hebraeisch.israel-life.de / israel-tourismus.de / nahost-politik.de / zionismus.info
Judentum und Israel
haGalil onLine - http://www.hagalil.com
 
Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!

Jüdische Weisheit
Hymne - Israel
Werben in haGalil?
Ihre Anzeige hier!
Advertize in haGalil?
Your Ad here!
Über das Dilemma der Nahostberichterstattung

Von Hanoch Marmari, Ha'aretz

Im folgenden findet sich der Text eines Vortrages, den Hanoch Marmari, Chefredakteur von Ha'aretz, am 27. Mai 2002 beim 9. Forum für Redakteure aus aller Welt in Bruges, Belgien, gehalten hat.

Zuerst die gute Nachricht: Abu Alis neun Kinder leben und es geht ihnen gut - so gut wie es Kindern in den Ruinen des Flüchtlingslagers von Jenin gehen kann. Bitte geben Sie diese Nachricht an alle Ihre Bekannten weiter, die vor wenigen Wochen möglicherweise Abu Alis traurige Erklärung gelesen haben: "Meine neun Kinder sind unter den Ruinen beerdigt." Abu Alis Bild war auf einer Doppelseite eines angesehenen, einflussreichen europäischen Magazins unter dem Titel "Die Überlebenden erzählen ihre Geschichte" verbreitet worden.

Israelische Panzer und Bulldozer waren in das Lager eingedrungen, erinnerte sich Abu Ali. Er ging, um seinen Wagen vollzutanken und sagte seinen neun Kindern, dass sie sich an einer nahen Kreuzung treffen würden. Doch die israelischen Soldaten hinderten ihn daran, zurückzufahren. Und es dauerte eine Woche, so sagte er dem Reporter, bevor er zu den Ruinen dessen, was einmal sein Haus gewesen war, zurückkehren konnte. "Hier riecht es nach Tod" wird er zitiert. "Ich bin sicher, dass all meine Kinder unter dem Schutt begraben sind. Kommen Sie in einer Woche wieder und Sie werden ihre Leichen sehen."

Der Reporter und seine Redakteure warteten keine Woche, sondern veröffentlichten die Geschichte vorab. Sie waren mit dem Ausmaß der Tragödie, die sie mit ihren Augen sehen konnten und rechtmäßig in ihrem Magazin hätten beschreiben können, nicht zufrieden. Der Wunsch, die Geschichte aufzureißen, ließ ihren journalistischen Instinkt, jede Geschichte vor der Veröffentlichung anzuzweifeln und doppelt zu prüfen, abstumpfen.

Während ich diese Rede vorbereitete, überprüfte ich den Fall von Abu Ali. Erstens: abschließende Zahlen weisen darauf hin, dass während der Kämpfe im Flüchtlingslager von Jenin drei Kinder und vier Frauen getötet wurden. Zweitens: Abu Alis Kinder waren nicht unter ihnen. Und drittens: Das Magazin machte sich nicht die Mühe, seinen Lesern von diesem relativ glücklichen Ende der Geschichte zu berichten. Vielleicht weil man des Schreibens redaktioneller Anmerkungen über Geschichten aus Nahost überdrüssig geworden ist.

Die letzten zwanzig Monate des israelisch-palästinensischen Konfliktes haben eine wirkliche Werte-Krise für Journalisten geschaffen. Ich denke, ich kann mich aufgrund des gewaltigen Volumens der Berichterstattung und der Kommentare auf vier fundamentale Vergehen konzentrieren: Besessenheit, Vorurteil, herablassende Haltung und Unwissenheit. Die Geschichte von Abu Ali ist praktisch ein Beispiel für alle vier.

Es ist unmöglich, einen uralten Streit mit postmodernen Idiomen und unter Benutzung der Technologie des 21. Jahrhunderts auszudrücken - ohne die innewohnende Dissonanz zu erkennen. Doch diese Erkenntnis ist nicht immer vorhanden. Vielleicht ist die intensive Berichterstattung der Medien über diesen Konflikt deshalb oftmals so monopolisierend und nachteilig für die Region. Manchmal ist dies eine Schande für unseren Beruf. Ich frage mich, ob sich die Publizierer der Geschichte von Abu Ali bewusst waren, welche Auswirkung diese auf die Leser hatte, angefangen von denen in den abgelegenen Straßen von Jakarta bis hin zu denen in den Universitäten von Boston, von denen in den moslemischen Vierteln in Marseille bis hin zu denen, die zur jüdischen Gemeinde in Toronto gehören. Man fragt sich auch, ob sie sich dessen bewusst waren, welchen Einfluss diese Geschichte auf sie selbst genommen hat.

