Leere Gassen, leere
Kassen, leere Strände: "Heute überlegen die Leute zweimal, ob sie
viereinhalb Schekel ausgeben"
Heiliges Land außer
Betrieb
Touristen kommen nicht mehr, Investoren geben nichts mehr, Menschen
haben nichts mehr–wie 23 Monate Intifada den Alltag der Israelis
veränderten
Von Thorsten Schmitz
Jerusalem, im August–Alon Livnat kniet auf
allen Vieren und schwitzt aus jeder Pore. Er trägt nur eine
Badehose, im Aschenbecher glimmt eine Marlboro, und im Radio
verlesen sie gerade die Meldung, dass bis Ende diesen Jahres mit der
Rekordarbeitslosenmarke von 300000 gerechnet werden müsse. Sollte
nicht doch noch ein Wunder geschehen. Streng genommen, sagt Alon
Livnat und wischt sich den Schweiß aus dem unrasierten Gesicht,
"müssten ja zwei Wunder gleichzeitig geschehen". Ein Stopp der
Intifada, die jetzt schon fast zwei Jahre andauert, und ein Ende der
weltweiten Rezession. Da mit dem Eintreten beider Wunder so bald
nicht zu rechnen ist, widmet sich Alon einer Beschäftigung, die vor
drei Monaten noch außerhalb seines Horizonts lag: Bodenwischen.
Es ist so heiß, dass Duschen keinen Sinn macht, es
sei denn, man verfügt über eine Klimaanlage. Die stellt Alon Livnat
aber seit drei Monaten nicht mehr an, sie frisst zu viel Strom. Für
den Putzmann aus Manila hat Alon Livnats Haushaltskasse auch keine
100 Schekel mehr in der Woche übrig, etwa 25 Euro sind das. Also
begibt er sich jetzt jeden Sonntag, wenn in Israel die Arbeitswoche
beginnt, nicht in ein vollklimatisiertes Büro und zum Lunch in eines
der Restaurants in Herzlija, dem Silicon Wadi von Israel, sondern er
bückt sich und macht Jagd auf Staubflusen und Strandsand. Wenn die
Zwei-Zimmer-Wohnung nach Ajax riecht, geht Alon Livnat los, den Weg
zum Strand, an dem er zusammen mit dem Bademeister wohl der Einzige
sein wird. Touristen wagen sich schon lange nicht mehr an Israels
Küste. Und im Unterschied zu denen wissen die Israelis, dass es im
Mittelmeer vor Tel Aviv und Herzlija einen gefährlichen Untersog
geben kann, der einen hinauszieht aufs offene Meer. Wenn
Computerfreak Alon Livnat zum Strand läuft, mit den Stellenanzeigen
und einer Flasche Mineralwasser, dann schleicht er durch
Nebengassen: "Ich schäme mich, Kollegen zu treffen." Sie könnten
denken, er sei faul. Dabei hat Livnat 120 Bewerbungen verschickt
–und eine einzige Antwort erhalten. Eine Absage, was sonst.
Ende eines Rausches
Alon Livnat war einer der Ersten in seiner Firma,
die entlassen wurden, obwohl er einer der Besten war–weil er jung
ist, unverheiratet und erst seit zwei Jahren dabei. "Die
Vollbremsung", sagt er, "hat mich kalt erwischt." Er habe ein Leben
geführt "wie im Traum": Morgens wie unter Strom aus dem Bett
geschnellt, in die Firma gedüst, mit New York und London konferiert,
in den Mittagspausen schicke Restaurants aufgesucht, bis Mitternacht
den Umsatz der Firma hochgejazzt zur größten Zufriedenheit der
Bosse, so dass diese sogar nachts mit Essen vorbeikamen. Einen BMW
hat er durch die Alleen in Herzlija gejagt, bei Gucci Oberhemden
erstanden, ist dreimal im Jahr in den Urlaub gefahren, nach Long
Island zum Entspannen, zum Tauchen nach Acapulco. "Ein Rausch", und
Alon Livnat schaut, als erinnere er sich an einen LSD-Tripp. 12000
Angestellte der gerühmten israelischen High- Tech-Industrie sind in
den letzten zwei Jahren entlassen worden. Sie leben nun auf Entzug.
