 
Ob Linke oder Rechte: Fast alle
Israelis glauben, dass es einen Palästinenserstaat geben wird. Trotzdem
halten sie Frieden für unmöglich - eigentlich ein Widerspruch
Israelisches Paradox
Fünfzehn Monate nach dem Beginn der Al-Aqsa-Intifada und
neun Monate nach der Amtsübernahme von Ministerpräsident Ariel Scharon
sind Israelis und Palästinenser so weit von Frieden entfernt wie noch
nie seit der Unterzeichnung des Osloer Abkommens 1993.
Die Nachrichten
berichten inzwischen fast täglich, so auch gestern wieder, von Toten
entweder in Israel oder in den autonomen Gebieten. Weite Teile der
israelischen Öffentlichkeit - von Linken bis hin zum Regierungschef -
gehen heute davon aus, dass es nicht nur keinen "Frieden jetzt!" geben
wird, wie sich die inzwischen marginalisierte Friedensbewegung
programmatisch nannte, sondern auch keinen Frieden morgen oder
übermorgen.
Gleichzeitig gibt es, mit Ausnahme einiger radikaler Parteien und
Gruppen, einen weiteren Konsens in der israelischen Gesellschaft, der
geradezu paradox wirkt: Die palästinensischen Gebiete sind auf Dauer
nicht zu halten; Israel wird sich früher oder später entlang der "grünen
Linie" von 1967 stabilisieren; und an einem Palästinenserstaat geht kein
Weg vorbei. Auch diese Einschätzung umfasst letztlich das gesamte
politische Spektrum in Israel: von der Linken, die schon lange dieser
Meinung ist, bis neuerdings Ariel Scharon. Auch wenn man nach den
jüngsten Entwicklungen manchmal die Augen vor dieser Realität
verschließt.
Nach der palästinensischen Anschlagsserie seit dem 2. Dezember und den
israelischen Reaktionen scheint zunächst ein Ausweg aus der Krise
verbaut. Eine Rückkehr zu Camp David II wird es nicht geben - den
gescheiterten Verhandlungen zwischen dem damaligen israelischen
Regierungschef Ehud Barak und Palästinenserpräsident Jassir Arafat, die
sich unter der Ägide des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton trafen.
Bestenfalls, so die gängige Analyse in Israel weiter, wird "die Gewalt"
- gemeint sind gemeinhin in erster Linie Anschläge palästinensischer
Attentäter - wieder etwas nachlassen. Israel, so die Einschätzung, wird
mit einem lang andauerden Konflikt niedriger Intensität konfrontiert
werden, der sich bestensfalls in eine Art "langfristige Zwischenlösung"
wandelt.
Angesichts solcher Prognosen ist es kein Wunder, wenn die Idee einer
"Mauer", die beide Bevölkerungsgruppen trennen soll, in Israel populärer
wird. Auf verquere Art und Weise bedeutet das aber auch: Die
Palästinenser sollen ihre Angelegenheiten allein regeln, womit wir
wieder bei der Perspektive hin zu einer Zwei-Staaten-Lösung angelangt
sind.
Von Sicherheit und Frieden, Scharons Wahlkampfversprechen, ist Israel
also weit entfernt. Seit Beginn seiner Amtszeit hat der
Ministerpräsident keine Initiative ergriffen, die den Israelis und
Palästinensern auch nur irgendeine Hoffnung für die Zukunft gibt. Im
Gegenteil: Durch die fatale Politik, mutmaßliche Attentäter in den
palästinensischen Gebieten zu töten, hat er zu der dramatischen
Eskalation der Gewalt beigetragen.
Hinzu kommt, dass eine nennenswerte Opposition derzeit fehlt. Die
Arbeitspartei, durch Außenminister Schimon Peres und
Verteidigungsminister Benjamin Ben-Elieser in die Koalition eingebunden,
droht zwar gelegentlich mit ihrem Auszug aus der Regierung. So zuletzt,
nachdem das Kabinett die palästinensische Autonomiebehörde als eine den
"Terror unterstützende Organisation" bezeichnet hatte. Doch die Revolte
war nur von kurzer Dauer. Minister und Fraktion wollten tunlichst
vermeiden, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, die
Arbeitspartei habe Probleme mit dem "Kampf gegen den Terror". Die
rechten Parteien in der Opposition wiederum beglückwünschten Scharon
dazu, dass er ihre Position übernommen habe, indem er die
Autonomiebehörde als terroristisch einstufen ließ.
