Die israelische
Armee und die Intifada:
Operation Dornenfeld
Die israelische Armee ist nicht nur
ausführendes Organ der Regierungsbeschlüsse. Zumindest wo es um
militärische Maßnahmen gegen die Palästinenser geht, beeinflusst sie
auch die öffentliche Diskussion und wirkt maßgeblich an den
Entscheidungen von Parlament und Regierung mit. Deshalb war die
Armeeführung verstört und verärgert über die Tatsache, dass sie über
die Oslo-Verhandlungen relativ spät und nur unvollständig informiert
wurde. Das war womöglich ein gravierendes Versäumnis, weil die
politische Führung für die Umsetzung der Abkommen auf die Armee
angewiesen war. Das Problem bestand freilich darin, dass die
Oslo-Befürworter bei den führenden Militärs in der Minderheit waren.
Von MARIUS SCHATTNER
Journalist, Jerusalem. Autor
von "Histoire de la droite israélienne", Brüssel (Complexe) 1991.
Le Monde Diplomatique, 11.10.2002
Der Codename, den die israelische Armee für die
Al-Aksa-Intifada benutzt, lautet "Ebbe und Flut" - als wäre die
Auseinandersetzung mit den Palästinensern ein Naturereignis, das
rein nichts mit den Entscheidungen der israelischen Regierung zu tun
hat. Der Name kündet darüber hinaus von der Überzeugung, die
Gewaltwelle werde sich am Bollwerk der Armee brechen, man müsse nur
bis zu ihrem Abebben durchhalten - bis der Gegner "die Hoffnung
aufgibt, gewaltsam Zugeständnisse erzwingen zu können", wie es immer
wieder heißt.
Die Armeeführung hat die Woge der Gewalt angeblich
kommen sehen. Im Dezember 2001 erklärte der damalige
Vizegeneralstabschef Mosche Jaalon: "Der von den Palästinensern
ausgelöste bewaffnete Konflikt hat uns nicht überrascht, wir hatten
schließlich unsere Informationen und im Hauptquartier die
entsprechenden Vorkehrungen getroffen."(1) Schon 1995 habe der
militärische Geheimdienst Aman - unter Leitung von Jaalon -
Ministerpräsident Jitzhak Rabin gewarnt, die Palästinensische
Autonomiebehörde verletze die Oslo-Verträge von 1993 und unternehme
nichts gegen die Terroranschläge. Aman habe gewusst, "wer die
Urheber waren, wo die Waffen versteckt lagen und wie groß die
terroristische Gefahr war". Und das alles bereits fünf Jahre bevor
das Scheitern des Friedensprozesses offensichtlich wurde.(2)
War dem wirklich so? Im Sommer 1995 verfügte Aman
jedenfalls noch über "keine Hinweise darauf, dass Jassir Arafat sich
nicht für den Vertrag (von Oslo) und den Friedensprozess einsetzt".
Offenbar hielt sich der militärische Geheimdienst damals an die alte
Regel: Alle Möglichkeiten auskundschaften - und den Regierenden dann
mitteilen, was sie gerade hören wollen.(3)
Einige hochrangige Militärs - insbesondere die
entschiedensten Oslo-Gegner - schlugen allerdings schon früh Alarm.
Sie sahen in der Fortsetzung der Terroranschläge den Beweis dafür,
dass Arafat insgeheim noch immer die Vernichtung Israels im Sinn
habe. Dass die Anschläge ausschließlich von islamistischen
Gruppierungen verübt wurden, die auch gegen Arafat Front machten,
übergingen sie.
Mit dem 29. September 2000 wurde das
Katastrophenszenario dieser Fraktion zur Wirklichkeit: Der Auftritt
von Ariel Scharon auf dem Tempelberg löste die zweite Intifada aus.
Die israelische Armee war längst vorbereitet. Ihre prompten
Gegenmaßnahmen brachten Arafat dazu, Generalstabschef Schaul Mofas
und Ministerpräsident Ehud Barak von der Arbeitspartei vorzuwerfen,
Scharons Auftritt sei eine geplante Provokation gewesen - mit dem
Ziel, die ungeliebte Palästinensische Autonomiebehörde endlich
loszuwerden.
