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Applaus für Scharon:
Komplimente für einen alten Gegner

Warum Ministerpräsident Ariel Scharon mit seinem Vorstoß für einen Rückzug aus dem Gaza-Streifen die israelische Linke beeindruckt

Von Thorsten Schmitz

Jerusalem, im Februar - Am Telefon war David Grossman sehr eindeutig. Über Ariel Scharon reden? Über die Palästinenser? Über die Zukunft Israels? Erst hatte er geschwiegen, dann "Muss das sein?" in den Hörer gefragt. Er sei doch Schriftsteller, kein Politiker. Er habe doch schon alles gesagt, er wolle lieber über Bücher reden, über die Literatur, das Schreiben, auf gar keinen Fall über den Nahen Osten. Ob ich sein gerade auf Deutsch erschienenes Buch "Das Gedächtnis der Haut" schon gelesen habe. Und ob die Frühjahrsbuchmesse in Leipzig kleiner sei als das Frankfurter Pendant, denn vor der Frankfurter Buchmesse fürchte er sich, "da geht man doch verloren als Schriftsteller".

Zum Gespräch ins Jerusalemer King David Hotel kommt Grossman auf die Minute genau, er eilt geradezu in die Lobby und hält Ausschau nach dem Berichterstatter aus Deutschland. Wie das Wetter denn im März in Deutschland sei, und dann noch mal die Messe in Leipzig. Er hat sich vom Verlag überreden lassen, dort aus seinem Buch zu lesen. Er fürchte sich vor Menschenmassen und sagt, für Elfriede Jelinek und ihr Fernbleiben bei der Nobelpreisverleihung habe ja auch jeder Verständnis gehabt, "ich zuallererst".

In den folgenden zwei Stunden ist Grossman dann kaum zu bremsen. Der Pfefferminztee vor ihm wird kalt, sein Blick haftet geradezu auf den Augen des Gesprächspartners, und als läge ihm etwas Schweres auf der Brust, das er schon lange hatte loswerden wollen, spricht er fast ohne Unterbrechung über eine Stunde lang über die Politik im Nahen Osten und deren Hauptakteur, Ariel Scharon.

Dabei zollt David Grossman, der linke Schriftsteller und einer der prononciertesten Kritiker Scharons, dem Premierminister Respekt. Leicht fällt ihm das nicht: "Ich kann nicht sagen, dass ich Scharon mag, aber dass er den Gaza-Streifen aufgeben will, davor habe ich große Hochachtung." Womöglich überblicke Scharon die Dynamik gar nicht, die er mit dem Gaza-Rückzug anstoßen werde. Zumindest aber habe er einen Perspektivenwechsel durchgemacht: "Scharon sieht die Dinge vom Premierministersessel aus nun differenzierter, als Oppositionschef hat er nur gezetert und gebissen und gelogen, weil er keine Verantwortung trug." Er wolle seinen schlechten Ruf polieren, der ihm seit dem Libanon-Krieg anhafte, "indem er Frieden macht mit den Palästinensern". Scharon trage "so viele Opfer auf seiner Seele, dass er das Gefühl hat, er müsse jetzt etwas wiedergutmachen". In gewisser Weise habe sich Scharon mit seiner Annäherung an die Palästinenser als "Ausführungsorgan der linken Ideologie" entpuppt, die seit jeher die Besatzung von Gaza-Streifen und Westjordanland als Unrecht geißelt. Insofern ließe sich "kaum jemand in Israel vorstellen, der ein effizienteres Ausführungsorgan abgeben könnte und bei seinem Tun auf weniger Widerstand stoßen würde als Scharon". Die Linke in Israel sei "verloren", sagt Grossman, und Schuld daran seien auch die Palästinenser, die mit ihrer Intifada Angst und Schrecken unter den versöhnlichsten Israelis verbreitet hätten. Er bewundere Scharon nicht, er wünsche sich, der frühere Justizminister Jossi Beilin würde Israel den Frieden mit den Palästinensern bringen, "aber leider hat Beilin keine Mehrheit".

