Über das Dilemma der Nahostberichterstattung
Von Hanoch Marmari, Ha'aretz
Im folgenden findet sich der Text eines
Vortrages, den Hanoch Marmari, Chefredakteur von Ha'aretz, am 27.
Mai 2002 beim 9. Forum für Redakteure aus aller Welt in Bruges,
Belgien, gehalten hat.
Zuerst die gute Nachricht: Abu Alis neun Kinder
leben und es geht ihnen gut - so gut wie es Kindern in den Ruinen
des Flüchtlingslagers von Jenin gehen kann. Bitte geben Sie diese
Nachricht an alle Ihre Bekannten weiter, die vor wenigen Wochen
möglicherweise Abu Alis traurige Erklärung gelesen haben: "Meine
neun Kinder sind unter den Ruinen beerdigt." Abu Alis Bild war auf
einer Doppelseite eines angesehenen, einflussreichen europäischen
Magazins unter dem Titel "Die Überlebenden erzählen ihre Geschichte"
verbreitet worden.
Israelische Panzer und Bulldozer waren in das Lager eingedrungen,
erinnerte sich Abu Ali. Er ging, um seinen Wagen vollzutanken und
sagte seinen neun Kindern, dass sie sich an einer nahen Kreuzung
treffen würden. Doch die israelischen Soldaten hinderten ihn daran,
zurückzufahren. Und es dauerte eine Woche, so sagte er dem Reporter,
bevor er zu den Ruinen dessen, was einmal sein Haus gewesen war,
zurückkehren konnte. "Hier riecht es nach Tod" wird er zitiert. "Ich
bin sicher, dass all meine Kinder unter dem Schutt begraben sind.
Kommen Sie in einer Woche wieder und Sie werden ihre Leichen sehen."
Der Reporter und seine Redakteure warteten keine Woche, sondern
veröffentlichten die Geschichte vorab. Sie waren mit dem Ausmaß der
Tragödie, die sie mit ihren Augen sehen konnten und rechtmäßig in
ihrem Magazin hätten beschreiben können, nicht zufrieden. Der
Wunsch, die Geschichte aufzureißen, ließ ihren journalistischen
Instinkt, jede Geschichte vor der Veröffentlichung anzuzweifeln und
doppelt zu prüfen, abstumpfen.
Während ich diese Rede vorbereitete, überprüfte ich den Fall von Abu
Ali. Erstens: abschließende Zahlen weisen darauf hin, dass während
der Kämpfe im Flüchtlingslager von Jenin drei Kinder und vier Frauen
getötet wurden. Zweitens: Abu Alis Kinder waren nicht unter ihnen.
Und drittens: Das Magazin machte sich nicht die Mühe, seinen Lesern
von diesem relativ glücklichen Ende der Geschichte zu berichten.
Vielleicht weil man des Schreibens redaktioneller Anmerkungen über
Geschichten aus Nahost überdrüssig geworden ist.
Die letzten zwanzig Monate des israelisch-palästinensischen
Konfliktes haben eine wirkliche Werte-Krise für Journalisten
geschaffen. Ich denke, ich kann mich aufgrund des gewaltigen
Volumens der Berichterstattung und der Kommentare auf vier
fundamentale Vergehen konzentrieren: Besessenheit, Vorurteil,
herablassende Haltung und Unwissenheit. Die Geschichte von Abu Ali
ist praktisch ein Beispiel für alle vier.
Es ist unmöglich, einen uralten Streit mit postmodernen Idiomen und
unter Benutzung der Technologie des 21. Jahrhunderts auszudrücken -
ohne die innewohnende Dissonanz zu erkennen. Doch diese Erkenntnis
ist nicht immer vorhanden. Vielleicht ist die intensive
Berichterstattung der Medien über diesen Konflikt deshalb oftmals so
monopolisierend und nachteilig für die Region. Manchmal ist dies
eine Schande für unseren Beruf. Ich frage mich, ob sich die
Publizierer der Geschichte von Abu Ali bewusst waren, welche
Auswirkung diese auf die Leser hatte, angefangen von denen in den
abgelegenen Straßen von Jakarta bis hin zu denen in den
Universitäten von Boston, von denen in den moslemischen Vierteln in
Marseille bis hin zu denen, die zur jüdischen Gemeinde in Toronto
gehören. Man fragt sich auch, ob sie sich dessen bewusst waren,
welchen Einfluss diese Geschichte auf sie selbst genommen hat.