Die Regierung ist eine Rechtsregierung; das ganze politische
Koordinatensystem ist nach rechts gerückt. Es gibt nur wenige Stimmen in
der Öffentlichkeit, die außerhalb des nationalen Konsenses stehen.
Scharon ist populär, und das weiß er zu nutzen.
Im "Kampf gegen den Terror", den Scharon seit dem 11. September wie ein
Banner vor sich her trägt, gibt es freilich einen grundlegenden
Unterschied zum Kampf von US-Präsident George W. Bush gegen al-Qaida:
Die USA und Afghanistan sind keine Nachbarstaaten, Amerikaner und
Afghanen nicht zwei Völker, die sich um das gleiche Land streiten.
Es hat Jahrzehnte gedauert, bis sich in Israel die Einsicht durchsetzte,
dass es zu einer politischen Regelung mit den Palästinensern kommen
muss. So war Golda Meir (Ministerpräsidentin von 1969 bis 1974) noch der
Meinung, es gebe keine Palästinenser - sondern nur Araber, die genug
Länder hätten, in denen sie leben könnten. Doch im Zuge der Zeit setzte
sich die Erkenntnis durch, dass sich parallel zum Zionismus auch eine
palästinensische Nationalbewegung herausgebildet hatte, die nicht
einfach wieder verschwinden würde. Von da bis zum Osloer
Friedensabkommen war freilich noch ein großer Schritt. Es gebe auf
palästinensischer Seite keine Ansprechpartner, hieß es in den Siebziger-
und Achtzigerjahren gebetsmühlenartig von israelischer Seite; und
Treffen mit PLO-Chef Arafat standen unter Strafe.
Wenn Israel jetzt nach den Anschlägen vom vergangenen Mittwoch alle
Kontakte zu Arafat und der Autonomiebehörde abgebrochen hat, ist das
eine fatale Entwicklung, die Déjà-vues produziert. Im innenpolitischen
Kontext ist es im Grunde die logische Konsequenz aus den zahlreichen
Politikeräußerungen der letzten Zeit, die auch die Stimmung in der
Bevölkerung wiedergeben: dass man mit Arafat und der Autonomiebehörde
nicht mehr verhandeln könne, da sie ihre Versprechungen nicht
einhielten, nicht vertrauenswürdig seien usw. Nun ist aber Arafat der
gewählte Präsident der Palästinenser und die Autonomiebehörde die
gewählte Regierung, gleich, was man davon halten mag. Es ist reines
Wunschdenken, davon auszugehen, dass sich Israels Situation ohne Arafat
und seine Regierung irgendwie zum Besseren wenden würde.
Mit seinem Angriffen auf Arafats Regierung, deren Symbole und die
Infrastruktur in den palästinensischen Gebieten bekämpft Scharon
letztlich, wie schon im Libanonkrieg 1982, die palästinensische
Nationalbewegung und deren Führung. Diesmal jedoch tut er es wider
besseres Wissen. Schließlich gab es zwischenzeitlich auch eine andere
Erfahrung - nämlich die von Kontakten, Verhandlungen und Verträgen. So
unbefriedigend diese auch sein mögen: Verbunden damit war die
Perspektive, den Kreislauf von Gewalt und Besetzung zu durchbrechen. Es
ist auch diese Erfahrung, die die paradoxen Haltungen in der
israelischen Gesellschaft speist.
BEATE SEEL / taz - 15.12.2001
Beate Seel gehört zu den Gründerinnen der taz, inzwischen leitet sie die
Auslandsredaktion. In den Achtzigerjahren war sie die Fachredakteurin
für den Nahen und Mittleren Osten. Zuletzt war sie zwischen dem 26. 11.
und dem 2. 12. in Israel.
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haGalil onLine 16-12-2001 |