Das andere Gesicht des Feindes:
Amira Hass
Ein Service von BR-Weltweit
http://www.br-online.de/weltweit
"Um
zu verstehen, muss ich mittendrin sein", sagt die israelische Journalistin
Amira Hass, "und das Schicksal dieser Menschen teilen". Wenn die
israelischen Panzer ins Zentrum der autonomen Stadt Ramallah einrücken, wenn
die Luftwaffe nachts Bomben und Raketen wirft, fühlt sich auch Amira
bedroht, denn sie ist hier zu Hause.
"Natürlich habe ich Angst. Hier weiß man ja nie, wann fangen sie an zu
schießen, wo kann ich mich verstecken? Natürlich macht das Angst, schon
allein die Geräusche sind furchterregend." Auf die Frage, auf welcher Seite
sie im Kampf zwischen Israelis und Palästinensern steht, antwortet Amira.
"Auf der Seite der Palästinenser, weil sie gegen ihre Besatzer kämpfen. Sie
sind umgeben von Panzern, die sie weghaben wollen. Gegen Besatzer zu kämpfen
ist ein weltweit anerkanntes Recht. Ich bin auf ihrer Seite, nicht weil ich
gegen Israel bin, sondern weil ich für das Recht bin, gegen Besatzung zu
kämpfen."Job als Berufung
"Wut"
treibt Amira Hass an
Sie fühlt sich Israelis und Palästinensern gegenüber
gleich nah und gleich fern. "Es gibt Dinge, wo ich mich den
Palästinensern näher fühle, das hat mit unserem gemeinsamen Alltag zu
tun. Aber natürlich werden die Palästinenser nie verstehen können in
welchem Meer von Traurigkeit ich lebe, wegen des Holocausts, den meine
Familie durchlitt. Diese Gefühle und viele andere teile ich nur mit den
Juden."
Der Schriftsteller Zacharya Muhammad nennt Amira "das andere Gesicht der
Israelis. Die einzige, die hier lebt, die man auf der Straße trifft und
mit der man reden kann. Ansonsten gibt es hier nur Siedler und Soldaten.
Amira ist das andere Gesicht des Feindes".
"Die Veränderung muss von Israel ausgehen", sagt Amira Hass, "dazu
braucht es eine soziale Bewegung. Ich möchte eine Stimme in dieser
Bewegung sein."
Die Gewaltspirale in Nahost
Israelische
Soldaten haben die palästinensische Fernsehstation zerstört
"Zum Schluss, wenn weniger Menschen da sind, wenn es so
scheint, als sei alles vorbei, dann fängt die israelische Armee noch
einmal zu schießen an, dann schießt sie scharf", erzählt Amira Hass. Sie
bleibt immer bis zum Schluss, sie will die ganze Wahrheit wissen und
dokumentieren. Die Bilanz an diesem Tag, nach drei Stunden heftiger
Auseinandersetzungen: 38 Palästinenser liegen im Krankenhaus. Zwei
wurden durch Metall-, 19 durch Gummigeschosse verletzt, der Rest leidet
an den Folgen von Tränengas.
Mitten in der Nacht sprengen die Israelis die "Stimme Palästinas" in die
Luft, die regierungsnahe palästinensische Radio- und Fernsehstation. Der
israelische Regierungssprecher begründet die Aktion damit, dass von hier
aus gegen Israel gehetzt und aufgewiegelt wurde. "Das sind Symbole der
Macht", sagt Amira Hass, "die werden zerstört, um den Israelis zu
zeigen, wir tun was gegen den Terror. Zerstörte, ausgebrannte Häuser
machen sich gut in der Leistungsbilanz gegen den Terror." - "Die
Mehrheit der Israelis glaubt nur an Macht und militärische Stärke", sagt
Marwan Bargouti, der Generalsekretär der Fatach.
Amira Hass schreibt, was die Armee verschweigt. "200.000 Israelis
riskieren täglich ihr Leben auf den Straßen durch die Westbank und durch
den Gazastreifen, wenn sie zu ihren Siedlungen fahren. Junge Soldaten
werden abgestellt, zum Schutz der Siedler. Dabei nimmt die Armee in Kauf
auch ihr Leben zu riskieren. Gleichzeitig leben drei Millionen
Palästinenser in einem System von Ausgangssperre und Belagerung.
Sozusagen im Gefängnis, zum Schutz der Siedler."
"Ohne massiven Druck von außen wird sich hier nichts ändern", sagt Amira
Hass. "Es wird ein Desaster für beide Völker. Es gibt doch Prinzipien
und Werte für die die Europäer vorgeben zu stehen. Wie lange wollen sie
noch tolerieren, dass es hier zweierlei Recht gibt für zwei verschiedene
Ethnien in ein und demselben Land. Den Palästinensern werden
fundamentale Menschenrechte vorenthalten, dagegen würden sie in Europa
doch auch kämpfen, warum also nicht hier?"