Wenn eines Tages die Historiker diese Krisenzeit überprüfen, werden
sie auch den Prozess betrachten müssen, durch den die Medien von
Beobachtern zu Teilnehmern geworden sind. Diesen Prozess, der an dem
Punkt beginnt, an dem über die Geschichte berichtet wird und bis zu
dem Punkt geht, an dem eine Hauptrolle in ihr gespielt wird, um
dadurch die Umwelt für die eigenen Medienziele zu beeinflussen und
manchmal auch aufzuhetzen. Die Medien kann man in diesem
erbarmungslosen israelisch-palästinensischen Konflikt mit einem
reichen Junkie vergleichen, der seinen Mercedes auf der Hauptstraße
der Slums parkt. Man kann sicher sein, dass innerhalb kürzester Zeit
jeder auf der Straße sein und eine große Vielfalt an Waren anpreisen
wird.
Die weltweite Resonanz auf den Konflikt bedeutet eine verstärkte
Reaktion auf die Arbeit von Ha'aretz, der Zeitung, die ich heute
hier repräsentiere. Alle Mitarbeiter dieser Zeitung, sowohl Reporter
wie Redakteure, müssen sich mit den Konsequenzen ihrer Arbeit
befassen und zwar auf eine Weise, die wir in der Vergangenheit
niemals erlebt haben und von der wir offen gestanden auch nie
gedacht haben, dass wir sie erleben werden.
Die Monate der Gewalt haben unsere angesehene, 84 Jahre alte Zeitung
gezwungen, ihre Rolle im kollektiven, nationalen Ethos zu spielen,
obwohl unsere Kritiker klagen, dass wir dieser Rolle nicht genügend
Enthusiasmus zukommen lassen. Durch unsere Kontakte mit der
israelischen Öffentlichkeit fühlen wir tagtäglich den Einfluss
unserer Arbeit, und wir können auch unseren Einfluss auf die
Weltmeinung verfolgen, wenn auch weniger messbar.
Dies bedeutet nicht, dass wir frei sind von den vier fundamentalen
Vergehen, auf die ich mich bezogen habe. Oh ja, wir sind oft
besessen. Manchmal urteilen wir vorschnell. Hoffentlich sind wir
nicht unwissend. Und was das vierte Vergehen, die herablassende Art,
angeht, so denken viele unserer Leser tatsächlich, wir seien ihnen
gegenüber herablassend.
Kürzlich hat eine israelische Bestsellerautorin, die sich politisch
gesehen in der Mitte befindet, ihr Ha'aretz-Abonnement gekündigt.
Sie schrieb (und ich zitiere): "...Ich bin zu dem Schluss gekommen,
dass Sie und ich nicht am gleichen Ort leben. Eine große und ständig
wachsende Anzahl der Berichte und Artikel in Ihrer Zeitung riechen
nach ausländischer Presse, die den Staat Israel als ein ganz
anderes, weit entferntes und unnahbares Territorium betrachtet."
Sofort, nachdem ihr Brief via Internet verbreitet worden war, wurden
Online-Foren, Bereiche für den Meinungsaustausch und
Diskussionsgruppen mit Hunderten von Reaktionen überschwemmt,
inklusive unverschämter Kommentare von Leuten, die wahrscheinlich
nie Ha'aretz gelesen haben, für die diese Zeitung jedoch einen
Mangel an Patriotismus symbolisiert und somit ein gutes Ziel für
chauvinistische Angriffe bietet. Jede Radiosendung, die die Frage
nach der Loyalität von Ha'aretz erhebt, resultiert sofort in
Kündigungen von Abonnements.
Ha'aretz' Haltung gegenüber dem Konflikt hat manche unserer
zahlenden Abonnenten, die gut informiert sind, eine eigene Meinung
haben und manchmal ungestüm sind in ihren Reaktionen auf unsere
Arbeit, empört. Für diese Leser ist Ha'aretz Teil eines breiteren
Spektrums von Medienoptionen, die sie zur Verfügung haben. Und wenn
sie ärgerlich werden, sind manche bereit, auf diese Zeitung zu
verzichten und sich dem sanfteren Journalismus anzuschließen.
Der Unterschied, den ich sehe, und der zwischen der Situation von
Ha'aretz und derjenigen der internationalen Presse, die über die
Region berichtet, besteht, tritt hier hoffentlich deutlich zutage.