Wenn eines Tages die Historiker diese Krisenzeit überprüfen, werden sie auch den Prozess betrachten müssen, durch den die Medien von Beobachtern zu Teilnehmern geworden sind. Diesen Prozess, der an dem Punkt beginnt, an dem über die Geschichte berichtet wird und bis zu dem Punkt geht, an dem eine Hauptrolle in ihr gespielt wird, um dadurch die Umwelt für die eigenen Medienziele zu beeinflussen und manchmal auch aufzuhetzen. Die Medien kann man in diesem erbarmungslosen israelisch-palästinensischen Konflikt mit einem reichen Junkie vergleichen, der seinen Mercedes auf der Hauptstraße der Slums parkt. Man kann sicher sein, dass innerhalb kürzester Zeit jeder auf der Straße sein und eine große Vielfalt an Waren anpreisen wird.

Die weltweite Resonanz auf den Konflikt bedeutet eine verstärkte Reaktion auf die Arbeit von Ha'aretz, der Zeitung, die ich heute hier repräsentiere. Alle Mitarbeiter dieser Zeitung, sowohl Reporter wie Redakteure, müssen sich mit den Konsequenzen ihrer Arbeit befassen und zwar auf eine Weise, die wir in der Vergangenheit niemals erlebt haben und von der wir offen gestanden auch nie gedacht haben, dass wir sie erleben werden.

Die Monate der Gewalt haben unsere angesehene, 84 Jahre alte Zeitung gezwungen, ihre Rolle im kollektiven, nationalen Ethos zu spielen, obwohl unsere Kritiker klagen, dass wir dieser Rolle nicht genügend Enthusiasmus zukommen lassen. Durch unsere Kontakte mit der israelischen Öffentlichkeit fühlen wir tagtäglich den Einfluss unserer Arbeit, und wir können auch unseren Einfluss auf die Weltmeinung verfolgen, wenn auch weniger messbar.

Dies bedeutet nicht, dass wir frei sind von den vier fundamentalen Vergehen, auf die ich mich bezogen habe. Oh ja, wir sind oft besessen. Manchmal urteilen wir vorschnell. Hoffentlich sind wir nicht unwissend. Und was das vierte Vergehen, die herablassende Art, angeht, so denken viele unserer Leser tatsächlich, wir seien ihnen gegenüber herablassend.

Kürzlich hat eine israelische Bestsellerautorin, die sich politisch gesehen in der Mitte befindet, ihr Ha'aretz-Abonnement gekündigt. Sie schrieb (und ich zitiere): "...Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Sie und ich nicht am gleichen Ort leben. Eine große und ständig wachsende Anzahl der Berichte und Artikel in Ihrer Zeitung riechen nach ausländischer Presse, die den Staat Israel als ein ganz anderes, weit entferntes und unnahbares Territorium betrachtet."

Sofort, nachdem ihr Brief via Internet verbreitet worden war, wurden Online-Foren, Bereiche für den Meinungsaustausch und Diskussionsgruppen mit Hunderten von Reaktionen überschwemmt, inklusive unverschämter Kommentare von Leuten, die wahrscheinlich nie Ha'aretz gelesen haben, für die diese Zeitung jedoch einen Mangel an Patriotismus symbolisiert und somit ein gutes Ziel für chauvinistische Angriffe bietet. Jede Radiosendung, die die Frage nach der Loyalität von Ha'aretz erhebt, resultiert sofort in Kündigungen von Abonnements.

Ha'aretz' Haltung gegenüber dem Konflikt hat manche unserer zahlenden Abonnenten, die gut informiert sind, eine eigene Meinung haben und manchmal ungestüm sind in ihren Reaktionen auf unsere Arbeit, empört. Für diese Leser ist Ha'aretz Teil eines breiteren Spektrums von Medienoptionen, die sie zur Verfügung haben. Und wenn sie ärgerlich werden, sind manche bereit, auf diese Zeitung zu verzichten und sich dem sanfteren Journalismus anzuschließen.

