
Mauern gegen den Frieden:
Israel zieht neue Grenzen
Um ihre eigenen Irakpläne
vorantreiben zu können, haben die Amerikaner den Friedensplan des
"Quartetts" (UNO, USA, Russland, EU), der für 2005 einen
palästinensischen Staat vorsieht, wieder auf die Tagesordnung
gesetzt. Doch Israels Ministerpräsident Scharon hat den Vorschlag
der internationalen Gemeinschaft strikt abgelehnt, insbesondere
jeglichen Rückzug aus den besetzten Gebieten. So gewinnt er Zeit,
seinen Mauerbau voranzutreiben und damit das Territorium Israels
gewissermaßen aufzurunden. Vor allem die geplante Doppelmauer um
Jerusalem schafft territoriale Fakten, die kaum reversibel sind und
die den palästinensischen Anspruch auf die Stadt völlig übergehen.
Von Matthew Brubacher
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Orient House in Ostjerusalem (das
von der israelischen Regierung am 10. August 2001 geschlossen wurde)
und Berater der palästinensischen Autonomiebehörde zur
Jerusalemfrage.
Zwischen Israel und dem Westjordanland entsteht
derzeit eine 360 Kilometer lange Sicherheitsmauer, die dreimal
länger und doppelt so hoch ist wie die Berliner Mauer. Damit wird
ein erheblicher Teil des Westjordanlandes annektiert; die
militärischen Pufferzonen um die palästinensischen
Bevölkerungszentren werden ausgedehnt und die Bewohner dieser Zonen
praktisch in ein offenes Gefängnis gesperrt.
Die erste "Mauer", die Israel gebaut hat, war der
lückenlose Elektrozaun, mit dem Gaza während der ersten Intifada
(1987-1993) hermetisch abgeriegelt wurde. Dank dieses Zaunes konnte
Israel damals nicht nur die Oberhoheit über seine 16 Siedlungen
sichern, sondern auch die Bewegungen der Palästinenser
kontrollieren. Heute hält Israel immer noch 20 Prozent des
Territoriums von Gaza besetzt, während sich die 1,2 Millionen
Palästinenser auf einer in drei Kantone untergliederten ursprünglich
ländlichen Fläche drängen.
Der Bau einer Mauer um das Westjordanland
bedeutet, dass den dort lebenden Palästinensern ein ähnliches
Schicksal bevorsteht wie ihren Landsleuten in Gaza. Der erste
Abschnitt der Mauer wird zwischen Israel und dem größten Teil des
nördlichen Westjordanlands verlaufen. Diese Mauer, die innerhalb der
1967 besetzten Gebiete entsteht und entlang der
Waffenstillstandslinie verläuft, wird jedoch zahlreiche jüdische
Siedlungen Israel anschließen, mehrere wichtige palästinensische
Ortschaften einmauern und andere palästinensische Siedlungen
auseinander reißen. Die Ortschaft Qaffin etwa verliert 60 Prozent
ihrer landwirtschaftlichen Fläche, andere Regionen wie die von
Kalkilya büßen nicht nur Land ein, sondern werden auch noch vom
Westjordanland wie von Israel abgeschnitten. Die Mauer in dieser
Gegend wird Israel weit über eine Million Dollar pro Kilometer
kosten. Sie wird aus einer acht Meter hohen Betonmauer, einem zwei
Meter tiefen Graben, einem Stacheldraht und einer Straße für
Sicherheitspatrouillen bestehen und alle dreihundert Meter mit einem
Wachturm bestückt sein.
Der erste, 95 Kilometer lange Abschnitt dieser
nördlichen Mauer verläuft von Salem bis Kfar Kassem. Mit ihr
annektiert Israel de facto ein Territorium, das 1,6 Prozent des
Westjordanlands ausmacht, auf dem 11 illegale israelische Siedlungen
stehen und 10 000 Palästinenser leben. Israel will sich dieses
Gebiet so komplett einverleiben, dass dieser Schritt bei den
Verhandlungen über den endgültigen Status von Israel/Palästina schon
wegen der hohen Kosten nicht mehr rückgängig zu machen ist. So
gesehen lässt sich die Mauer auch als Strategie verstehen, die
"Grüne Linie" - die Waffenstillstandslinie vom Ende des
6-Tage-Krieges von 1967 - zugunsten Israels zu verschieben.