Wir von Ha'aretz leben im Gegensatz zu denjenigen, die über diesen
Konflikt wie über ein großes Abenteuer berichten, täglich mit den
Konsequenzen unserer Berichterstattung und zwar in jeder Sekunde
unseres Daseins.
Ha'aretz ist eine kleine Zeitung in einem kleinen Land. Unsere
Auflagenhöhe -Hebräisch und Englisch, wobei die englische Ausgabe
ein Gemeinschaftsprojekt mit der International Herald Tribune ist-
umfasst 100.000 Ausgaben. Dies sind weniger als zehn Prozent des
israelischen Zeitungsmarktes. Nichtsdestotrotz erreichte die
hebräische Website unserer Online-Ausgabe in den letzten 15 Monaten
täglich eine halbe Millionen Leser und unsere englischsprachige
Website weitere 700.000, hauptsächlich außerhalb Israels. Doch wenn
ich beim (55. Welt-Zeitungs-) Kongress hinter der nächsten Tür unser
Geschäftsmodell beschreiben würde, müsste ich sagen, dass wir, trotz
des enormen globalen Interesses an unserem Internetprodukt, erstmal
einen einzigen Penny an diesem verdienen müssen.
Sehr schnell wurden wir gezwungen zu erkennen, dass wir, trotz
unserer bescheidenen Ansprüche, von vielen im Netz als Produzenten,
Lieferanten und Darbietende für Informationen über den Nahen Osten
gewählt wurden. Wir bedienen private Personen, Mediengruppen,
Interessengemeinschaften und Organisationen rund um die Welt. Wir
wurden zu einer Weltmarke, mit all den Problemen und
Schwierigkeiten, die aus diesem Status resultieren.
Sind wir einer der Dealer, die sich um unseren in der Hauptstraße
parkenden Mercedes herumtreiben? Das sind wir sicher nicht. Doch wir
müssen andere in unserer Nachbarschaft ständig davon überzeugen,
dass wir es nicht sind.
Dem israelisch-palästinensischen Konflikt mag es an Geheimnissen
fehlen, nichtsdestoweniger ist er trügerisch. Praktisch gesehen
hindert nichts daran, Informationen aus der Region zu bekommen, doch
es ist keine einfache Aufgabe abzuschätzen, bis zu welchem Ausmaß
diese Information der Wahrheit entsprechen. Tagtäglich ist es
schwer, sich mit dem auseinanderzusetzen, was die Augen sehen,
dennoch ist es wünschenswert, die visuellen Bilder in den Kontext
einzubeziehen. Was die Ohren hören, kann besonders im Nahen Osten
äußerst irreführend sein, falls das Gehörte nicht durch zusätzliche
Informationen untermauert oder falls nicht sorgfältig auf die Quelle
des Gehörten geachtet wird. Es kann schwer sein, zwischen einer
verlässlichen Quelle, die einen akkuraten Bericht liefert und
jemandem, der für den Dienst an seiner Nation ins Blaue lügt oder
jemandem, der sich für eine sorgfältig ausgearbeitete jedoch
unbegründete Verschwörungstheorie einsetzt, zu unterscheiden.
Übertreibung, Desinformation und Provokation sind das Handwerkszeug
der Region.
Auf der untersten Stufe von Sicht und Gehör ist über den Konflikt
einfach zu berichten. Doch diese Stufe ist auch die größte
Stolperfalle. Nichts ist so wie es zu sein scheint. Ein Beispiel:
Während ich letztes Jahr im August in der Bretagne in einer
friedlichen Stadt am Meer auf Familienurlaub war, konnte ich die
Überschrift auf der Titelseite einer regionalen Zeitung nicht
übersehen. Sie schrie einem von jedem Kiosk aus zu: "Israel ermordet
palästinensischen politischen Führer". Die Geschichte erzählte, wie
ein israelischer Hubschrauber eine Rakete durch das Bürofenster von
Abu Ali Mustafa -Generalsekretär der PFLP (Popular Front for the
Liberation of Palestine) in Ramallah- gefeuert hat und ihn
augenblicklich tötete. Nun ist die PFLP tatsächlich eine politische
Bewegung, doch sie ist auch eine aktive Terrororganisation.
Ich konnte nicht anders als mich zu fragen, ob diese Nachricht in
dieser Erscheinung die Wahrnehmung des Konfliktes für den örtlichen
Leser bereicherte. Und ich fragte mich, was den lokalen Redakteur
dazu veranlasst hatte, sie zur Hauptnachricht dieses Tages zu
machen. Zog er seine Schlüsse aus diesem Ereignis, indem er eine
Analogie zur europäischen Politik vollzog?