Der Unterschied, den ich sehe, und der zwischen der Situation von Ha'aretz und derjenigen der internationalen Presse, die über die Region berichtet, besteht, tritt hier hoffentlich deutlich zutage. Wir von Ha'aretz leben im Gegensatz zu denjenigen, die über diesen Konflikt wie über ein großes Abenteuer berichten, täglich mit den Konsequenzen unserer Berichterstattung und zwar in jeder Sekunde unseres Daseins.

Ha'aretz ist eine kleine Zeitung in einem kleinen Land. Unsere Auflagenhöhe -Hebräisch und Englisch, wobei die englische Ausgabe ein Gemeinschaftsprojekt mit der International Herald Tribune ist- umfasst 100.000 Ausgaben. Dies sind weniger als zehn Prozent des israelischen Zeitungsmarktes. Nichtsdestotrotz erreichte die hebräische Website unserer Online-Ausgabe in den letzten 15 Monaten täglich eine halbe Millionen Leser und unsere englischsprachige Website weitere 700.000, hauptsächlich außerhalb Israels. Doch wenn ich beim (55. Welt-Zeitungs-) Kongress hinter der nächsten Tür unser Geschäftsmodell beschreiben würde, müsste ich sagen, dass wir, trotz des enormen globalen Interesses an unserem Internetprodukt, erstmal einen einzigen Penny an diesem verdienen müssen.

Sehr schnell wurden wir gezwungen zu erkennen, dass wir, trotz unserer bescheidenen Ansprüche, von vielen im Netz als Produzenten, Lieferanten und Darbietende für Informationen über den Nahen Osten gewählt wurden. Wir bedienen private Personen, Mediengruppen, Interessengemeinschaften und Organisationen rund um die Welt. Wir wurden zu einer Weltmarke, mit all den Problemen und Schwierigkeiten, die aus diesem Status resultieren.

Sind wir einer der Dealer, die sich um unseren in der Hauptstraße parkenden Mercedes herumtreiben? Das sind wir sicher nicht. Doch wir müssen andere in unserer Nachbarschaft ständig davon überzeugen, dass wir es nicht sind.

Dem israelisch-palästinensischen Konflikt mag es an Geheimnissen fehlen, nichtsdestoweniger ist er trügerisch. Praktisch gesehen hindert nichts daran, Informationen aus der Region zu bekommen, doch es ist keine einfache Aufgabe abzuschätzen, bis zu welchem Ausmaß diese Information der Wahrheit entsprechen. Tagtäglich ist es schwer, sich mit dem auseinanderzusetzen, was die Augen sehen, dennoch ist es wünschenswert, die visuellen Bilder in den Kontext einzubeziehen. Was die Ohren hören, kann besonders im Nahen Osten äußerst irreführend sein, falls das Gehörte nicht durch zusätzliche Informationen untermauert oder falls nicht sorgfältig auf die Quelle des Gehörten geachtet wird. Es kann schwer sein, zwischen einer verlässlichen Quelle, die einen akkuraten Bericht liefert und jemandem, der für den Dienst an seiner Nation ins Blaue lügt oder jemandem, der sich für eine sorgfältig ausgearbeitete jedoch unbegründete Verschwörungstheorie einsetzt, zu unterscheiden. Übertreibung, Desinformation und Provokation sind das Handwerkszeug der Region.

Auf der untersten Stufe von Sicht und Gehör ist über den Konflikt einfach zu berichten. Doch diese Stufe ist auch die größte Stolperfalle. Nichts ist so wie es zu sein scheint. Ein Beispiel: Während ich letztes Jahr im August in der Bretagne in einer friedlichen Stadt am Meer auf Familienurlaub war, konnte ich die Überschrift auf der Titelseite einer regionalen Zeitung nicht übersehen. Sie schrie einem von jedem Kiosk aus zu: "Israel ermordet palästinensischen politischen Führer". Die Geschichte erzählte, wie ein israelischer Hubschrauber eine Rakete durch das Bürofenster von Abu Ali Mustafa -Generalsekretär der PFLP (Popular Front for the Liberation of Palestine) in Ramallah- gefeuert hat und ihn augenblicklich tötete. Nun ist die PFLP tatsächlich eine politische Bewegung, doch sie ist auch eine aktive Terrororganisation.