Die Schikanen der Israelis
Amira
berichtet über die Schikanen der Besatzungsmacht
"Meine Aufgabe ist es zu berichten, wie sich Israel als
Besatzungsmacht verhält, wie es mit den Palästinensern umgeht und das
tue ich aus der Perspektive der Palästinenser. Macht, Machtmissbrauch
muss kontrolliert werden und das tue ich", sagt Amira Hass. Sie besucht
eine palästinensische Familie mit sieben Kindern, deren Haus israelische
Soldaten besetzt haben. "Sie haben oben das Wohnzimmer, die Küche, das
Bad und die Veranda genommen", erzählt die Frau. "Wenn ich oben etwas
holen möchte, darf ich nur um zwölf Uhr mittags und um sechs Uhr abends
hoch. Nur mein Mann und ich dürfen hoch, die Kinder nicht. Im Dezember
waren schon einmal Soldaten hier, da war ich im fünften Monat schwanger
und habe vor Schock mein Kind verloren." Von der Dachterrasse aus
überwachen die israelischen Soldaten die ganze Gegend.
In einem Raum zwei Stockwerke tiefer haben die Eltern und die sieben
Kinder vorübergehend Platz gefunden. Amira Hass interessiert sich für
jedes Detail, will wissen wie sich die Soldaten benommen haben. "Was
Amira tut ist ungeheuer wichtig für die Menschen hier", sagt Walid al-
Omari, ein Reporter von Al Jazeera. "Sie berichtet über deren
alltägliches Leben, über die alltäglichen Schikanen der Besatzung. Sie
berichtet nicht nur darüber sondern sie kommentiert und kritisiert dies
auch. Sie sagt und schreibt, dass es in der Hand der Israelis ist etwas
zu tun, um die Situation der Menschen hier zu ändern."
"Auf ein und demselben Territorium leben Menschen, die mit allen Rechen
ausgestattet sind und solche, die null Rechte haben. Menschen, die in
wirtschaftlich guten Verhältnissen und Menschen, die in miserablen
Verhältnissen leben. Das ist politisch gewollt und das nenne ich
Apartheid", sagt Amira Hass.
Der Zorn der Besetzten
Ein
Selbstmordattentäter schießt in Hadera um sich
Am Abend bevor die israelischen Soldaten Ramallah
besetzen, schießt ein Selbstmordattentäter bei einer Familienfeier in
Hadera um sich. Dabei werden sechs Israelis getötet und 35 verletzt. Zu
dem Attentat bekennen sich die Al Aksa Brigaden, der militärische Arm
von Arafats Fatach. Dabei hatte Arafat erklärt, er werde für einen
Waffenstillstand sorgen. Amira Hass will von Marwan Bargouti, dem
Generalsekretär von Fatach, eine Erklärung. "Als Premierminister Scharon
unseren Führer Raed Carmi umbringen ließ, da wusste er, dass es
Reaktionen geben würde. Die Reaktion kam aus der Mitte der Kämpfer,
nicht auf Befehl von oben."
15 Kilometer sind es von Ramallah bis Jerusalem. Auf der Straße der
Privilegierten, wie Amira sie nennt, dürfen nur Israelis, Diplomaten und
Krankenwagen fahren. Die Straße wurde zum Schutz der Siedler gebaut, die
hier leben. Die Palästinenser müssen zu Fuß in ihre Dörfer laufen, bei
jedem Wetter und oft schwer bepackt. "Das hat nichts mit den angeblichen
Sicherheitsmaßnahmen zu tun", sagt Amira, "das ist Schikane. Ein ganzes
Volk wird schikaniert. Drei Millionen Palästinenser leben in einem
System von Ausgangssperre und Belagerung. Sozusagen im Gefängnis, zum
Schutz der Siedler." Amira beschleunigt ihr Tempo, denn die Straße ist
längst zur Todesfalle geworden. Immer wieder werden trotz intensiver
Kontrollen Siedler durch palästinensische Scharfschützen aus dem
Hinterhalt ermordet.
KOMPASS bringt im
bayerischen Fernsehen die Welt ins Haus - jeden Dienstag um 22.35 Uhr. Und
zwar im Wechsel zwischen dem KOMPASS Magazin und der 30-minütigen
KOMPASS Reportage.
Das
Magazin bietet ein ganzes Bukett von Themen - von harten
Kurzreportagen zu aktuellen Top-Ereignissen im Ausland über
Schwerpunkt-Berichte, die Hintergründe erhellen.
Profound Contempt
Tiefe Verachtung
(von Amira Hass)
'Haaretz' vom 16. April 2002 / Znet
Im Flüchtlingslager von Jenin leben an die 13 000
Menschen. Die Fläche auf der sie gezwungen sind zu leben, beträgt einen
Quadratkilometer. 42 Prozent dieser Flüchtlinge sind Kinder, 4,5 Prozent
alte Leute über 65. Also selbst wenn wir annehmen, es waren nicht 90
Missiles, die eine Woche lang täglich auf das Camp herabregneten, sondern
'nur' 20, und selbst wenn mir davon ausgehen, es waren nicht 10 Panzer, die
das Lager simultan beschossen haben sondern nur 2: Sagt einem da nicht
allein schon der gesunde Menschenverstand, daß Zivilisten getötet worden
sein müssen - und nicht nur "Terroristen in ihren Widerstandsnestern"
In den Augen der Israelis ist der Vorsitzende der
Palästinensichen Regierung, Jassir Arafat, ein Superherrscher. Seit über 2
Wochen ist er nun schon in seinem Büro gefangen, sämtliche Gebäude seiner
Regierung (sowie deren Gefäng- nisse u. Einrichtungen der
Sicherheitspolizei) sind zerstört, geplündert, menschenleer, Arafats Leute
zerstreut u. untergetaucht. Seine telefonische Verbindung zur Außenwelt
hängt von der Laune der Israelischen Streitkräfte ab bzw. von deren lausigem
Equipment. Man hat ihm das Wasser abgestellt, und weder Arafats Status, noch
sein Alter, noch die hohe Anzahl Leute, die momentan bei ihm hausen, sind
offensichtlich Grund genug, sein Wasserversorgungssystem zu reparieren -
sein Wasserversorgungssystem, das ja erst durch die Panzer u. Bulldozer der
IDF ('Israeli Defense Force' = Israelische Streitkräfte) auf Arafats Gelände
in Trümmer gelegt wurde.