Israel wird seit 23 Monaten von einer Rezession
heimgesucht, die an die düsteren Zeiten in den Sechziger- und
Siebzigerjahren erinnert. Damals, zwischen dem Sechs-Tage-Krieg von
1967 und dem Jom-Kippur-Krieg 1973, war der Lebensstandard auf ein
Rekordtief gefallen. Die Wirtschaft lag wegen hoher
Verteidigungsausgaben brach, die Menschen überlegten sich zweimal,
ob sie einen Kaffee trinken gehen sollten. Mit Beginn der Intifada
vor 23 Monaten holte die Vergangenheit das Land wieder ein: Wer sich
auf die Reise begibt, findet Depression überall. Der Kampf gegen den
Aufstand der Palästinenser hat bislang zehn Milliarden Euro
verschlungen, die Premierminister Ariel Scharon im kommenden
Haushalt durch grobe Kürzungen auch im Sozialbereich wettzumachen
sucht. Er riskiert dabei die Gefolgschaft der wichtigsten
Koalitionspartner, der Arbeitspartei "Awoda" und der
ultra-orthodoxen "Schas", deren Klientel meist aus sozial
benachteiligten Familien kommt.Schon hängt das Damoklesschwert von
Neuwahlen über den sechs Millionen Israelis–und allerorten geht ein
Seufzer durch Israel: "Wer braucht ausgerechnet jetzt Neuwahlen?"
schreiben die Kommentatoren und machen zugleich die Regierung für
die Rezession verantwortlich. Wie jede Regierung hat auch diese ihr
Hauptaugenmerk auf die Bekämpfung palästinensischer Gewalt gelegt.
Scharons Popularität schwindet, und weil er das stoppen will, hat er
einen Sündenbock für die Misere ausgemacht: die Gastarbeiter. 50000
Thailänder und Philippiner sollen nun des Landes verwiesen
werden–wohl wissend, dass arbeitslose Israelis nicht unbedingt deren
Arbeiten verrichten möchten. Die Gastarbeiter kümmern sich um Alte
und Kranke, putzen, schuften auf dem Bau. Sie haben die
Palästinenser ersetzt, die vor Beginn der Intifada die Schmutzarbeit
der Israelis übernommen hatten und jetzt nicht mehr nach Israel
dürfen.
Die Israelis haben immer weniger Geld und geben
folglich keines aus, Touristen vermeiden aus Angst einen Urlaub am
Roten oder am Mittelmeer, Fluggesellschaften kappen ihre
Verbindungen nach Tel Aviv, Investoren canceln geplante
Kapitalanlagen, Seminare werden nicht mehr in Jerusalem abgehalten,
sondern in ungefährlicheren Mittelmeergebieten wie Malta oder auf
Zypern.
Mahmuds Kabuff
In diesem Jahr rechnet das Tourismusministerium
mit höchstens 800000 Touristen, üblicherweise strömen bis zu 2,5
Millionen jedes Jahr ins Heilige Land. Mehr als 50000 Menschen in
den Hotels und Ferienressorts haben ihren Job verloren, nochmal so
viele sind auf Kurzarbeit gesetzt. In Tiberias am See Genezareth
mussten sechs Hotels schließen, in Tel Aviv locken die
5-Sterne-Paläste Einheimische mit Wochenendtarifen, und im heißesten
Monat August bruzzeln nur noch ein paar Dutzend Unerschrockene in
der Sonne, meist jüdische Franzosen aus Solidarität mit dem Staat.
Israel wird in diesem Jahr nur mit rund einer Milliarde Euro an
Deviseneinnahmen aus dem Tourismus rechnen können, dem
drittwichtigsten Devisenbringer. Üblicherweise sind es zwischen vier
und fünf Milliarden Euro. Arie Sommer vom Tourismusministerium
erklärt die neue verzweifelte Strategie: "Wir werden an die
Solidarität appellieren nach dem Motto ’Unterstützt uns!‘" Doch Rufe
wie dieser verhallen ungehört.
An einem beliebigen Tag in der Altstadt von
Jerusalem, morgens um zehn: gähnende Leere. Die Verkäufer vom Basar
rauchen Zigaretten, dösen, kauen an Fingernägeln. Sie schauen den
jüdischen Religionsschülern auf dem Weg zur Klagemauer nach und
jedem Fremden schenken sie ein Lächeln mit der Aufforderung, etwas
zu kaufen. Manche nehmen Lederportemonnaies und Postkarten und
halten sie den paar mutigen Passanten unter die Nase, andere warten
teetrinkend bis zum Abend. Es ist ein Warten auf den Messias, aber
nichts tut sich. Die Altstadt, ansonsten die größte Geldmaschine
Jerusalems für Juden wie für Araber, ist außer Betrieb. Machmud
Dachlan sitzt in seinem kleinen Kabuff und pult den Dreck unter
seinen Fingernägeln weg. Seit einem Monat öffnet der 24-jährige
Palästinenser jeden Morgen die grünen Eisentüren zu seinem Laden,
und jeden Abend schließt er sie wieder, ohne dass er auch nur einen
Schekel verdient hat. Manche Kollegen haben es längst aufgegeben, in
der berühmten Altstadt christlichen Pilgern entgegen zu lächeln und
verrammeln ihre Geschäfte.