Offensichtlich war sich der Redakteur, der die Überschrift schrieb,
bestimmter Informationen, die Mustafas Verwicklung in die
Koordination eines Terroranschlages auf eine israelische Schule, der
in der folgenden Woche am 1. September durchgeführt wurde, nicht
bewusst. Um dies zu wissen hätte der Redakteur tiefgehende,
zuverlässige Quellen innerhalb des Geheimdienstes haben müssen. Wenn
er dieses Wissen gehabt hätte, hätte er die Überschrift anders
gestaltet? Oder hätte er aus dieser Nachricht nur eine kurze
Auslandsmeldung gemacht, die irgendwo auf der Rückseite platziert
gewesen wäre?
Wie man an ganz einfachen Beispielen sieht, ist neutrale
Berichterstattung oftmals belastet. In vielen Fällen gibt es keine
richtige Unterscheidung zwischen friedlichen Zivilisten und dem
militanten Untergrund, zwischen einem anständigen Politiker und
einem aktiven Terroristen. So ist es oftmals die Benutzung von sich
widersprechender Terminologie, die zeigt, auf welcher Seite der
beiden widerstreitenden Parteien die Berichterstatter stehen.
"Shaheed" (Märtyrer) oder "Selbstmordattentäter"?
"Widerstandskämpfer" oder "Terrorist"? Dies sind unterschiedliche
Ausdrücke für ein und dieselbe Person. Indem man eine von ihnen
wählt, zeigt man seine eigene Meinung im Konflikt. Im Nahen Osten
ist Naivität ein nicht zu tolerierender Berufsfehler, besonders
dann, wenn es um die Benutzung der Terminologie geht.
Niemand in der Region benutzt die Gegenwartsform, um den aktuellen
Moment zu beschreiben. Es gibt nur die Vergangenheits- oder die
Zukunftsform. Vergeltung für das, was passiert ist, oder Verhütung
dessen, was noch passieren wird. Wie unsere Kinder uns erzählen:
"Alles begann, als sie mich zurückschlug..."
Und doch ist die Geschichte, wie sie in den Medien geschildert wird,
manchmal so schmerzhaft in der Gegenwartsform geschrieben und es
mangelt ihr an Kontext und an Konsequenz. Ein Beispiel ist das Bild
palästinensischer Verdächtiger, die bis auf ihre Unterhosen
entkleidet waren, und eines israelischen Soldaten, der sein Gewehr
auf sie richtete. Es ist unvermeidlich, dass dieses Bild
schockierend wirkt auf jedermann, der nicht weiß, wieviel Blut durch
Leute vergossen wurde, die Sprengstoffgürtel unter ihren Kleidern
trugen und die es im Zeitalter der Unschuld geschafft hatten, durch
Straßensperren zu gelangen.
Das Phänomen von Journalisten, die von einem persönlichen
Missionseifer besessen sind, ist in unserer Region geläufig und hat
auch uns bei Ha'aretz nicht außen vor gelassen. Ziemlich viele
unserer Reporter sind vom Ehrgeiz getrieben, die Gesellschaft zu
verbessern und ihr Schreiben fließt oftmals von idealistischer
Leidenschaft über. Schließlich ist dies eine der Motivationen für
einen Menschen, den Beruf des Journalisten zu ergreifen. Doch
Redakteure müssen sich aufgrund der Konfrontation mit solch einer
Berichterstattung ständig und sorgsam darum bemühen, den
"Über-Enthusiasmus" aus der Berichterstattung zu nehmen. Da sowohl
Redakteure wie lokale Leser mit der hiesigen Szene wohl vertraut
sind, können diese Dinge in unserem Fall normalerweise mit einem
gewissen Grad an Erfolg gehandhabt werden. Doch wenn ein
Korrespondent ein entferntes, nicht informiertes Publikum bedient,
können seine Redakteure oftmals darin versagen, die Verzerrungen
herauszufiltern.
Manche Korrespondenten könnten in ihrer Entschlossenheit, ein
Massaker in einem Flüchtlingslager ausfindig zu machen, besessen
gewesen sein. Vorurteil und Unwissenheit waren hier auch am Zug.
Eine professionellere Annäherung in dieser Geschichte wäre die
gewesen, die fünf Millionen Handys in Israel und eine halbe
Millionen mehr in den palästinensischen Gebieten zu berücksichtigen.