Und trotz all dieser Fakten wird (von Israel) immer noch
hartnäckig behauptet, Arafat sei für die beiden jüngsten Terroranschläge
verantwortlich - der eine davon geht ja auf das Konto einer gegen Arafat
ausgerichteten islamischen Gruppe, der andere wurde durch die 'Al Aqsa
Märtyrer' durchgeführt, einer Gruppierung, der Verbindungen zur 'Fatah'
nachgesagt werden. Israel glaubt, hätte Arafat nur gewollt, er hätte beide
Anschläge ohne weiteres verhindern können.
Ein derart (absurdes) Denken (der Israelis) bzgl.
Palästinenserführer Arafat ist einzig erklärbar durch die grundsätzliche
Verachtung, die die Israelis den Palästinensern gegenüber hegen - ihre
Einstellung, bei den Palästinensern handele es sich um eine Herde Schafe,
die Mithilfe eines Schäfersteckens willenlos in jede Richtung gelenkt werden
können. Dieses tiefe, tiefe Gefühl der Verachtung klang auch letzte Woche
mehrmals an bei den Worten Israelischer Militärsprecher - die uns doch
tatsächlich suggerieren wollten, die Palästinenser zeigten keinerlei
Interesse an der Bergung ihrer eigenen Toten im Flüchtlingslager Jenin (bzw.
daran, ihre Verwundeten zu versorgen). Die Palästinenser wollten dieses
Elend vielmehr zu Propagandazwecken gegenüber dem Ausland benutzen.
Aber darüber hinaus wurzeln derartige Aussagen auch in
zwei grundsätzlichen Einstellungen bzgl. des Volks der Palästinenser.
Erstens, daß sie per se verantwortungslos seien, daß das medizinische
Personal der Palästinenser - Ärzte, Schwestern, Krankenwagenbesatzungen - es
nicht sonderlich wichtig nähme mit seinem (Hippokratischen) Eid bzw. seiner
Verpflichtung, menschliches Leben zu retten, und zweitens, daß diese Leute
sich einen Dreck um ihre eigenen Leute scheren (viele aus den Medizin-Teams
haben ja Freunde u. Verwandte im Jenin-Camp bzw. in anderen Orten auf der
West Bank, die sie mit ihrer medizinischen Hilfe nicht (rechtzeitig)
erreichen konnten).
Laut Darstellung des Israelischen Militärs hätten die
palästinensischen Medizin-Teams für ihr 'fehlerhaftes Verhalten' auch
keinerlei Druck vonseiten ihrer Familien oder ihres sozialen Umfelds zu
erwarten - und selbst wenn, wäre es ihnen auch egal. Denn diese
Palästinenser sind ja ferngesteuert durch 'Propagandaüber- legungen', denken
schon an die Zeit nach dem Krieg. Zudem, so die IDF, hielten die
Palästinenser auch nichts vom Muslimischen Brauch, die Toten sofort zu
bestatten. Vertreter des 'Roten Kreuzes', von UNRWA ('UN Relief and Works
Agency for Palestine Refugees in the Near East' = Hilfsorganisation der UN
zur Unterstützung der Palästinensischen Flüchtlinge im Nahen Osten), von
UNSCOT (Büro des UN-Sonderkoordinators in den 'Besetzten Gebieten') sowie
die Vertreter der 'Weltbank' können demgegenüber bezeugen, daß (vonseiten
der Palästinenser) letzte Woche immer wieder versucht wurde, zusammen mit
den Ambulanzen des 'Roten Kreuzes' ins Lager (Jenin) zu gelangen (bzw. in
die Altstadt von Nablus, bzw. in Arafats Regierungsgebäude).
Aber selbst in den Fällen, in denen zuvor entsprechende
Koordinierungs-Gespräche auf hoher Ebene erfolgreich gewesen waren, sah die
Sache vor Ort nochmal ganz anders aus: man wurde von Israelischen Positionen
heraus beschossen bzw. durch Panzer, oder es wurden ganze
Krankenwagenbesatzungen einfach verhaftet (die dann erst Stunden später
wieder freigelassen wurden); dadurch liefen viele Anstrengungen, Verletzte
schnell zu bergen, ergebnislos ins Leere.
Letzte Woche spuckte Israel große Töne - vonwegen seiner
hohen Moral u. daß humanitäre Maßnahmen getroffen worden seien, um zivile
Opfer beim Kampf ums Flüchtlingslager Jenin möglichst auszuschließen. Als
Argument wurde angeführt: die israelischen Soldaten, die in Jenin gefallen
sind, hätten nicht geopfert werden müssen, wenn Israel einfach nur 'ein oder
zwei Bomben' auf das Lager geworfen hätte - und damit basta.