Dass der israelische Generalstab die Konfrontation
mit den Palästinensern inszeniert habe, ist durch nichts bewiesen.
Doch heißt dies, dass er den Konflikt unbedingt vermeiden wollte?
Könnte es nicht sein, dass Teile des Militärs in der Kraftprobe die
lang ersehnte Chance sahen, die Autonomiebehörde zu zerschlagen und
der Regierung, die noch bis Januar 2002 eine Übereinkunft mit Arafat
anstrebte, ihren Willen aufzuzwingen?
Für diese Vermutung spricht, was Gilead Scheer
berichtet. Der Anwalt war Kabinettschef unter Barak und einer der
wichtigsten Unterhändler bei den Verhandlungen mit den
Palästinensern. In seinem Buch über die Friedensgespräche analysiert
er: Sich selbst erfüllende Prophezeiungen spielen im Militär eine
große Rolle." Die Regierung hatte verschiedene Zusagen gemacht, um
den Konflikt zu entschärfen - doch aus den meisten wurde nichts. Im
Westjordanland und im Gaza-Streifen wurden die Eingerückten "eben
nicht auf die Ausgangsstellungen zurückgezogen, nur ein sehr kleiner
Teil der palästinensischen Arbeiter durfte wieder nach Israel
einreisen, die Straßensperren blieben bestehen". Scheer kritisiert
auch die Neigung einiger Armeeführer, "die Regierung zu übergehen
und mit ihren politischen Vorstellungen direkt an die Öffentlichkeit
zu gehen", wie in den letzten Monaten der Amtszeit von Ehud Barak
häufig geschehen.(4)
In einem Staat, in dem das Militär in die Politik
hineinredet, kommt es zwangsläufig zu solchen Situationen. Die Armee
hat unbestritten eine gesellschaftliche Vormachtstellung, denn sie
ist für die Lageanalyse wie auch für Planung und Durchführung von
Maßnahmen verantwortlich. Sie spiegelt die allgemeine Stimmung im
Land wider - und inzwischen finden sich in ihren Reihen immer mehr
Siedler und Nationalreligiöse, wenn auch noch nicht im Oberkommando.
Mit den klassischen rechten Argumenten haben sich
zwei Generalstabschefs, Schaul Mofas wie sein Nachfolger Mosche
Jaalon, vehement in die Tagespolitik eingemischt und einen Krieg
gegen die Palästinensische Autonomiebehörde propagiert. Im Februar
2001, noch vor Scharons Amtsantritt, bezeichnete General Mofas die
Autonomiebehörde als "terroristisches Gebilde". Im Oktober
opponierte er gegen die - von der Regierung angeordnete - Räumung
zweier (inzwischen wieder besetzter) Stadtviertel in Hebron. Im
Frühjahr 2002 forderte er die Ausweisung Arafats - gegen die Meinung
der Kabinettsmehrheit und von Militärexperten.
Der neue Generalstabschef Jaalon bezeichnet die
Intifada als Krebsgeschwür, das die Existenz des jüdischen Staates
bedrohe - ein Pendant zu der arabischen Rhetorik, die Israel als die
bösartige Wucherung in der Region sieht. Jaalon ist der Meinung, das
Geschwür müsse mittels einer "Chemotherapie" ausgemerzt werden,
vermerkt aber zugleich, dass andere sogar eine "Amputation"
empfehlen. Zudem kritisiert er den im Mai 2000 von der Regierung
Barak angeordneten Rückzug Israels aus dem Libanon, der nur "den
Arabern in die Hände gespielt" habe. Wer Kompromisslösungen sucht
oder die Armee kritisiert, untergräbt in seinen Augen die Moral der
Nation.
Jaalons Einlassungen sind heftig umstritten,
werden aber von anderen Militärs geteilt. So nannte Luftwaffenchef
Dan Halutz im August 2002 die zivilen Opfer bei Luftangriffen "gegen
Terroristen" vertretbar und kündigte an, er werde jeden israelischen
Pazifisten, der ihn eines Kriegsverbrechens zu bezichtigen wage,
"wegen Landesverrats vor Gericht bringen".
Damit stellt sich erneut die seit den
Oslo-Verträgen vom August 1993 wiederholt aufgeworfene Frage nach
dem Einfluss der israelischen Armee auf die Politik. In seinen
Memoiren schildert Reservegeneral Uri Sagui seine Empörung darüber,
dass er als Chef des militärischen Geheimdienstes von den geheimen
Osloer Verhandlungen der Regierung mit der Palästinensischen
Befreiungsorganisation (PLO) erst kurz vor deren Abschluss hörte.
Ministerpräsident Rabin habe ihn über die Aktivitäten seines
Außenministers Schimon Peres, der die Federführung bei den
Verhandlungen hatte, "nicht in Kenntnis gesetzt", berichtet Sagui,
er habe nur "mit Hilfe meiner eigenen Informationsquellen
herausgefunden, was da vorging, und dann den Chef des Generalstabs,
Ehud Barak, informiert"(5).
Der ehemalige Geheimdienstchef, den man zu den
gemäßigten Militärs zählt, meint bedauernd, er habe von dem
Oslo-Abkommen "zu spät erfahren, um es noch beeinflussen zu können".
Er war überzeugt, dass der in Oslo vereinbarte schrittweise
Truppenrückzug für Israel von Nachteil sei, da er das Land zwinge,
ohne Gegenleistung "Gebiete aufzugeben. Als dann die Militärexperten
hinzugezogen wurden, erhoben sie immer neue Sicherheitsbedenken: Die
palästinensische Polizei sollte ihre Waffen nicht gegen Israelis
einsetzen dürfen, und die Sicherheit der jüdischen Siedlungen sei so
zu garantieren, dass sie noch schneller expandieren konnten. Dennoch
sei das militärische Oberkommando nicht grundsätzlich gegen die
Oslo-Verträge gewesen, erklärt Reservegeneral Danny Rotschild, bis
1995 Chef der Militärverwaltung in den besetzten Gebieten. "Unter
den hochrangigen Offizieren waren einige dafür, einige dagegen,
manche einfach misstrauisch. Ich persönlich war begeistert."
Auch General Amnon Schahak, von 1995 bis 1998
Nachfolger Baraks im Amt des Generalstabschefs, bewertet die
Oslo-Verträge eindeutig positiv. Wie viele andere Militärs sieht er
durch sie die Sicherheit Israels gestärkt. Deshalb bekam er damals
Ärger mit seinem Ministerpräsidenten: Ausgerechnet der erzrechte
Benjamin Netanjahu warf dem Oberkommando Einmischung in die Politik
vor.(6) Auch der Admiral der Reserve, Ami Ajalon, ehemaliger Chef
des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth, war für eine Übereinkunft mit
den Palästinensern: Nachdem er 2000 aus dem Amt geschieden war,
plädierte er für den bedingungslosen Rückzug aus den besetzten
Gebieten.
Freilich sind innerhalb des Militärs jene
Vertreter in die höchsten Positionen aufgestiegen, die von Anfang an
Gegner der Osloer Verträge waren, allen voran die beiden
Generalstabschefs Mofas und Jaalon. Danny Rotschild ist dennoch der
Überzeugung, dass die Armee sich nicht aus ideologischen Motiven
gegen die Umsetzung der Oslo-Verträge sperrt, sondern aufgrund
kurzfristiger Erwägungen: Militärs können eben nicht von den Zwängen
der aktuellen Sicherheitslage absehen. Als 1994 der jüdische Siedler
Baruch Goldstein in Hebron dreißig Gläubige in einer Moschee
erschossen hatte und anschließend die Islamisten eine Welle von
Selbstmordattentaten inszenierten, optierte die Armee für die
Abriegelung der palästinensischen Gebiete.
Schon damals wies der Inlandsgeheimdienst Schin
Beth auf die damit entstehenden Probleme hin. Denn diese Maßnahme
führte dazu, dass über hunderttausend Palästinenser ihre Arbeit in
Israel verloren, und machte den Friedensprozess für die
Palästinenser mit einem Schlag unglaubwürdig. Denn diese hatten sich
von den Oslo-Verträgen wenigstens eine Verbesserung ihrer
wirtschaftlichen Lage versprochen.
Militärische Doppelstrategie
DieE Armee, ohnehin gespalten und insgesamt eher
skeptisch gegenüber den Oslo-Verträgen, fand sich damit in einer
widersprüchlichen Situation. Einerseits war es ihre Aufgabe, für die
Umsetzung der Verträge zu sorgen, und dies unter Regierungen der
Arbeitspartei, die darauf aus waren, durch Einbindung der Militärs
in die Verhandlungen die Öffentlichkeit zu überzeugen. Andererseits
bereitete sie sich schon auf die militärische Auseinandersetzung mit
den palästinensischen Verhandlungspartnern vor. In der Nacht vom 23.
zum 24. September 1996 kam es zur erwarteten Konfrontation, nachdem
die israelischen Behörden in der Altstadt von Jerusalem einen
römischen Tunnel wieder öffentlich zugänglich gemacht hatten, der
unter dem Moscheen-Komplex auf dem Tempelberg verlief. Die Muslime
sahen darin eine Bedrohung ihrer heiligen Stätte. Die ersten
Demonstrationen, die brutal niedergeschlagen wurden, entwickelten
sich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, in die auch die
palästinensische Polizei eingriff. Darauf war die israelische Armee
allerdings schlecht vorbereitet - Ministerpräsident Netanjahu hatte
sie von der Tunnelöffnung nicht vorab informiert. Am Ende zählte man
achtzig Tote, darunter fünfzehn israelische Soldaten.
"Diese Unruhen bedeuteten einen Wendepunkt",
erklärt Igal Ejal, ehemaliger Leiter der Abteilung für historische
Studien bei den Streitkräften. "Für das militärische Oberkommando
bestand nun kein Zweifel mehr, dass Arafat den Volkszorn nutzte, um
Vorteile bei den Verhandlungen herauszuschlagen." Die Militärs
schlossen daraus, es werde "weitere größere Konflikte unter
Beteiligung der palästinensischen Sicherheitskräfte geben, sobald
die Verhandlungen in eine entscheidende Phase eintreten oder die
Palästinenser einseitig ihre Unabhängigkeit erklären".(7)
Im Juli 2000, nach dem Scheitern des
Camp-David-Gipfels, verstärkte die Armee ihre Vorbereitungen auf den
bewaffneten Konflikt, nicht zuletzt weil sie im gegnerischen Lager,
vor allem bei der Fatah, alle Vorbereitungen auf einen solchen
Konflikt zulaufen sah. Rund um die Siedlungen wurden die Wachtposten
verstärkt, neue Taktiken wurden erprobt, Spezialeinheiten
ausgebildet. Der wichtigste der neuen Einsatzpläne trug den
Codenamen "Operation Dornenfeld". Er
sollte das Vorgehen im gesamten Westjordanland koordinieren.
Diese Pläne kamen nach Beginn der zweiten Intifada
zum Zuge. Die Grundidee war, schnell und hart zuzuschlagen und den
Aufstand im Keim zu ersticken. Mit dem Ergebnis, dass es auf
palästinensischer Seite bereits in den ersten Wochen der
Auseinandersetzungen sehr viele Tote gab - achtmal so viele wie auf
israelischer Seite. In den folgenden zwei Jahren reduzierte sich
dieses Verhältnis auf eins zu drei: etwa 600 getöteten Israelis
(zumeist Zivilisten) stehen etwa 1 800 palästinensische Opfer
gegenüber.