Ich konnte nicht anders als mich zu fragen, ob diese Nachricht in dieser Erscheinung die Wahrnehmung des Konfliktes für den örtlichen Leser bereicherte. Und ich fragte mich, was den lokalen Redakteur dazu veranlasst hatte, sie zur Hauptnachricht dieses Tages zu machen. Zog er seine Schlüsse aus diesem Ereignis, indem er eine Analogie zur europäischen Politik vollzog?

Offensichtlich war sich der Redakteur, der die Überschrift schrieb, bestimmter Informationen, die Mustafas Verwicklung in die Koordination eines Terroranschlages auf eine israelische Schule, der in der folgenden Woche am 1. September durchgeführt wurde, nicht bewusst. Um dies zu wissen hätte der Redakteur tiefgehende, zuverlässige Quellen innerhalb des Geheimdienstes haben müssen. Wenn er dieses Wissen gehabt hätte, hätte er die Überschrift anders gestaltet? Oder hätte er aus dieser Nachricht nur eine kurze Auslandsmeldung gemacht, die irgendwo auf der Rückseite platziert gewesen wäre?

Wie man an ganz einfachen Beispielen sieht, ist neutrale Berichterstattung oftmals belastet. In vielen Fällen gibt es keine richtige Unterscheidung zwischen friedlichen Zivilisten und dem militanten Untergrund, zwischen einem anständigen Politiker und einem aktiven Terroristen. So ist es oftmals die Benutzung von sich widersprechender Terminologie, die zeigt, auf welcher Seite der beiden widerstreitenden Parteien die Berichterstatter stehen. "Shaheed" (Märtyrer) oder "Selbstmordattentäter"? "Widerstandskämpfer" oder "Terrorist"? Dies sind unterschiedliche Ausdrücke für ein und dieselbe Person. Indem man eine von ihnen wählt, zeigt man seine eigene Meinung im Konflikt. Im Nahen Osten ist Naivität ein nicht zu tolerierender Berufsfehler, besonders dann, wenn es um die Benutzung der Terminologie geht.

Niemand in der Region benutzt die Gegenwartsform, um den aktuellen Moment zu beschreiben. Es gibt nur die Vergangenheits- oder die Zukunftsform. Vergeltung für das, was passiert ist, oder Verhütung dessen, was noch passieren wird. Wie unsere Kinder uns erzählen: "Alles begann, als sie mich zurückschlug..."

Und doch ist die Geschichte, wie sie in den Medien geschildert wird, manchmal so schmerzhaft in der Gegenwartsform geschrieben und es mangelt ihr an Kontext und an Konsequenz. Ein Beispiel ist das Bild palästinensischer Verdächtiger, die bis auf ihre Unterhosen entkleidet waren, und eines israelischen Soldaten, der sein Gewehr auf sie richtete. Es ist unvermeidlich, dass dieses Bild schockierend wirkt auf jedermann, der nicht weiß, wieviel Blut durch Leute vergossen wurde, die Sprengstoffgürtel unter ihren Kleidern trugen und die es im Zeitalter der Unschuld geschafft hatten, durch Straßensperren zu gelangen.

Das Phänomen von Journalisten, die von einem persönlichen Missionseifer besessen sind, ist in unserer Region geläufig und hat auch uns bei Ha'aretz nicht außen vor gelassen. Ziemlich viele unserer Reporter sind vom Ehrgeiz getrieben, die Gesellschaft zu verbessern und ihr Schreiben fließt oftmals von idealistischer Leidenschaft über. Schließlich ist dies eine der Motivationen für einen Menschen, den Beruf des Journalisten zu ergreifen. Doch Redakteure müssen sich aufgrund der Konfrontation mit solch einer Berichterstattung ständig und sorgsam darum bemühen, den "Über-Enthusiasmus" aus der Berichterstattung zu nehmen. Da sowohl Redakteure wie lokale Leser mit der hiesigen Szene wohl vertraut sind, können diese Dinge in unserem Fall normalerweise mit einem gewissen Grad an Erfolg gehandhabt werden. Doch wenn ein Korrespondent ein entferntes, nicht informiertes Publikum bedient, können seine Redakteure oftmals darin versagen, die Verzerrungen herauszufiltern.