Neben seiner offensichtlichen Aussage enthält dieses
Statement noch eine andere (absurde) Botschaft bzgl. der Palästinenser:
anders als andere Menschen seien Palästinenser nicht durch Missile-Raketen
aus Hubschraubern zu töten, nicht durch Panzerbeschuß und auch nicht durch
Maschinengewehrfeuer - und Angst vor solchem Kriegsgerät hätten sie auch
keine. Das einzige, was einen Palästinenser wirklich schrecken könne, seien
große Bomben, abgeworfen durch Kampfflugzeuge - und das hat die (gute) IDF
ja gottseidank nicht getan.
Im Flüchtlingslager von Jenin leben an die 13 000
Menschen. Die Fläche auf der sie gezwungen sind zu leben, beträgt einen
Quadratkilometer. 42 Prozent dieser Flüchtlinge sind Kinder, 4,5 Prozent
alte Leute über 65. Also selbst wenn wir annehmen, es waren nicht 90
Missiles, die eine Woche lang täglich auf das Camp herabregneten, sondern
'nur' 20, und selbst wenn mir davon ausgehen, es waren nicht 10 Panzer, die
das Lager simultan beschossen haben sondern nur 2: Sagt einem da nicht
allein schon der gesunde Menschenverstand, daß Zivilisten getötet worden
sein müssen - und nicht nur "Terroristen in ihren Widerstandsnestern"? Die
IDF hat das Ergebnis ihrer Angriffe aus der Luft nicht gefilmt, ebensowenig
das ihres Panzerbeschusses, u. sie hat zudem dafür gesorgt, daß auch andere
dies nicht tun können.
Was Fotografen ausländischer TV-Sender dennoch festhalten
konnten - die Leichen (vor allem in Nablus), der Schmerz der Angehörigen der
Toten, das Leid der vielen, vielen Verletzten, die Menschen, die erschossen
in ihren Hauseingängen lagen, die mit Einschüssen übersäten Krankenwagen -,
all diese Beweise werden bei uns in Israel nicht gesendet - und wenn
ausnahmsweise doch, dann allenfalls in Sekunden-Schnipseln.
Also fassen wir zusammen: Arafat, der allmächtige
Herrscher (selbst unter Belagerung u. unter unglaublichen
Lebensbedingungen), seine anscheinend kugelfesten Anhänger, u.
palästinensische Medizin-Teams bzw. Rettungsdienste, die auf ihre Berufsehre
pfeifen. Das ist das Bild der Palästinenser, das die Sprecher von Militär u.
Politik derzeit der Israelischen Öffentlichkeit verkaufen. Es ist eine
bekannte Tatsache: um aus einem politischen bzw. militärischen Kampf
erfolgreich hervorzugehen, muß man seinen Feind in- und auswendig kennen:
seine ganzen Schwächen u. Stärken, seine Fähigkeiten u. Unzulänglichkeiten,
seinen Schmerz u. sein Glück. Bei uns jedoch wird 'der Feind' als
stereotype, eindimensionale Masse stilisiert - dumm, ohne Gefühl, ohne
Gedanken.
Vielleicht ist es ja so - wäre möglich - daß die Lügen,
die in diesen Kriegstagen (durch die Israelische Regierung) über die
Palästinenser verbreitet werden, in Wirklichkeit nur die Verachtung dieser
Regierung für ihr eigenes (Israelisches) Volk widerspiegeln; daß diese Leute
annehmen, die Öffentlichkeit werde schon dumm genug sein, die Lügen auch
weiterhin zu schlucken. Und vielleicht geht man ja davon aus, die Israelis
würden sich auch in Zukunft zufriedengeben mit den Erklärungen des
Geheimdiensts bzgl. der Taten der Palästinenser - die Israelis hätten
keinerlei Interesse an soziologischen, historischen oder politischen
Hintergrundinformationen; daß wir uns nie und nimmer der Frage stellen
werden, was eigentlich soviele Palästinenser dazu bringt, sich in die Luft
zu sprengen und andere gleich mit, oder der Frage, warum hunderttausende
Palästinenser bereit sind unter folgenden gräßlichen Bedingungen
auszuhalten: Beschuß, andauernde Ausgangssperren, kein Wasser, kein Strom,
kein Essen?
Übersetzung von Andrea Noll
Sie ist die einzige israelische Journalistin, die einzige Journalistin
weltweit, die den Alltag der Palästinenser lebt, über den sie schreibt.
Amira Hass arbeitet für die linksliberale Tageszeitung Ha'aretz. Wenn
israelische Panzer ins Zentrum der autonomen Stadt Ramallah vorrücken, wenn
die Luftwaffe ihre Bomben und Raketen wirft, dann fühlt auch sie sich
bedroht. Seit vier Jahren lebt Amira Hass in Ramallah, davor fünf Jahre in
Gaza. Der Alltag der Palästinenser unter der israelischen Besatzungsmacht
ist seit Jahren ihr Thema. Für sie ist die israelische Politik
kolonialistisch, rassistisch und fördert die Apartheid. Diese Politik wird
zum Desaster für beide Völker führen, so die Analayse von Amira Hass. Sie
schreibt aber auch unerschrocken über Korruption in der palästinensischen
Autonomiebehörde unter Arafat, über Folter in palästinensischen
Gefängnissen, über Schnellgerichte und den Vollzug der Todesstrafe.