Der Bau der Mauer rund um Ostjerusalem bedeutet
auch das Ende aller Bestrebungen der Palästinenser, ihren Staat auf
die Region Jerusalem auszudehnen. Während die Mauer im Norden an
keinem Punkt mehr als acht Kilometer tief in das Westjordanland
vordringt, wird sie bei Jerusalem viel weiter in palästinensisches
Gebiet hineinreichen. Die Mauer im Norden und die Mauer um Jerusalem
folgen also offensichtlich nicht derselben Logik.
Laut den israelischen Minimalforderungen, die den
von der Regierung Barak bei den Friedensverhandlungen in Camp David
und Taba gemachten Vorschlägen entsprechen, will man im Norden auch
die stadtähnlichen Siedlungen innerhalb des Westjordanlandes für
Israel erhalten. Die Mauer im Norden wird also keine politische
Grenze darstellen, wie es Ministerpräsident Ariel Scharon und sein
ehemaliger Verteidigungsminister Ben Eliezer auch mehrfach betont
haben. Dagegen spiegelt die Mauer, die um Jerusalem herum geplant
ist, sehr wohl die territorialen Interessen und wird also
tatsächlich auch eine politische Grenze sein.
Um die Herrschaft der Israelis über "Greater
Jerusalem"(1) zu sichern, konzentriert die Regierung ihre Aktionen
auf diese Gegend. Nach dem Plan mit dem Titel "Jerusalem einbetten",
den Scharon Anfang dieses Jahres autorisiert hat, wird der erste
Bauabschnitt der Mauer sowohl das ganze Stadtgebiet von Jerusalem
(so wie es durch Israel nach 1967 definiert wurde) als auch die
weiter außerhalb gelegenen Siedlungsstädte Givon (im Norden) und
Maale Adumin (im Osten) einschließen.
Diese Einverleibung von "Greater Jerusalem" in das
israelische Staatsgebiet bringt beträchtliche Probleme mit sich -
denn damit werden auch sehr viele Palästinenser "einverleibt". Daran
wird deutlich, dass Sicherheitsinteressen und demografische
Interessen nicht in Einklang zu bringen sind. Um dieses Problem zu
lösen, versucht Israel, zwei Mauern um Jerusalem herum zu bauen. Da
ist zunächst eine innere Mauer, die das Gebiet innerhalb der
israelisch definierten Stadtgrenzen abtrennt. Doch darüber hinaus
ist eine zweite, äußere Mauer vorgesehen, die auch die
Siedlungsblöcke umfasst.
Der Unterschied zu mittelalterlichen
Festungsmauern besteht darin, dass die neuen Mauern um Jerusalem vor
allem aus einem Elektrozaun und einer Patrouillenstraße bestehen
werden; stellenweise sollen sie auch mit Gräben und Betonmauern
verstärkt und mit Überwachungskameras ausgestattet werden. Beide
Mauern muss man sich als eine Art Kettenring vorstellen, welcher die
bereits bestehenden israelischen Siedlungen und die Militärposten,
die schon heute von einzelnen Sicherheitskordons umgeben sind,
systematisch miteinander verbindet. So wird die israelische
Herrschaft auch über das Gebiet zwischen den Siedlungen lückenlos
gesichert.
Nach dem heutigen Stand der Dinge sind die Mauern
im Raum Jerusalem vor allem dazu gedacht, die israelischen Gebiete
von den palästinensischen Bevölkerungszentren zu trennen. Im Norden
der Stadt haben die Israelis schon eine Mauer quer über den
Flughafen von Kalandiyahy gebaut, die als Grenze zwischen Jerusalem
und Ramallah fungiert. Im Osten verläuft eine Betonmauer entlang dem
Ölberg, die sich zwischen die palästinensischen Gemeinden Abu Dis
und Asaria und Jerusalem schiebt. Im Süden wurde eine Mauer mit
vorgelagertem Graben gebaut, die nicht nur Bethlehem von Jerusalem
scheidet, sondern auch ein beträchtliches Stück des Gemeindelandes
abzwackt, das Bethlehem nach 1967 noch verblieben ist. Damit haben
die Israelis nebenbei auch noch Rachels Grab annektiert, eine für
Juden wie für Muslime heilige Stätte, die eigentlich tief innerhalb
der Gemarkung von Bethlehem zwischen zwei palästinensischen
Flüchtlingslagern gelegen ist.