Manche Korrespondenten könnten in ihrer Entschlossenheit, ein Massaker in einem Flüchtlingslager ausfindig zu machen, besessen gewesen sein. Vorurteil und Unwissenheit waren hier auch am Zug. Eine professionellere Annäherung in dieser Geschichte wäre die gewesen, die fünf Millionen Handys in Israel und eine halbe Millionen mehr in den palästinensischen Gebieten zu berücksichtigen. Denn diese machen eine Vertuschung unmöglich. Noch bevor die ersten Reporter am Schauplatz im Jenin-Lager waren, war es offensichtlich, dass es dort kein Massaker gegeben hat, weil Hunderte von Soldaten, die an der Operation beteiligt waren, Reservisten waren. Dies bedeutet, sie sind vernünftige Bürger, die eine eigene Meinung haben. Viele von ihnen sind unsere Leser. Und jeder von ihnen hatte ein Handy in der Tasche, das er ständig in Gebrauch hatte.

Als vor vier Jahren im Juni 1998 das Forum für Redakteure aus aller Welt in Kobe, Japan, stattfand, äußerte ich einen Satz, der hieß: "Manchmal muss man sich gegen seine Leser behaupten." Damals beschrieb ich den Druck auf Ha'aretz, der von Lesern kam, die sich gegen unsere vollständige Berichterstattung über die palästinensische Seite stellten. Diese Leser befanden und für besessen und betrachteten uns als herablassend gegenüber ihnen und ihren Wünschen. Eine Anzahl von ihnen kündigte ihr Abonnement. Dies war während der ersten palästinensischen Intifada. In den letzten Monaten haben wir das gleiche erlebt, jedoch intensiver.

Während die gegenwärtige palästinensische Intifada weitergeht, befindet sich Ha'aretz in einer Vertrauenskrise hinsichtlich mancher Leser, die diese Zeitung als Quelle der Solidarität und des Trostes betrachten wollen und nicht nur als Spiegel, der aufgedeckte Wahrheiten reflektiert. Die Zeitung hat ein starkes Netz an Lesern und Inserenten und kann solche Schläge auffangen. Doch der fortdauernde öffentliche Sturm bezüglich unserer Berichterstattung ist besorgniserregend und zwingt uns, unseren Weg ständig und tiefgehend zu überprüfen.

Während Israel sich in den vergangenen Jahren schrittweise aus den palästinensischen Territorien zurückgezogen hat, wurde unsere Berichterstattung über diese Gebiete in mancher Hinsicht eher diejenige einer Auslands- als die einer Inlandskorrespondenz. Und doch sind wir in dieser Zeit sehr vertraut mit den Territorien und der palästinensischen Gemeinschaft geblieben, als ob sie Teil unseres eigenen Rhythmus wären. Über die Jahre hat unsere Berichterstattung die meisten Gebiete der palästinensischen Gesellschaft abgedeckt. Unsere Reporter haben sich ein tiefgehendes Wissen des palästinensischen Lebens und der palästinensischen Kultur angeeignet und sie haben enge Beziehungen zu ihren Informationsquellen.

Ha'aretz hat heute neun Reporter, die über die verschiedenen Aspekte der palästinensischen Seite der Geschichte berichten und viele andere, denen diesbezüglich spezielle Aufgaben übertragen werden. Und wir erfreuen uns eines besonderen Vorteils, weil ein Mitglied unseres Redaktionsteams, nämlich Amira Hass, seit 1993 in den Territorien lebt. Sie war zuerst in Gaza und zog später, nachdem die palästinensische Autonomiebehörde gegründet worden war, nach Ramallah. Sie berichtet rund um die Uhr von den palästinensischen Gebieten. Dies ist für einen Israeli einzigartig.

Eine der besonderen Fähigkeiten, die von einem Ha'aretz-Reporter, der über dieses Gebiet berichtet, verlangt wird, ist diejenige, manipulierte Informationen aller Art kritisch zu überprüfen und auszufiltern. Nur jemand, der sehr gut informiert und vertraut mit der Angelegenheit ist, kann -manchmal innerhalb weniger Stunden- ein Gerücht aus der Welt schaffen oder einen übertriebenen Bericht auf seine normalen Proportionen reduzieren.

Somit war es Ha'aretz dank Amira Hass' Anwesenheit in Jenin, gleich nachdem das Lager geöffnet worden war, und dank der Glaubwürdigkeit ihrer Berichte vom chaotischen Schauplatz möglich, schnell und zuverlässig zu berichten, dass es während und nach den Kämpfen kein Massaker in Jenin gegeben hat.