"Wut, Wut über das, was ich tagtäglich sehe und erlebe", treibt sie an
und noch etwas anderes. "Die Erinnerungen meiner Eltern, die meine
Erinnerungen geworden sind. Als ich klein war, haben mir meine Eltern, beide
Überlebende des Holocaust, eine Geschichte erzählt, die mich geprägt hat. -
Nach zehn Tagen Transport von Jugoslawien nach Bergen-Belsen, in den
Viehwagen der Bahn, kamen wir dort an, hatte mir meine Mutter erzählt.
Erschöpft, einige unfähig zu gehen, wurden wir aussortiert, ins Lager
gebracht. Um uns herum standen deutsche Frauen und schauten teilnahmslos zu.
- Dieser teilnahmslose zuschauende Blick", sagte Amira, "hat sich bei mir
eingebrannt und mir war klar, dass ich nie nur Zuschauer sein wollte". -
"Amira ist unerbittlich und hat vor niemanden Angst", sagt Sharon Grinker,
der Ex-Armeesprecher für Gaza. Sie macht ihren Job ohne Angst. Sie ist
niemandem verpflichtet. Sie versucht, wo immer es geht Augenzeuge zu sein
und die Fakten zusammenzutragen. Darüber hinaus ist sie noch am
atmosphärischen und an den Gefühlen der Menschen interessiert, das macht
ihre Berichte so interessant."
17.01.2003:
Terror als
Naturereignis
von Amira Hass
Terror als Naturereignis
von Amira Hass
Ha’aretz / ZNet 15.01.2003
Ein hochrangiger (israelischer) Offizier wurde letzte
Woche gefragt, ob er glaube, die IDF (Israelische Armee) sei gerüstet gegen
Provokationen von Anhängern der “Transfer”-Idee aus Kreisen der Armee
respektive aus Kreisen der Westbank-Siedler. Ob die Armee gegebenenfalls in
der Lage sei, alle Versuche einer Massenvertreibung von Palästinensern
abzuwehren. Der Offizier gab folgende Antwort: Wenn ein Mega-Anschlag
passiere, ein Anschlag, den die Sicherheitskräfte nicht verhindern könnten,
wie beispielsweise eine Autobombe mitten in einer belebten israelischen
Großstadt oder in einem Gebäude, bei dem es zu dutzenden oder gar hunderten
Toten käme, in dem Fall sei es durchaus möglich, dass einen Tag später
extremistische Israelis eine “angemessene Antwort” fänden - zum Beispiel die
Vertreibung sämtlicher Bewohner der Heimatgemeinde der Planer dieses
Terroranschlags. Der Offizier gab zu, wenn so etwas einträte, wäre es
zweifelhaft, ob die Armee eine derartige Vertreibung verhindern könnte oder
auch nur wollte. “Die Armee hat versagt, als es darum ging, die Siedler
davon abzuhalten, die palästinensische Olivenernte in der Westbank zu
sabotieren bzw. Oliven zu stehlen. Auch der Staat hat versagt, denn soweit
ich weiß, wurden diejenigen Siedler, die die Olivenernte sabotierten, in
keinster Weise belangt, obgleich ihre Identität den Behörden bekannt ist”,
so der Offizier. Er hielt auch nicht hinterm Berg mit seinem Gefühl, dass
wir uns auf endlose weitere Eskalationen gefasst machen müssten. Aber unser
Verteidigungsminister Shaul Mofaz, bis vor kurzem Generalstabschef, sagt:
“Wir sind auf dem Höhepunkt der Terrorwelle angelangt”.
Tag für Tag werden in den Territorien zwischen 5 u. 20 Palästinenser
verhaftet. Und alle paar Tage geht die IDF irgendwo rein, um irgendwas zu
zerstören. Und an jedem zweiten Tag werden palästinensische Zivilisten,
darunter Kinder u. alte Leute, (irrtümlich) getötet - zusätzlich zu
bewaffneten Palästinensern respektive Terrorattacken Planenden, die getötet
werden. Eines jener zufälligen Opfer war ein behindertes Kind, das am
Sonntag in Khan Yunis starb, als die IDF Raketen auf zwei Hamas-Aktivisten
abfeuerte, die Raketen verfehlten ihr Ziel jedoch. Und daneben finden in
aller Stille ganz routinemäßige Aktionen statt, von denen die Israelis
überhaupt nichts erfahren - im Grunde interessiert es sie auch nicht. Da
sind zum Beispiel die Checkpoints, an denen (israelische) Soldaten stehen,
die alte Menschen beschimpfen, junge Menschen beschimpfen u. die Leute
grundlos u. mit Absicht warten lassen. Da sind die Reisebeschränkungen. Da
sind die Eisentore, die die Dörfer u. Städte in Gefängnisse verwandeln. Da
sind die Vorladungen zum Geheimdienstverhör (Shin Bet), denn der
Geheimdienst versucht ja, neue Kollaborateure anzuwerben u. die Leute über
ihre Nachbarn u. Verwandten auszuhorchen. Da sind die Ausgangssperren u. die
zu Hause eingesperrten Kinder. Da sind die von IDF-Bulldozern aufgerissenen,
zerstörten Straßen. Da sind die Häuser, die man abreißt, nur weil darin ein
Terrorist gewohnt hat. Da sind die Eisenwarenläden u. Färbereien, die man
zerstört. Da sind die Wasser- u. Stromnetze, die während der Razzien
beschädigt werden. Und währenddessen werden neue Straßen fertiggestellt, auf
denen ausschließlich Juden fahren dürfen. Da sind Tränengasgranaten auf
“Unruhestifter”, u. da ist Bauernland, das immer mehr unter die Ketten der
Panzer gerät. All diese Dinge geschehen parallel zu immer neuen
‘glorreichen’ IDF-Operationen - u. da heißt es, wir seien schon am
Scheitelpunkt der Terror-Kampagne angelangt!