Denn diese machen eine Vertuschung unmöglich. Noch bevor die ersten
Reporter am Schauplatz im Jenin-Lager waren, war es offensichtlich,
dass es dort kein Massaker gegeben hat, weil Hunderte von Soldaten,
die an der Operation beteiligt waren, Reservisten waren. Dies
bedeutet, sie sind vernünftige Bürger, die eine eigene Meinung
haben. Viele von ihnen sind unsere Leser. Und jeder von ihnen hatte
ein Handy in der Tasche, das er ständig in Gebrauch hatte.
Als vor vier Jahren im Juni 1998 das Forum für Redakteure aus aller
Welt in Kobe, Japan, stattfand, äußerte ich einen Satz, der hieß:
"Manchmal muss man sich gegen seine Leser behaupten." Damals
beschrieb ich den Druck auf Ha'aretz, der von Lesern kam, die sich
gegen unsere vollständige Berichterstattung über die
palästinensische Seite stellten. Diese Leser befanden und für
besessen und betrachteten uns als herablassend gegenüber ihnen und
ihren Wünschen. Eine Anzahl von ihnen kündigte ihr Abonnement. Dies
war während der ersten palästinensischen Intifada. In den letzten
Monaten haben wir das gleiche erlebt, jedoch intensiver.
Während die gegenwärtige palästinensische Intifada weitergeht,
befindet sich Ha'aretz in einer Vertrauenskrise hinsichtlich mancher
Leser, die diese Zeitung als Quelle der Solidarität und des Trostes
betrachten wollen und nicht nur als Spiegel, der aufgedeckte
Wahrheiten reflektiert. Die Zeitung hat ein starkes Netz an Lesern
und Inserenten und kann solche Schläge auffangen. Doch der
fortdauernde öffentliche Sturm bezüglich unserer Berichterstattung
ist besorgniserregend und zwingt uns, unseren Weg ständig und
tiefgehend zu überprüfen.
Während Israel sich in den vergangenen Jahren schrittweise aus den
palästinensischen Territorien zurückgezogen hat, wurde unsere
Berichterstattung über diese Gebiete in mancher Hinsicht eher
diejenige einer Auslands- als die einer Inlandskorrespondenz. Und
doch sind wir in dieser Zeit sehr vertraut mit den Territorien und
der palästinensischen Gemeinschaft geblieben, als ob sie Teil
unseres eigenen Rhythmus wären. Über die Jahre hat unsere
Berichterstattung die meisten Gebiete der palästinensischen
Gesellschaft abgedeckt. Unsere Reporter haben sich ein tiefgehendes
Wissen des palästinensischen Lebens und der palästinensischen Kultur
angeeignet und sie haben enge Beziehungen zu ihren
Informationsquellen.
Ha'aretz hat heute neun Reporter, die über die verschiedenen Aspekte
der palästinensischen Seite der Geschichte berichten und viele
andere, denen diesbezüglich spezielle Aufgaben übertragen werden.
Und wir erfreuen uns eines besonderen Vorteils, weil ein Mitglied
unseres Redaktionsteams, nämlich Amira Hass, seit 1993 in den
Territorien lebt. Sie war zuerst in Gaza und zog später, nachdem die
palästinensische Autonomiebehörde gegründet worden war, nach
Ramallah. Sie berichtet rund um die Uhr von den palästinensischen
Gebieten. Dies ist für einen Israeli einzigartig.
Eine der besonderen Fähigkeiten, die von einem Ha'aretz-Reporter,
der über dieses Gebiet berichtet, verlangt wird, ist diejenige,
manipulierte Informationen aller Art kritisch zu überprüfen und
auszufiltern. Nur jemand, der sehr gut informiert und vertraut mit
der Angelegenheit ist, kann -manchmal innerhalb weniger Stunden- ein
Gerücht aus der Welt schaffen oder einen übertriebenen Bericht auf
seine normalen Proportionen reduzieren.
Somit war es Ha'aretz dank Amira Hass' Anwesenheit in Jenin, gleich
nachdem das Lager geöffnet worden war, und dank der Glaubwürdigkeit
ihrer Berichte vom chaotischen Schauplatz möglich, schnell und
zuverlässig zu berichten, dass es während und nach den Kämpfen kein
Massaker in Jenin gegeben hat.