Der 76 Jahre alte israelische Regierungschef Ariel Scharon ist seit vier Jahren im Amt - und ein politischer Überlebenskünstler. Er hat Dutzende von Misstrauensanträgen und Regierungskrisen überstanden, er hat die Entthronungsversuche der Rebellen seiner eigenen Likud-Partei unbeschädigt überstanden, er hat seinen Erzfeind Jassir Arafat überlebt und dessen Intifada mit unerbittlicher militärischer Gewalt bekämpft. Die internationale Kritik an seinem kompromisslosen Führungsstil ist an ihm abgeperlt wie Wasser auf Teflon - und plötzlich überrascht Scharon die Welt mit seinem Plan, jüdische Siedlungen aufzulösen, die bislang als Fundament seiner Ideologie galten.

Mit dem geplanten Rückzug aus dem Gaza-Streifen, der Scharon nun auch den Applaus der Linken in Israel verschafft und mit dem er den Hass der jüdischen Siedler auf sich zieht, will Scharon die Herrschaft über dessen 1,3 Millionen Palästinenser loswerden und vermeiden, dass ihm die internationale Staatengemeinschaft eine Lösung aufzwingt nach deren Gusto. Noch vor einem Jahr verglich er die jüdischen Siedlungen im Gaza-Streifen mit der Millionenmetropole Tel Aviv im Kernland Israels - inzwischen ist er gewillt, die 8500 jüdischen Siedler zu opfern, um den laut Uno am dichtesten bevölkerten Flecken Erde loszuwerden. Die Besiedlung des Westjordanlandes, in dem 230000 jüdische Siedler leben, schreitet derweil zum Missfallen der Palästinenser fort, die für ihren Staat auch das gesamte Westjordanland fordern.

Allein im vergangenen Jahr sind Tausende neuer Wohneinheiten auch außerhalb der Grenzen existierender Siedlungen im Westjordanland errichtet worden. Doch für die Evakuierung der 8500 jüdischen Siedler im Gaza-Streifen zollen ihm selbst seine schärfsten Kritiker Respekt. Neben dem Schriftsteller Grossman überraschenderweise auch Dror Etkes, der für die Friedensbewegung "Peace now" die Siedlungsaktivitäten kartografiert und dokumentiert und dem kein noch so kleiner Außenposten entgeht. Seit über zehn Jahren kurvt Etkes mit seinem staubigen Pick-up-Wagen durch Judäa und Samaria, wie die Siedler ihre angeeignete Heimat in Anlehnung an das Alte Testament nennen, und schreibt die Landkarte der jüdischen Siedler im Westjordanland neu. Die Erkenntnis dabei fasst Etkes an einem strahlenden Wintersonnentag mit Blick auf eine neue Siedlerstraße im Süden von Jerusalem in den lakonischen Satz zusammen: "Es wird gebaut wie eh und je."

Erst vor einer Woche hat "Peace now" in einem Jahresbericht über 2004 festgestellt, dass Außenposten errichtet und erweitert und in jüdischen Siedlungen im Westjordanland mindestens 3000 neue Wohneinheiten errichtet wurden. Dennoch äußert sich Etkes erstmals öffentlich optimistisch über die Zukunft und sagt: "In zehn Jahren werde ich arbeitslos sein." Bis dahin würden auch die meisten jüdischen Siedlungen im Westjordanland evakuiert.

Wir fahren zur jüdischen Siedlung Efrat, wo vor dem Neubau eines Einfamilienhauses eine ultra-orthodoxe Jüdin mit einem palästinensischen Bauarbeiter verhandelt, und Etkes sagt: "Scharon hat mit seinem Gaza-Rückzug eine Dynamik angestoßen, die er selbst gar nicht mehr überblickt. Es gibt kein Zurück mehr. Das Siedlungsprojekt wird sterben, und deshalb ist die Reaktion der Siedler auch so hysterisch. Sie wissen, dass es nicht beim Rückzug aus dem Gaza-Streifen bleiben wird."