Der offensichtlich massive Zulauf für den rechten Block, im Hinblick auf die
Wahl am 28. Januar, zeigt, dass eine Mehrheit der Israelis nach wie vor
überzeugt ist, alles, was die IDF tut - im Auftrag der Politik tut - sei
richtig, sei effektiv, nur eben noch nicht massiv genug. Die Eskalation wird
wie ein Wintersturm betrachtet oder wie ein ‘Sharav’ - als Naturereignis,
(als höhere Gewalt) eben. Man kann den Schaden begrenzen, verhindern jedoch
kann man ihn nicht. Die Israelis ziehen höchstens den Schluss, die
Erfolglosigkeit sämtlicher IDF-Operationen im letzten Jahr - zur Bekämpfung
der palästinensischen Terrorwellen - beweise, wie mörderisch u. verschlagen
manche Palästinenser eben sind, wieviel Terror in ihrem Blut fließe.
Folglich sehen die meisten Israelis die Lösung auch in einer verstärkten
Fortsetzung derselben Methoden - noch massivere Gewalt in noch kürzeren
Abständen u. in noch schmerzhafterer Härte.
Israel ist eine Demokratie. Wichtige Informationen kann man vor der
israelischen Öffentlichkeit nicht geheimhalten. Israelische Bürger mit
abweichender Meinung sind nicht von Jobverlust oder von Haft bedroht. Die
enorme Unterstützung für die Rechten - inklusive Shinui - beweist daher, ein
Großteil der jüdischen Öffentlichkeit (in Israel) ist keineswegs an der
Beantwortung der Frage interessiert, ob die israelische Militärpolitik denn
nicht eigentlich alogisch ist bzw. die israelische Politik gegenüber
Zivilisten. Zudem scheint dieser Mehrheit egal zu sein, dass es einen
eindeutigen Zusammenhang gibt zwischen der eigenen ökonomischen Situation,
die sich ja immer mehr verschlechtert u. jenen Strategien, die eine
politische Lösung ausschließen. Die Mehrheit in Israel scheint einfach noch
nicht bereit, auf diejenigen zu hören, die sagen, vielleicht verhindert
diese Militärpolitik kurzfristig tatsächlich ein paar Anschläge bzw.
zerstört die Infrastruktur des Terrors, aber langfristig gesehen erzeugt sie
hunderte neuer Freiwilliger für die palästinensischen Schattenarmeen u.
vergrößert so die Terrorgefahr weiter. Stattdessen hört die überwiegende
Mehrheit lieber auf diejenigen, die schildern, wie teuflisch, lächerlich u.
korrupt es auf der palästinensischen Seite zugehe. Die meisten wollen zudem
auch nichts hören von einem Zusammenhang zwischen dem kontinuierlichen
Terror u. der Fortsetzung des extremen militärischen u. ökonomischen Drucks,
der auf die gesamte palästinensiche Bevölkerung ausgeübt wird. Und die
Mehrheit der Israelis will auch nicht sehen, dass es einen Zusammenhang gab
zwischen dem Neuaufflammen des Konflikts im September 2000 u. der
nichtmilitärischen Konsolidierung israelischer Kontrolle über die ‘Gebiete’
(u. das während der gesamten Osloer Jahre). Die meisten Israelis stehen
vielmehr weiterhin hartnäckig hinter Premierminister Scharon, wenn dieser
erklärt: “zuerst müssen die den Terror stoppen, dann fangen wir an zu
verhandeln”. Also wappnen wir uns besser für die nächste Rekord-Welle des
Terrors.
--
Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel: "Natural
Terror"
Fundamentalistische Logik
von Amira Hass
Ha’aretz / ZNet 04.12.2002
Die (jüdischen) Siedler von Kiryat Arba haben mit
tatkräftiger Unterstützung der ‘Zivilen Administration’ bzw. der IDF
(Israelische Armee) ihr Versprechen eingelöst u. “territoriale Kontinuität
zwischen Kiryat Arba u. dem Grab der Patriarchen” geschaffen. Weniger als
drei Wochen, nachdem 12 (israelische) Soldaten bzw. israelische
Sicherheitsleute einem tödlichen Anschlag des Islamischen Dschihad zum Opfer
fielen, hat die angemessene Zionistische Antwort konkret Gestalt angenommen
in Form von mobilen Siedlungen bzw. von Häuserdemolierungs-Befehlen. Aber
jeder wusste, dass es so kommen würde. Viele palästinensische Familien sind
aus ihren Wohnungen entlang der Route, die die jüdischen Siedlungen mit der
Hebroner Altstadt verbindet, verschwunden. Angst vor den Siedlern hat sie
vertrieben.
Häuser, viele hundert Jahre alt, wunderschöne architektonische Perlen (aber
jetzt halb verfallen, da die Palästinenser nicht in der Lage sind, sie zu
renovieren u. zu erhalten: man läßt die Palästinenser nicht, u. sie haben
keine zivile Kontrolle in der Altstadtgebiet (von Hebron)) werden nun wohl
vollends zerstört. Und wahrscheinlich schleift man auch einige der neueren
Gebäude. Aber diese Art Nachricht verdampft schnell in einem Land, das so
emsig ist - wenn man nicht gerade die Toten der Terrorattacken begräbt, hält
man geschäftig Vorwahlen, sämtliche Parteien von Rechts bis Links tun das
gerade.