Wegen der jahrelangen Bereitschaft von Ha'aretz, auf die palästinensische Seite zu hören, und wegen der natürlichen Neigung der Zeitung, unsere Mission darin zu sehen, Übeltaten bloßzustellen, gibt es Reporter bei Ha'aretz, die sich darauf spezialisiert haben, humanitäre Fälle der palästinensischen Seite zu dokumentieren. Dies ist für uns nichts neues. Während der Zeiten des diplomatischen Dialogs mit den Palästinensern haben solche Berichte nicht viel Feindseligkeit erzeugt. Doch als die Beziehung zwischen beiden Seiten extremer wurde und sich palästinensische Gewalt gegen Israelis verstärkte, fanden es manche unserer Leser schwer, einen israelischen Reporter zu akzeptieren, der Sympathie oder sogar Mitleid für die palästinensischen Opfer der Situation zeigt. Seit sich die Anschläge vermehrten und ihnen immer mehr unschuldige Israelis zum Opfer fallen, wächst die Antipathie gegen diese Reporter, die fortfahren, das Leiden der anderen Seite zu beschreiben. Und sie sind nun das Hauptziel der Kritik, die gegen die Zeitung gerichtet ist, und sie werden als Hauptursache für gekündigte Abonnements genannt.

Es ist nicht immer ertragreich, wenn man versucht, endgültig über die Frage "Was passierte tatsächlich dort?" zu berichten, besonders nicht in dem Versuch, israelische und palästinensische Quellen zu sieben und zu vergleichen. Wir unternehmen große Anstrengungen, um unseren Lesern ein klares Bild zu präsentieren, doch trotzdem scheinen manche der Geschichten mehrdeutig zu sein. Sie zeigen zwei oder mehr widerstreitende Versionen und bieten manchmal kein abschließendes Urteil. Dies kann den Leser natürlich frustriert und ärgerlich zurücklassen.

Im vergangenen Jahr gab es eine dramatische Änderung bezüglich der Demographie der Ha'aretz-Leser. Dies ist das direkte Ergebnis unserer 24/7, frei zugänglichen Online-Ausgabe, sowohl in Englisch wie in Hebräisch. Der Inhalt der Zeitung ist durch das Internet neuen Interessengemeinschaften, die wir bisher nicht kannten, ausgesetzt: dem Israeli, der kein Abonnent ist, und sich nach den letzten Nachrichten umsieht, indem er mehrere Quellen für seine Informationen benutzt, und dem ausländischen Leser. Beide dieser Interessengemeinschaften reagieren aktiv auf die Zeitung und ihre Produkte. Die Internetausgabe hat das besondere, vertraute Verhältnis zwischen der gedruckten Ausgabe und deren Lesern beendet, da die Zeitung nun von einer viel größeren Anzahl von Nutzern beurteilt wird.

Durch die englische Internetausgabe wird Ha'aretz nun in einer beispiellosen Zahl von Artikeln und Reportagen zitiert. Während uns dies auf der einen Seite mit enormer Befriedigung und mit Stolz erfüllt, bereitet es uns andererseits auch Sorgen. Manchmal entdecken wir, dass Material, das von Ha'aretz herausgegeben wird, aus dem Zusammenhang gerissen und dazu benutzt wird, unterschiedlichen politischen oder Medienzwecken zu dienen. Manchmal werden dabei die Intentionen unserer Autoren und Redakteure absichtlich verdreht. Manchmal finden wir uns dabei, dass wir wegen unserer fortdauernden direkten Gespräche mit den Palästinensern und mit der arabischen Welt und aufgrund der öffentlichen Weltmeinung zu vorsichtig sind. Der gute Ruf der Zeitung wird manchmal ausgenutzt, um anti-israelische Propaganda zu legitimieren, was uns sehr besorgt.

Als die Zeitung Fälle von Vandalismus durch israelische Soldaten während der kürzlichen massiven Militäroperationen in der Westbank enthüllte, taten wir dies in gutem Glauben und im Vertrauen darauf, dass unsere Arbeit helfen würde, solche Methoden zu beenden. Doch wenn dann die Geschichte unter unserem Markenzeichen als Beweis für Israels abgrundtiefe und perverse Schlechtigkeit weit verbreitet wird, dann frage ich mich, ob es vielleicht ein fünftes fundamentales Vergehen beim Vertreiben einer Zeitung in dieser Region gibt: die Naivität.

Vielen Dank.

hagalil.com 18-07-02

haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2006 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved