
EINE SCHWIERIGE GESCHICHTE:
DEUTSCHE UND DIE MENSCHENRECHTSARBEIT ZU ISRAEL
ai-Journal 02-2002 -
Wie sollen sich deutsche Menschenrechtler im Nahost-Konflikt verhalten?
Sollen Sie unter Verweis auf die Universalität der Menschenrechte Israel
als Land wie jedes andere behandeln? Oder sollen sie vor dem Hintergrund
der deutschen Geschichte zu Menschenrechtsverletzungen in Israel
schweigen?
Anmerkungen von Volkmar Deile
Die Gründung und weltweite Ausbreitung
von amnesty international knüpfen an viele verschiedene
Unrechtserfahrungen an. Carola Stern hat die Motive der Gründer der
deutschen Sektion so geschildert: "Wir hatten noch die Nazizeit erlebt.
Einige von uns, darunter ich, hatten begeistert "Heil" geschrieen.
Familienangehörige gehörten zu den Tätern, andere zu den Opfern. Doch es
einte uns die Überzeugung, dass sich die Verbrechen der Nazizeit nie und
nirgends wiederholen dürften." So sehr die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte eine internationale Antwort auch auf die "Akte der
Barbarei" des NS-Staates ist, so unterschiedlich sind die biografischen
Zugänge und die Antworten auf die Frage von Schuld, Sühne und
Verantwortung in Deutschland und außerhalb Deutschlands. Und damit auch
die Begründungen für eine aktive Menschenrechtsarbeit in
unterschiedlichen kulturellen Kontexten, die sich im gemeinsamen
Zielpunkt universell gültiger Menschenrechte treffen.
Als weltweit agierende Organisation
arbeitet amnesty international selbstverständlich unabhängig von den
besonderen Verpflichtungen der deutsch-israelischen Beziehungen gegen
die Verletzung der Menschenrechte in Israel und Nahost. Sie
recherchiert, veröffentlicht Berichte, gibt Presseerklärungen heraus und
unterstützt Menschenrechtler in der Region. Das ist ihr Auftrag.
Die ai-Berichte sind unverzichtbar. Die Informationen sind zuverlässig
und orientieren sich strikt am Maßstab der international vereinbarten
und universell gültigen völkerrechtlichen Menschenrechtsnormen. Gerade
angesichts der immer heftiger ausgetragenen Propagandakriege im Kontext
bewaffneter Konflikte sind sorgfältig recherchierte Informationen
wichtig. Eine weite Verbreitung ist wünschenswert. Nachdem ich die
Leserbriefe in den jüngsten Ausgaben des ai-JOURNALs gelesen habe,
wünsche ich mir dass auch die Leserinnen und Leser des "Magazins für die
Menschenrechte" mehr über die Region wissen. In einigen Briefen finden
sich Rechtfertigungen von Menschenrechtsverletzungen einerseits,
einseitige Polemiken andererseits bis hin zu handfesten Vorurteilen über
"sorglos um sich schießende israelische Soldaten" und die Falschmeldung,
allein Israel sei für die palästinensischen Flüchtlingslager
verantwortlich. Streit ist gewiss wichtig, aber bitte auf der Basis
solider Informationen. Über diese verfügt amnesty.
Aktionen zu Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten sind
nötig, weil ein besserer Menschenrechtsschutz eine wesentliche
Vorbedingung für Frieden in der Region ist. Deshalb befürworte ich die
Entsendung einer internationalen Beobachtermission, wenn diese hilft,
jene Kräfte zu stärken, die sich in Israel und Palästina für einen
besseren Menschenrechtsschutz einsetzen. Die verheerende Rolle, die die
Vereinten Nationen in den siebziger Jahren mit einer Resolution spielte,
die Zionismus mit Rassismus gleichsetzte, ist zwar nicht vergessen - und
das zu Recht -, aber sie wurde später offiziell zurückgezogen. Ohne
einen internationalen Rahmen wird es keinen Friedensprozess im Nahen
Osten geben. Und dabei sind die Vereinten Nationen ebenso wichtig wie
die Politik der in der Region einflussreichen Regierungen anderer
Staaten.
Die deutsche ai-Sektion hat als Teil der internationalen Organisation
die Aufgabe, über die Verletzung der Menschenrechte auch im Nahen Osten
zu informieren und Aktionen dagegen zu initiieren. Sie setzt heute das
um, was vom Internationalen Sekretariat an Vorschlägen kommt. Dahin ist
es seit der Gründung ein weiter Weg gewesen. Ich selbst habe in den
90er-Jahren am ersten Gespräch unserer Sektion in der israelischen
Botschaft in Bonn teilgenommen. Wir sollten solche Termine weiterhin
wahrnehmen, weil politische Interessen und Rücksichten eine realistische
Sicht auf viele am Nahost-Konflikt beteiligte Staaten verstellen.
Menschenrechtler in Deutschland sollten zu Israel und Nahost aber nur
arbeiten, wenn sie dies in Kenntnis der christlich-jüdischen und
deutsch-israelischen Geschichte tun. Für die Gründer von ai in
Deutschland war das Erschrecken über den "Zivilisationsbruch" (Diner)
der Shoah und die Verpflichtung, "dass Auschwitz nicht noch einmal sei"
(Adorno) Ausgangspunkt ihres Engagements. Sie verbanden diese
Einstellung mit der festen Überzeugung, dass Menschenrechtsverletzungen
in Israel kein Thema für die deutsche Sektion seien. Das kann ich gut
nachvollziehen.
Obwohl sich die praktische Ausdrucksform dieser Überzeugung geändert
hat, ist deren Ausgangspunkt nach wie vor relevant. Deshalb habe ich es
befürwortet, dass die Jahresversammlung von ai vor einigen Jahren die
besondere deutsche Situation noch einmal ausdrücklich bekräftigt hat.
Daran ändern die in unserer Gesellschaft virulenten Tendenzen zu einem
Schlusspunkt unter die Geschichte und die Änderung des biografischen
Bezugs zum Nationalsozialismus nichts. Im Gegenteil: Die Begegnungen mit
den Opfern des Nationalsozialismus in Israel, Polen und Russland haben
mich gelehrt, Geschichte aus der Sicht der Opfer zu verstehen und
sensibel zu sein für die Fortwirkungen der deutschen Unrechtsgeschichte
in Gegenwart und Zukunft. Und sie haben mich gelehrt, dass ich als
Deutscher des Jahrgangs 1943 Verantwortung dafür habe, was mit dieser
Geschichte in der Zukunft gemacht wird. Nicht das Heraustreten aus dem
Schatten der Geschichte, die mancher heute wegen einer angeblichen
"größeren Verantwortung Deutschlands" befürwortet, halte ich für
richtig. Auch nicht für die Israel-Arbeit von ai. Statt dessen geht es
um den niemals endenden Versuch, in der Begegnung mit der Geschichte den
aufrechten Gang zu lernen. Das heißt, darüber zu streiten, wie die
Verantwortung am besten für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben
der Menschen eingesetzt werden kann.
Es gibt hier zu Lande viele Menschen mit antijüdischen und
antisemitischen Einstellungen – und das in allen weltanschaulichen
Lagern: rechts, links und in der Mitte. Als vor kurzem in Berlin eine
Demonstration gegen die Kampfhundeverordnung geplant wurde, kündigten
die Veranstalter an, den mitgeführten Kampfhunden Judensterne
umzuhängen. Und als Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche seine
berühmte "Moralkeulenrede" gegen die Erinnerung an Auschwitz hielt und
die versammelte Gesellschaft danach in standing ovations ausbrach - nur
der damalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden Bubis und der
Wittenberger Pfarrer Schorlemmer blieben sitzen – habe ich verstanden,
wie stark der Wunsch ist, der Geschichte auf die eine oder andere Art zu
entfliehen.
Deshalb glaube ich, dass Menschenrechtsarbeit in Deutschland gegenüber
Israel ohne Erinnerung nicht möglich ist. Ich kann jeden Israeli gut
verstehen, der gerade von Deutschen nicht auf Menschenrechtsverletzungen
in seinem eigenen Staat angesprochen werden möchte. Das muss jeder
wissen, der sich in der Israel-Arbeit von ai engagiert.
Es gibt auch andere Erfahrungen. Bei einer Begegnung mit der Direktorin
der israelischen Sektion ermutigte diese uns, die
Menschenrechtsbewegungen in Israel und den Autonomiegebieten nach
Kräften zu unterstützen. Ich entsinne mich auch gut des Besuchs von
Vertretern der israelischen und palästinensischen
Menschenrechtsorganisationen B'Tselem und Al Haq. Sie kamen zusammen,
hatten fast gleichlautende Analysen über die Lage der Menschenrechte in
ihren Ländern und vertraten übereinstimmende Forderungen. Niemand
benutzte die Menschenrechtsverstöße der anderen Seite zur Rechtfertigung
der Gewalt der eigenen Seite.
Deutsche ai-Arbeit zu Israel und dem Nahen Osten sollte sich strikt an
die Vorgaben der internationalen Organisation halten und Kritik immer am
Maßstab des internationalen Menschenrechtsschutzes orientieren. Sie
sollte sich jeder politischen Parteinahme im Konflikt enthalten und
immer so argumentieren, dass sie nicht für Propaganda missbraucht werden
kann. Die staatliche Existenz Israels ist Voraussetzung jeder
Menschenrechtsarbeit ebenso wie der voraussichtlich kommende Staat der
Palästinenser. Sie stehen nicht zur Debatte. Das Sicherheitsbedürfnis
aller Menschen in der Region ist legitim. Auf beiden Seiten gilt es
einen pluralistischen Diskurs über die Zukunft der Gesellschaft wie über
die gemeinsame Zukunft im Neben- und Miteinander zur Kenntnis zu nehmen.
Kollektive Urteile über die Juden oder die Araber sind ebenso falsch wie
generalisierende Verurteilungen oder Forderungen nach kollektiver
Bestrafung. Das gegenseitige Aufrechnen der Opfer ist ein wichtiger
Zulieferer des Gewaltkreislaufes und darf nicht – beabsichtigt oder
unbeabsichtigt – mitgemacht werden. Glaubwürdige Menschenrechtsarbeit
schützt jedes Individuum – egal wo es lebt, was es denkt und glaubt,
welche Sprache es spricht oder wie es aussieht.
Volkmar Deile war von 1990 bis 1999
Generalsekretär der
deutschen ai-Sektion
haGalil onLine 17-03-2002 |