Die Pläne der Armee ergaben als Ganzes eine
Strategie des "begrenzten Konflikts", die das Militär bereits vor
dem Ausbruch der Intifada entworfen hatte. "Die Militärführung hatte
begriffen, dass es nicht ausreicht, die wechselnden, unklaren
Anweisungen der Politik auszuführen", erklärt Iri Kahn, der im
Bereich der Einsatzvorbereitung der Armee für die Ausbildung von
Führungsoffizieren und für strategische Konzepte zuständig ist. "Wir
müssen die politischen Absichten interpretieren wie ein Architekt
die Wünsche seiner Kunden, neue Konzepte und andere Ideen für den
Kampf entwickeln und dabei auch die internationalen
Rahmenbedingungen und die Rolle der öffentlichen Meinung
berücksichtigen. Es geht nicht darum, ein Territorium zu besetzen,
die Herrschaft über die palästinensischen Autonomiegebiete
wiederzuerlangen oder gar zu einer Militärverwaltung mit all ihren
Komplikationen zurückzukehren, sondern lediglich darum, den
Palästinensern klar zu machen, dass die Gewalt nichts bringt, dass
sie sich letztlich gegen sie selbst richtet." Dann, und nur dann,
wird Israel einen Friedensplan vorlegen müssen, meint Kahn, denn
"ohne eine politische Lösung" könne es keine dauerhafte Regelung
geben.
Dieser Zeitpunkt rückt näher, versichert ein
anderer hochrangiger Offizier aus der Abteilung für strategische
Planung. Er glaubt, eine "wachsende Unzufriedenheit der
palästinensischen Bevölkerung" gegenüber ihrer Führung, vor allem
gegenüber Jassir Arafat festzustellen. Im rechten Augenblick müsse
ein politisches Abkommen geschlossen werden, doch es sei noch zu
früh, um Einzelheiten bekannt zu geben. Jedenfalls werde nicht
Arafat der Partner sein - der habe nicht einen Volksaufstand
entfesselt, wie oft behauptet werde, sondern ganz bewusst einen
"echten Krieg" angefangen. Die Armee sei davon nicht überrascht
worden, meint der Offizier, doch sie habe nicht erwartet, "dass der
Kampf so lange dauern, so viele Tote fordern und von einer so
blutigen Serie von Selbstmordanschlägen begleitet sein würde". Auch
daran ist angeblich allein der unberechenbare Jassir Arafat schuld.
Was immer man von diesen Erklärungen hält, in
jedem Fall sieht man ihnen an, dass sie Israel von jeder
Verantwortung freisprechen wollen. Die Armee hätte demnach weder
etwas mit den Ursachen der Unruhen zu tun, noch müsste sie sich für
die harten Unterdrückungsmaßnahmen rechtfertigen, die hunderte
unbeteiligter Zivilisten das Leben gekostet haben und, im Zuge einer
Politik der Kollektivbestrafung, zur Zerstörung vieler
palästinensischer Häuser führten.
"Was ist los mit unserer Armee?", fragte Nahum
Barnea, Starkolumnist der auflagenstärksten israelischen
Tageszeitung Jediot Acharonot, nachdem am 31. August 2002 bei
einem fehlgeschlagenen "Liquidierungseinsatz" zwei Kinder und zwei
Jugendliche ums Leben gekommen waren. Für diese "Panne" hatte sich
das Militär wieder einmal öffentlich entschuldigen müssen, und
wieder einmal mussten die Verantwortlichen weder öffentliche Kritik
noch irgendwelche Konsequenzen befürchten. Nahum Barnea prangerte
die "Selbstgerechtigkeit" der Militärführung an, aber er stellte
auch die Frage, ob es überhaupt eine moralische Rechtfertigung für
Aktionen gebe, bei denen die Armee bewusst in Kauf nimmt, zum
Beispiel die Eltern einer "Zielperson" zu töten. Und er fragte sich,
was es über die Absichten der Streitkräfte aussagt, wenn solche
Operationen ausgerechnet nach einer Phase relativer Ruhe stattfinden
und damit wieder eine neue Runde von Attentaten und
Vergeltungsmaßnahmen auslösen.(8)
Auch der Orientalist Avraham Sela, der früher im
militärischen Geheimdienst gearbeitet hat, sieht solche Vorfälle
nicht nur als Einsatzpannen. "Zumal am Beginn der Intifada war eine
Absicht ganz klar: viele Todesopfer, und zwar nicht nur unter den
palästinensischen Heckenschützen, sondern auch unter den
Demonstranten, die zumeist nur mit Steinen warfen. Damit gelang es
der Armee, den Volksaufstand niederzuschlagen, aber um den Preis,
dass sich daraus ein bewaffneter Kampf und terroristische
Aktivitäten entwickelten." Das Dilemma können auch die Streitkräfte
nicht beenden, solange man den Palästinensern kein glaubwürdiges
Angebot für eine politische Lösung machen kann.