Vollbremsung des Tankers

Die Tatsache, dass im Westjordanland dennoch weiter gebaut wird und im letzten Jahr Hunderte neuer Siedler zugezogen sind, erklärt Etkes mit einem Gleichnis: "Wenn ein Riesentanker auf offener See eine Vollbremsung vollziehen muss, dauert es auch mehrere Meilen, bis das Schiff zum Stillstand kommt. Im Moment werden noch Siedlungen mit Genehmigungen erweitert, die noch aus der Zeit vor dem Gaza-Rückzugsbeschluss stammen." Letztendlich, diese Erkenntnis habe sich in der israelischen Gesellschaft längst und im politischen Betrieb "peu à peu" durchgesetzt, "wissen wir alle, dass Israel nicht über ein fremdes Volk herrschen kann, will es seine Existenz nicht gefährden". Scharon leite "ein historisches Ereignis ein".

Erstmals mache ein israelischer Regierungschef die Rechnung auf, was und ob das Siedlungsprojekt etwas bringe, "ob es sich lohnt oder nicht". Die Richtung, die Scharon vorgebe, sei klar: "Die meisten Siedlungen im Westjordanland werden aufgelöst." Er bezweifele, ob Scharon die Tragweite seiner Initiative abmesse: "Ich glaube nicht, denn der Plan ist größer als er selbst."

Ohnehin teilt Etkes nicht die Motivationen Scharons zum Rückzug: "Ich will mit den Palästinensern zusammenleben, jeder in seinem Staat, friedlich Seite an Seite." Scharon aber wolle "die Palästinenser loswerden, richtet seinen Blick nach Westen, will mit dem Zaun im Westjordanland palästinensisches Land, aber nicht die Palästinenser, die auf ihm leben". Über die Zeit nach dem Siedlungsprojekt hat Etkes auch schon nachgedacht: Er würde gerne mit seiner Freundin und den beiden Töchtern für eine Zeitlang nach Deutschland gehen, "einmal eine andere Realität kennen lernen".

Im Eingang zum Büro von Jossi Beilin hängt ein Farbfoto, das Schimon Peres zeigt und Jassir Arafat. Sie lächeln in die Kameras. Beide haben 1994 den Friedensnobelpreis bekommen für einen Frieden, der nicht gehalten hat. Seitdem sind mehr als 4000 Israelis und Palästinenser gestorben. Der frühere Justizminister Beilin hat gemeinsam mit Palästinensern die Genfer Friedensinitiative angestoßen, die Scharon einen alternativen Ausweg aus der Intifada gezeigt hat.

Heute ist Beilin Chef der linken "Jachad"-Partei, an einem strahlenden Wintersonnentag sitzt er hinter heruntergelassenen Jalousien vor einem aufgeräumten Schreibtisch. Die Sonne draußen sieht er nicht, drinnen ist grelles Neonlicht. Beilin sieht nicht glücklich aus. Täglich vollzieht er einen Spagat: Seine sechsköpfige Fraktion ist Scharons Sicherheitsnetz im Parlament. "Mit Bauchschmerzen" gebe "Jachad" Scharon die Unterstützung, sagt er, "denn wir wollen, dass der Gaza-Rückzugsplan umgesetzt wird und nicht die Regierung platzt". Es falle ihm nicht leicht, jemandem wie Scharon beizustehen, der "völlig anders denkt als ich". Außerdem "traue ich ihm nicht über den Weg".

Er sei kein Psychiater, "ich kann also nicht sagen, ob Scharon sich geändert hat". Seine Partei werde aber Scharon "gezwungenermaßen" so lange unterstützen, bis der Rückzug aus dem Gaza-Streifen im Herbst abgeschlossen sei. Dann werde er die Siedlungen im Westjordanland zum Thema machen. "Wir werden es Scharon nicht erlauben, sich auf dem Gaza-Rückzug auszuruhen."

Ansichten aus Israel

hagalil.com 09-02-04

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