Wegen der jahrelangen Bereitschaft von Ha'aretz, auf die
palästinensische Seite zu hören, und wegen der natürlichen Neigung
der Zeitung, unsere Mission darin zu sehen, Übeltaten bloßzustellen,
gibt es Reporter bei Ha'aretz, die sich darauf spezialisiert haben,
humanitäre Fälle der palästinensischen Seite zu dokumentieren. Dies
ist für uns nichts neues. Während der Zeiten des diplomatischen
Dialogs mit den Palästinensern haben solche Berichte nicht viel
Feindseligkeit erzeugt. Doch als die Beziehung zwischen beiden
Seiten extremer wurde und sich palästinensische Gewalt gegen
Israelis verstärkte, fanden es manche unserer Leser schwer, einen
israelischen Reporter zu akzeptieren, der Sympathie oder sogar
Mitleid für die palästinensischen Opfer der Situation zeigt. Seit
sich die Anschläge vermehrten und ihnen immer mehr unschuldige
Israelis zum Opfer fallen, wächst die Antipathie gegen diese
Reporter, die fortfahren, das Leiden der anderen Seite zu
beschreiben. Und sie sind nun das Hauptziel der Kritik, die gegen
die Zeitung gerichtet ist, und sie werden als Hauptursache für
gekündigte Abonnements genannt.
Es ist nicht immer ertragreich, wenn man versucht, endgültig über
die Frage "Was passierte tatsächlich dort?" zu berichten, besonders
nicht in dem Versuch, israelische und palästinensische Quellen zu
sieben und zu vergleichen. Wir unternehmen große Anstrengungen, um
unseren Lesern ein klares Bild zu präsentieren, doch trotzdem
scheinen manche der Geschichten mehrdeutig zu sein. Sie zeigen zwei
oder mehr widerstreitende Versionen und bieten manchmal kein
abschließendes Urteil. Dies kann den Leser natürlich frustriert und
ärgerlich zurücklassen.
Im vergangenen Jahr gab es eine dramatische Änderung bezüglich der
Demographie der Ha'aretz-Leser. Dies ist das direkte Ergebnis
unserer 24/7, frei zugänglichen Online-Ausgabe, sowohl in Englisch
wie in Hebräisch. Der Inhalt der Zeitung ist durch das Internet
neuen Interessengemeinschaften, die wir bisher nicht kannten,
ausgesetzt: dem Israeli, der kein Abonnent ist, und sich nach den
letzten Nachrichten umsieht, indem er mehrere Quellen für seine
Informationen benutzt, und dem ausländischen Leser. Beide dieser
Interessengemeinschaften reagieren aktiv auf die Zeitung und ihre
Produkte. Die Internetausgabe hat das besondere, vertraute
Verhältnis zwischen der gedruckten Ausgabe und deren Lesern beendet,
da die Zeitung nun von einer viel größeren Anzahl von Nutzern
beurteilt wird.
Durch die englische Internetausgabe wird Ha'aretz nun in einer
beispiellosen Zahl von Artikeln und Reportagen zitiert. Während uns
dies auf der einen Seite mit enormer Befriedigung und mit Stolz
erfüllt, bereitet es uns andererseits auch Sorgen. Manchmal
entdecken wir, dass Material, das von Ha'aretz herausgegeben wird,
aus dem Zusammenhang gerissen und dazu benutzt wird,
unterschiedlichen politischen oder Medienzwecken zu dienen. Manchmal
werden dabei die Intentionen unserer Autoren und Redakteure
absichtlich verdreht. Manchmal finden wir uns dabei, dass wir wegen
unserer fortdauernden direkten Gespräche mit den Palästinensern und
mit der arabischen Welt und aufgrund der öffentlichen Weltmeinung zu
vorsichtig sind. Der gute Ruf der Zeitung wird manchmal ausgenutzt,
um anti-israelische Propaganda zu legitimieren, was uns sehr
besorgt.
Als die Zeitung Fälle von Vandalismus durch israelische Soldaten
während der kürzlichen massiven Militäroperationen in der Westbank
enthüllte, taten wir dies in gutem Glauben und im Vertrauen darauf,
dass unsere Arbeit helfen würde, solche Methoden zu beenden. Doch
wenn dann die Geschichte unter unserem Markenzeichen als Beweis für
Israels abgrundtiefe und perverse Schlechtigkeit weit verbreitet
wird, dann frage ich mich, ob es vielleicht ein fünftes
fundamentales Vergehen beim Vertreiben einer Zeitung in dieser
Region gibt: die Naivität.
Vielen Dank.
hagalil.com
18-07-02 |