens einigen Israelis durch meine Anwesenheit gestärkt
werden könnte, dann würde ich durch den Besuch wirkliche Zufriedenheit erlangen.
Ich hatte mein Ziel schon erreicht, noch bevor ich in Tel Aviv gelandet war.
Denn während des El-Al-Fluges saß ich neben einer hochschwangeren Israelin, die
total begeistert war, zum ersten Mal einen "wirklichen" Freiwilligen zu treffen.
Während des zehnstündigen Fluges sprach sie nicht nur ununterbrochen mit mir,
sondern sie bestand darauf, dass ich während meines Aufenthaltes in Israel in
Kontakt mit ihr und ihrer Familie bleiben sollte und dass ich sie während des
Shabbat besuchen sollte, wenn keine anderen Vereinbarungen für mich getroffen
werden würden. Allein durch mein Dasein als Freiwilliger konnte ich die Herzen
von vielen berühren (ich hatte viele ähnliche Erlebnisse): von Fremden,
Freunden, Personal und Patienten im Rehabilitationszentrum, in dem ich
arbeitete.
Nach unserer Ankunft auf dem Ben Gurion Flughafen wurde ich gemeinsam mit drei
anderen Australiern per Auto zu einem IDF-Stützpunkt nahe dem Zentrum von Tel
Aviv gebracht, wo wir die beiden nächsten Tage verbrachten. Wir wurden über
unsere Arbeiten informiert und darauf vorbereitet. Wir trafen mit etwa 120
anderen Freiwilligen, die auch an diesem Ort waren, zusammen. Die meisten kamen
aus Deutschland, Großbritannien, den USA und Südafrika. Aus einer Gemeinde in
Südfrankreich war auch ein Kontingent von etwa zwanzig orthodoxen Juden
gekommen. Sie waren in Sorge über den starken Antisemitismus, der gegenwärtig
über ihr Land fegt und sie wollten außerdem ihre Solidarität mit Israel
bekunden.
Nach zwei Tagen in den sicheren Armeebaracken, den dortigen Schlafräumen und dem
abgepackten (jedoch ausreichenden) Essen, wurden wir am dritten Tag an unsere
verschiedenen Arbeitsplätze gebracht. Ich selbst kam ins Rehabilitationszentrum
"Re’uth", das nicht weit entfernt vom zentralen Busbahnhof in Tel Aviv liegt.
Hier bekam ich frisches Essen vor Ort und ich hatte eine gemütliche Unterkunft.
Die nächsten drei Wochen sollte ich hier als Freiwilliger arbeiten. Das Zentrum
bietet Langzeitpflege und Rehabilitation für mehr als 300 Verletzte oder
chronisch Kranke. Meine täglichen Aufgaben und Pflichten waren sehr weit
gestreut und sehr unterschiedlich. Sie beinhalteten das Füttern von
verkrüppelten oder gelähmten Patienten am Morgen und während des Tages. Bei
dieser Aufgabe fühlte man sich mit den Menschen sehr verbunden. Da war z. B.
Simcha, eine 70jährige russische Dame, die vom Hals an nach unten gelähmt war.
Sie konnte kaum sprechen. Und die wenigen Worte, die sie sprach, waren niemals
Englisch. Wir entwickelten trotzdem ein enges Verhältnis. Und es war sehr
traurig zu sehen, dass sie an dem Morgen, an dem sie erfuhr, dass es mein
letzter Tag sei, Tränen vergoss. Da war Bella, eine chronisch kranke Israelin in
mittleren Jahren, die wegen eines Lungenleidens kaum atmen konnte und kein Wort
Englisch sprach. Sie lächelte mich an und drückte mir sanft die Hand, als ich
ging, um den Shabbat mit Freunden zu verbringen. Als ich am Sonntagmorgen wieder
zur Arbeit antrat, war sie gestorben. Ich könnte viele andere, ähnliche
Patientengeschichten erzählen – glückliche und traurige.
Während der Vormittage und frühen Nachmittage wurde ich verschiedenen
Therapieeinheiten zugewiesen, wo ich auf zwei Arten helfen sollte: einmal mit
Techniken, die zur Basisbehandlung gehören, mit verschiedenen Übungen,
Gedächtnisübungen usw., zum anderen, indem ich Patienten, die an den Rollstuhl
gebunden waren, zu ihren Behandlungsterminen brachte oder von dort holte. Ich
tat meinen Dienst vor allem in den Abteilungen Beschäftigungstherapie,
Physiotherapie und in einer therapeutischen Abteilung, die sich um den
Dachgarten kümmerte. Für manche Patienten gab es regelmäßigen Ausgang und so
begleitete ich eine Gruppe von sechs Rollstuhlfahrern und zwölf weiteren
Patienten zum Einkaufen, ins Kino und bei anderer Gelegenheit in den biblischen
Zoo nach Jerusalem.