Nach Ansicht von Avraham Sela, der heute Professor
an der Hebräischen Universität Jerusalem ist, soll die
selbstgerechte Haltung der Militärführung nur verdecken, dass "sie
über keine solide Strategie verfügt". Denn die Moral des Gegners zu
brechen könne kein Kriegsziel in einem vernünftigen politischen
Sinne sein.
Besonders bedenklich findet Sela, "dass die
Propaganda, in der Arafat als unberechenbar und als Erzfeind Israels
dargestellt wird, letztlich nur Vorurteile über die Palästinenser
und die Araber im Allgemeinen ausdrückt, denen man nur eines
zutraut: dass sie Israel zu vernichten trachten. Dass diese Menschen
durchaus bereit sind, sich auf einen Modus Vivendi mit Israel zu
verständigen, wird nicht zur Kenntnis genommen."
dt. Edgar Peinelt
Fußnoten:
(1) Siehe den Artikel "Die Vorbereitung der Streitkräfte auf einen
bewaffneten Konflikt" (hebr.), Ma'arahot (Tel Aviv), Nr.
380-381, Dezember 2001, S. 24-30.
(2) Gespräch über die Geschichte der Geheimdienste mit der
Armeezeitschrift Mabat le Moreschet Hamodiin (Tel Aviv), 28.
Januar 2002. Der heutige Generalstabschef erklärt dort auch: "Ich
schlug Ministerpräsident Rabin vor, ein Ultimatum zu stellen: Wenn
er [Arafat] nicht bereit sei, gegen den Terrorismus vorzugehen,
werde man den Friedensprozess abbrechen."
(3) Siehe den Artikel von Jossi Melman in Ha'aretz (Tel Aviv)
vom 16. August 2002, das Zitat stammt aus einer internen Analyse des
militärischen Geheimdienstes.
(4) Gilead Scheer, "Zum Greifen nah" (hebr.), Tel Aviv (Tamar) 2001,
S. 368.
(5) Uri Sagui, "Orot be Arafel" (Lichter im Nebel), Autobiografie,
Tel Aviv (Jediot Acharonot) 1998, S. 186-187. Sagui betont, er habe
damals direkte Verhandlungen mit der PLO befürwortet - eine
Position, die in der Armee keineswegs Mehrheitsmeinung war.
(6) Bei einem Ministertreffen am 15. Juni 1998. Siehe afp-Meldung
vom 15. Juni 1998.
(7) Die Ereignisse hinderten die Regierung Netanjahu keineswegs
daran, in der Folge die israelischen Streitkräfte aus vier Fünfteln
von Hebron abzuziehen. Daraus schlossen nach Ansicht des
Journalisten Charles Enderlin militante Fraktionen der
Palästinenser, unter dem Eindruck gewaltsamer Angriffe sei Israel
eher zu Zugeständnissen bereit. Er beruft sich dabei auf Äußerungen
des Fatah-Führers Marwan Barghuti, der inzwischen von Israel
verhaftet und vor Gericht gestellt wurde. Siehe Charles Enderlin,
"Le Rêve brisée", Paris (Fayard) 2002, S. 74.
(8) Jediot Acharonot, 1. September 2002. Inzwischen hat eine
Untersuchungskommission die Militärführung von der Verantwortung für
diese Opfer sowie für den Tod weiterer acht Palästinenser bei zwei
ähnlichen Einsätzen freigesprochen - sie hat dabei allerdings auch
empfohlen, die Vorschriften für den
Schusswaffeneinsatz zu präzisieren.
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14-10-02 |