Der Alltag in den israelischen Großstädten hat
sich in den letzten zwei Jahren auch spürbar geändert: In Kinos
bekommt man jetzt donnerstags und freitags Karten, Restaurants in
Jerusalem und in Tel Aviv sind an den Abenden verwaist. Um nicht
dichtzumachen, verfügt jetzt fast jedes Restaurant über einen
Home-Service: Die Mahlzeiten werden nach Hause geliefert.
Videotheken verzeichnen ein Umsatzplus, während die Tel Aviver
Stadtzeitung Ha Ir eine Fotostrecke druckt: "Leere Kühlschränke".
Auf den Bildern sind geöffnete Kühlschränke zu sehen und ihre
Besitzer. Fein säuberlich wird aufgelistet, was zum Essen bleibt:
eine Büchse Thunfisch, Mineralwasser, fünf Pitabrote und manchmal
Bier. Die größte Warenhauskette "Ha Maschbir" zahlt ihren
Angestellten erst Mitte August die Hälfte des Juli-Gehalts, und am
Wochenende fasst die Polizei einen 12-jährigen Schüler, der, mit
einem Messer bewaffnet, in der Wüstenstadt Beer Scheva einen
Pizzalieferanten überfallen hat. Nicht, um an dessen Geld zu
gelangen, sondern an die heißen Pizzas in der Thermotasche. Der
Polizei sagt der Junge: "Ich hatte Hunger."
Kiosk der Langeweile
Bernardo Fischer steht in kurzen Hosen und weißem
T-Shirt in seinem Kiosk an der lautesten Kreuzung Tel Avivs und
schmiert Brote. Eines mit Thunfisch, eines mit Eiern und
Salatblättern, eines mit Rührei, das seine Frau Karmiela am Morgen
zubereitet hat. Der Fernseher läuft, ein heißer Wind weht vom
Strand, und der 52 Jahre alte Bernardo zählt die Stunden bis zum
Ladenschluss. Der Kiosk war nie Bernardos Idee, es war sein Vater,
Salomon, der, aus Argentinien kommend, ein Auskommen suchte für die
Familie und den Kiosk eröffnete. Die Glanzzeiten allerdings sind
Vergangenheit. Auch wegen der Intifada. "Früher war schon am Morgen
der Stapel Zeitungen weg", sagt Bernardo Fischer und nascht eine
Gurke, "heute überlegen die Leute zweimal, ob sie viereinhalb
Schekel (1 Euro) ausgeben." Früher wurde Fischer zwischen 500 und
600 Zeitungen los, heute höchstens 30 am Tag. Ohne die Hilfe der
ganzen Familie wäre das Kiosk längst der Rezession zum Opfer
gefallen. Morgens ab vier drapiert Großvater Salomon Zeitungen und
Zeitschriften um den Kiosk herum, ab halb sieben löst ihn der Sohn
ab und bleibt bis zum Mittagessen. Am Nachmittag steht Bernardo
Fischer sich wieder die Beine in den Bauch, bis Mitternacht,
manchmal bis um eins. Die größte Freiheit, die sich der Herr über
vier Quadratmeter gönnt, ist morgens zwischen fünf und halb sieben:
Dann joggt Bernardo Fischer dem Sonnenaufgang entgegen und vergisst
die Intifada, den Kiosk, die Langeweile. Der Umsatz ist in den
letzten zwei Jahren um 50 Prozent zurückgegangen, eine Dose Cola,
Marzipan aus Deutschland und Zigaretten sind plötzlich Luxus
geworden. "Es sind auch viel weniger Menschen auf den Straßen, sie
trauen sich wegen der Anschläge nicht ’raus oder haben einfach kein
Geld", hat er beobachtet.
Nur eine Ware bringe steten Gewinn: die mehr als
vierzig verschiedenen Pornohefte. Während Bernardo von den trüben
Zeiten spricht, bittet ein orthodoxer Israeli mit leiser Stimme um
vier Pornohefte, "egal welche". Diskret stopft Bernardo Fischer die
Hefte in eine Tüte und legt das Geld in die Kasse, 250 Schekel, etwa
60 Euro. Zum ersten Mal an diesem Tag strahlt er.
hagalil.com
21-08-02 |