Es gibt hunderte von Geschichten und Anekdoten, die ich über die Ereignisse, die
ich während meiner Zeit am Medizinischen Zentrum "Re’uth" erlebte, aufschreiben
könnte. Viele der Patienten waren Zivilisten, die Opfer von Terroranschlägen
geworden waren. An meinem zweiten Arbeitstag geschah der Anschlag, bei dem eine
Großmutter und ihre Enkelin durch einen Selbstmordattentäter in einem Cafe in
Petach Tikvah zu Tode gebombt wurden. Es wurde sehr wenig über die 35 Verletzten
dieses Anschlages geschrieben. Mehrere von ihnen kamen nach "Re’uth". Die
Verbrennungen und Wunden einer bestimmten Frau waren so schlimm, dass man sich
fragte, ob es gut war, dass sie überlebt hatte. Wie auch immer, vierzehn Tage
später war diese Frau, die noch vollkommen traumatisch war, auf dem Weg der
Besserung.
Lasst mich die Reaktion der Menschen am Morgen des 5. Juni 2002 beschreiben, als
sich um 7.20 Uhr eine Selbstmordattentäter in die Luft jagte und 17 Israelis
ermordete, indem er einen mit Sprengstoff beladenen Wagen in einen Bus an der
Meggido-Kreuzung in der Nähe von Afula fuhr. Fünfzehn der Getöteten waren
Soldaten im Alter von 19 bis 23 Jahren. Mehr als 40 Menschen wurden bei diesem
sinnlosen Angriff verletzt, viele von ihnen schwer. Als über die Einzelheiten
des Ereignisses berichtet wurde, wurde die Stimmung der Patienten und des
Personals düster, ja gespenstisch. Viele waren wie betäubt und wurden von
Schweigen übermannt. Jedes Fernsehgerät wurde lebendig. Jeder erledigte ruhig
seine Pflichten, doch alle paar Sekunden starrte man auf den Fernseher, um mehr
Einzelheiten zu erfahren. Als die Anzahl der Toten in einem Zeitraum von zwei
Stunden von fünf auf acht, dann auf zwölf, fünfzehn und schließlich siebzehn
stieg, zeigte sich in der Körpersprache und in den Gesichtern von vielen der
Ärger. Doch zur Mittagszeit hatte sich die schlechte Stimmung wie durch ein
Wunder beinahe wieder in die normale gewandelt. Die Menschen bekamen die
Situation in Griff und wurden damit fertig. Im Verlauf der nächsten Tage wurden
einige der Verletzten nach "Re’uth" gebracht. Der Eindruck, den dies auf mich
machte, war derjenige, dass wir tatsächlich in einem Land sind, in dem kein
Friede herrscht. Während meiner Zeit in Israel ereigneten sich viele ähnliche
Terroranschläge – manche von ihnen verursachten geringeren Schaden, manche
großen.
Am Rehabilitationszentrum "Re’uth" waren zwölf Freiwillige. Die Hälfte davon
waren junge, religiöse Frauen, die anstelle des Armeedienstes zwei Jahre
sozialen Dienst leisteten. Es waren dort außerdem eine junge Frau aus Finnland
und drei junge Männer aus Deutschland. Diese waren keine Juden, sondern eher
"Freunde Israels", die anstelle von Militärdienst in ihrem eigenen Land acht
Monate Zivildienst im Ausland absolvierten. Die Deutschen waren besonders
freundlich zu mir, und wir fanden sogar die Zeit, einen Nachmittag lang in die
Altstadt von Jerusalem zu fahren (wo es zu diesem Zeitpunkt absolut keine
Touristen gab). Außerdem haben wir uns gemeinsam einige Sehenswürdigkeiten von
Tel Aviv angesehen. Ich selbst war der absolute Großvater unter den
Freiwilligen!
Als meine Zeit zu Ende ging, kam eine Frau in mittleren Jahren aus Finnland, die
keine Jüdin war. Sie wollte für drei Monate aushelfen. Außerdem kam ein Student
aus Chicago, dessen Eltern Israelis waren und der fließend Hebräisch sprach. Er
wollte zehn Tage lang helfen. Das beruhigte mich. Denn ich hatte langsam
begonnen, mich zu fragen, wer meine vielen alltäglichen Pflichten, die ich hier
hatte, übernehmen würde, wenn ich wegging. Dies lässt den Gedanken aufkommen, ob
der Ruf nach Freiwilligen wirklich berechtigt gewesen war oder nicht. Wenn man
meine Arbeit betrachtet, so kann man sagen, dass er tatsächlich berechtigt war,
denn die Arbeit, die getan werden musste, war endlos. Alle Freiwilligen wurden
übrigens sehr gut aufgenommen und vom Mitarbeiterstab respektiert. Man fühlte
sich willkommen und als ein Teil des Teams.
So viel in kurzer Zusammenfassung. Ich habe in diesen vier Wochen so viele
Erfahrungen gemacht, dass sie ausreichen, um ein Buch zu schreiben. Die
Erinnerungen werden mich immer begleiten.
Werde ich noch einmal als Freiwilliger nach Israel gehen? Die Antwort lautet
sehr wahrscheinlich: Ja!
Kevin Blitz
Juni 2002
PS: Ist Israel sicher? Natürlich ist Israel ein sicherer Platz, vorausgesetzt
man ist nicht zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort!
hagalil.com
20-08-02 |