Da es gegen dieses israelische Vorgehen keinerlei
internationalen Proteste gibt, plant Jerusalems Bürgermeister Ehud
Olmert eine weitere Mauer um Kufr Aqab und das Flüchtlingslager
Qalandia. Die palästinensischen Bewohner dieser Gegend, die im
äußersten Norden des israelischen Jerusalem liegt, haben Jerusalemer
Personalausweise und zahlen israelische Steuern, ohne die
entsprechenden kommunalen Dienstleistungen zu erhalten. Im
Gegenteil: der Checkpoint von Kalandiyahy versperrt ihnen den freien
Zutritt nach Jerusalem. Und überdies plant Olmert nun noch eine
Mauer, die das Gebiet auch noch vom Westjordanland abschneidet.
Damit werden die Bewohner praktisch in einem virtuellen Gefängnis
leben.
Wenn die Mauer vom Norden des Westjordanlands bis
nach Jerusalem fertig gestellt sein wird, wird Israel über 7 Prozent
dieses Gebietes annektiert haben, was 39 Siedlungen mit etwa 270 000
Bewohnern einschließt - aber auch 290 000 Palästinenser, von denen
70 000 keine israelischen Bürger sind. Diese haben also kein Recht
auf Bewegungsfreiheit oder auf Sozialleistungen - obwohl der Staat
sie von ihrer Lebensbasis im Westjordanland abschneiden wird. Diese
70 000 Menschen werden also unter höchst prekären Bedingungen leben
und einem ständig zunehmenden Emigrationsdruck ausgesetzt sein. Und
die Fortsetzung der Mauer im Süden in Richtung Hebron wird die
Annexion von noch einmal etwa 3 Prozent des Westjordanlandes mit
sich bringen.
Mit dem Bau der Mauer und der weiteren Expansion
der Siedlungen folgen die Israelis der bekannten Logik: "Was wir
heute bauen, wird uns morgen gehören." Ihre Handlungen verstoßen
zwar gegen das Völkerrecht und gegen dutzende von UN-Resolutionen,
aber es gibt keine politischen Instrumente, um sie zu stoppen. Je
stärker bewehrt und befestigt die Siedlungen sind, desto schwieriger
und teurer wird es, sie zu beseitigen. Damit gewinnt das Kriterium,
das der frühere US-Präsidenten Bill Clinton im Dezember 2000 in Camp
David für einen künftigen Jerusalem-Kompromiss eingeführt hat, einen
ganz anderen dynamischen Sinn. Die Formel "Was jüdisch ist, wird
israelisch, was arabisch ist, ist palästinensisch" scheint jede
israelische Expansion zu legitimieren, die bis zum Beginn künftiger
Verhandlungen stattgefunden haben wird.
Die internationale Gemeinschaft steht heute
offensichtlich hinter dem Nahostplan des "Quartetts" (USA, EU,
Russland, UN), der den Neubeginn von Verhandlungen über eine
endgültige Friedensregelung innerhalb von drei bis fünf Jahren
vorsieht. Aber sie macht sich kaum Gedanken über die Frage, welche
Art von Palästinenserstaat dann überhaupt noch zur Debatte stehen
wird. Da allein schon die Mauer den Palästinensern 10 Prozent ihres
Territoriums im Westjordanland wegnehmen wird und da die
israelischen Siedlungen sich in allen besetzten Gebiete weiter
ausbreiten, ist die Verhandlungsposition der Palästinenser massiv
unterminiert
Wenn es also eine Chance für die Wiederaufnahme
von Verhandlungen im Rahmen einer Zweistaatenlösung geben soll, muss
die internationale Gemeinschaft heute durchsetzen, dass der
Siedlungsbau eingefroren und die Rückführung von Siedlern aus den
besetzten Gebieten nach Israel gefördert wird. Eine solche
politische Initiative kann nicht so lange aufgeschoben werden, bis
alle möglichen Vorbedingungen erfüllt sind oder gar ein
Waffenstillstand zustande kommt.
Künftige Friedensverhandlungen werden sich mit
sehr viele Aspekten befassen müssen, aber die Siedlungen und der Bau
der Mauer sind vordringliche Themen, da eine reale und akute
Bedrohung nicht nur für den Frieden in der gesamten Region
darstellen. Sie gefährden auch den Gesamtrahmen einer
Friedensregelung und die Perspektive einer künftigen Koexistenz
zwischen zwei unabhängigen und lebensfähigen Staaten.
aus dem Engl. von Niels Kadritzke
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02-12-2002 |