Dass Premier Scharon seine Siedlungspläne in den besetzten Gebieten
weiterführt - mit Hilfe seiner loyalen Siedlerarmee - was könnte daran schon
“berichtenswert” sein? Selbst wenn einer der Siedlerführer, in dem Fall der
Bürgermeister von Kiryat Arba, Zvi Katzover, seine geographisch-
demographisch-militärische Vision, (die hinter seiner hartnäckigen
Entschlossenheit bzw. der seiner Gesinnungsgenossen steckt) wie folgt
erläutert: “Wenn der große Krieg anfängt und die Araber von hier wegrennen -
früher oder später - sind wir es, die in die Häuser zurückkehren”. So
Katzover gegenüber dem Reporter Benny Liss von ‘Channel One’ am 27. Nov..
Nur ein kurzer Satz u. doch so vielsagend. Er enthält gleich mehrere
Informationen. Zunächst einmal ist von einem “großen Krieg” die Rede - wohl
im Gegensatz zum “kleinen Krieg”, den wir die letzten Jahre schon erleben.
Zweifellos ist mit “großer Krieg” ein Krieg in unserer Region gemeint,
vielleicht ein Krieg zwischen Licht u. Dunkelheit, zwischen Islam u.
Christenheit bzw. Judentum oder ein “Krieg der Zivilisationen” - dunkler
Islam gegenüber dem im hellen Licht der Aufklärung erstrahlenden Westen.
Anscheinend ist dieser Krieg ein unabwendbares Ereignis, u. es gibt
(Katzovers Meinung nach) auch keinerlei Grund, ihn zu verhindern. Vielleicht
wäre es ja direkt von Vorteil, wenn er endlich ausbräche (am Ende sollte man
die Sache sogar beschleunigen) - vorausgesetzt, sie führt tatsächlich zu
einem positiven Ergebnis u. die “Araber rennen weg”, (wie Katzover sagt).
Zudem kann ich mir nicht vorstellen, dass Katzover “nur” von den Hebroner
Palästinensern spricht. Denn der “große Krieg” wird wohl kaum ausschließlich
über die alte Patriarchenstadt hinwegfegen. Gemäß dieser Logik gibt es
nämlich nicht nur in Hebron sondern praktisch überall hierzuland jüdisches
Land in der Hand von Fremden - sprich: von Nicht-Juden. Diese katastrophale
Logik ist exakt mit jenen religiös-nationalistischen Überzeugungen
übereinstimmend, von denen die Siedler-Pioniere seit nurmehr 35 Jahren
gelenkt u. geleitet sind: der Glaube an das göttliche Versprechen, dieses
Land sei dem Volk Israel geweiht. Aus all dem spricht eine Kombination aus
Verschiedenem: Zum einen spricht daraus der Glaube an die unausweichliche
göttliche Intervention zugunsten des jüdischen Volks (siehe
jüdisch-fundamentalistische Auffassungen), zum andern der Glaube, es
entspräche der Pflicht jedes Einzelnen, handelnd einzugreifen u. so das
Eintreten jenes glücklichen Endes zu beschleunigen.
Aber diese katastrophale Logik lenkt nicht nur die Schritte der
religiös-politischen Fundamentalisten auf jüdischer Seite: Diese Logik
findet ihr Pendant auch in jener religiös-deterministischen Logik, die das
Reservoir an palästinensischen Selbstmordattentätern so unterschöpflich
macht, bzw. das Reservoir an denjenigen, die Bomben basteln oder
Molotow-Cocktails auf Panzer schleudern, die durch palästinensische Städte
rollen. Die Chance letzterer Leute, von einem Panzer getötet zu werden, ist
zigmal höher als die Chance, dass das ‘Cocktail’ den Panzer tatsächlich
durchschlägt. Rache als individuelles Motiv kommt hinzu - dass man einfach
den Platz derjenigen Palästinenser einnehmen will, die im Zuge von
IDF-Operationen verhaftet, verhört, getötet oder verwundet wurden. Weiteres
Motiv: Man hat das Interesse verloren an einem Leben, das nicht mehr
lebenswert ist - ein Motiv, das womöglich viel, viel mehr Menschen
(Palästinenser) einschließt, als jetzt schon zum Selbstmordattentat
entschlossen sind.
Die islamischen Organisationen, die sich diese Motivationslage zunutze
machen, pflegen ihre eigene Endzeit-Vision. Auch sie sind der Meinung,
dieses ‘Land’ sei gottverheißen - nur eben den Muslimen. Und auch sie
verweisen auf die Schriften, um ihre Sache zu belegen. Auch sie sind der
Überzeugung, das göttliche Vesprechen werde früher oder später eingelöst
bzw. dass: “Gott denen hilft, die sich selber helfen” - was soviel heißen
soll, wie: es hat keinen Sinn abzuwarten u. die Hände in den Schoß zu legen,
bis das glückliche Ende naht. Derzeit wird einem nicht nur von jungen Leute
aus Kreisen der Hamas oder des Islamischen Dschihad erklärt, der Tag sei
nahe, an dem die gesamte islamische Welt sich zum Krieg gegen Israel rüste.
Und auch hier ist von einem “großen Krieg” die Rede - schrecklich u. alles
in Mitleidenschaft ziehend, aber an seinem Ende stehe die “Befreiung” des
gelobten Lands. Religiöse Rhetorik dieser Art geben nun auch schon junge
Leute aus der Fatah-Bewegung von sich. Denn je weniger ihnen das irdische
Leben zu bieten hat, desto orthodoxer werden diese Jugendlichen. Je
geschwächter die palästinensische Gesellschaft u. je mehr niedergerungen von
den derzeitigen israelischen Militäroperationen desto stärker diese
katastrophale palästinensisch-islamische Logik.
Das katastrophale jüdische Denken wiederum gründet einerseits in einem
individuellen Gefühl der Hoffnungslosigkeit (angesichts der ewigen
Sisyphos-Militäroperationen, die nie ihr Versprechen einlösen, den “Terror
auszuschalten”). Andererseits hat dieses Denken aber auch mit unserer
überstarken Armee zu tun, die mehr u. mehr auch die zivile Agenda bestimmt.
Die Grenzen zwischen den nationalistischen u. religiösen Überzeugungen ihrer
Kommandeure verschwimmen immer mehr - wobei diese Kommandeure auch immer
seltener einen Hehl aus dieser Tatsache machen.
Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel: "Fundamentalist
Logic"
27.09.2002:
Alltägliche
Vorkommnisse
von Amira Hass
Alltägliche Vorkommnisse
von Amira Hass
Ha’aretz / ZNet 25.09.2002
Letzten Donnerstagmorgen durchgruben wieder zwei gewaltige
Bulldozer mit aller Macht die Erde. Sie tun dies schon seit Monaten - hier,
in diesem Wadi (Tal) nördlich von Ramallah. Über die letzten beiden Jahre -
seit Beginn der langsamen aber sicheren Sperre sämtlicher Westbank-Straßen
(für den palästinensischen Verkehr) - war das Wadi zum wichtigen Knotenpunkt
geworden, zum zentralen Knoten- punkt, über den täglich hunderte, wenn nicht
gar tausende Menschen zu Fuß zwischen Ramallah u. den umliegenden Dörfern /
dem Jalazun-Flüchtlingslager verkehrten. Sie kommen per Taxi am einen Ende
des Wadi an, klettern zwischen Felsbrocken u. Staub hinunter ins Tal, um
dann auf der andern Seite wieder hochzuklettern. Dort nimmt sie dann ein
weiteres Taxi auf u. transportiert sie weiter. Das alles geht natürlich nur,
solange keine israelischen Soldaten dort postiert sind - Soldaten mit
Waffen, mit Gas- u. Schockgranaten, die die Menschen am Weitergehen hindern.
Aber letzten Donnerstag hinderte ein Polizei-Jeep zusammen mit einem
Militärlastwagen das Durchkommen. Es waren ohnedies nicht allzuviele Leute
unterwegs. In Ramallah herrschte nämlich Ausgangssperre (schon vor der neuen
Belagerung der Mukata (Arafats Amtssitz) bzw. deren Zerstörung hatte dort
nämlich Ausgangssperre geherrscht). Eine einzelne Ambulanz - sie war auf der
für Palästinenser verbotenen Straße mitten durch das Tal unterwegs -, wurde
neben dem Polizei-Jeep angehalten u. durchsucht. Eine ältere Frau entstieg
dem Krankenwagen. Unterstützt von einer jungen Frau machte sie sich jetzt
daran, über die Felsen den nördlichen Abhang hochzuklettern. Hin u. wieder
hielten die beiden an einem Felsblock an u. ruhten aus. Oben auf dem
Nordabhang des Wadi hielt jetzt ein Auto. Ein Mann u. eine Frau in den
Dreißigern - beides Ärzte - stiegen aus. Sie hatten einen Notruf aus dem
Dorf Sinjal erhalten (das liegt etwa 10km nördlich von Ramallah). Nachts
hätten sie dort auf keinen Fall hinfahren können, u. auch jetzt erwartete
sie ein langer harter Tripp, der erstmal damit begann, dass sie an den
(prüfenden) Augen der Polizeileute vorbeimussten - an deren Gewehrläufen.
Überall waren die Bulldozer am Werk. Ein Zaun über die komplette Straße soll
nämlich für die Zukunft allen Verkehr durch das Wadi stoppen: ein weiterer
Schritt zur kompletten Abtrennung der Enklave Ramallah von der Außenwelt -
zumal auch schon in südlicher Richtung ein Zaun errichtet ist.
Nach Warnungen des Geheimdiensts war es Montagnachmittag zur kompletten
Abriegelung sämtlicher Straßen u. Wege zu den palästinensischen Quartieren
in Nord-Jerusalem gekommen. Das Dorf Bir Naballah wurde unter Ausgangssperre
gestellt. In einem großen Kindergarten, der im Dorf liegt - ungefähr 250
Kinder im Alter zwischen 3 u. 5 werden dort betreut -, entschlossen sich die
Erzieher, die Kinder vorher noch rasch über A-Ram/Beit Hanina zu ihren
besorgten Eltern nach Ost- Jerusalem zu fahren. Schließlich war unklar, wie
lange die Ausgangssperre anhalten würde - u. wie soll man 250 kleine Kinder
unter Lagerbedingungen ruhighalten? Die Kindergarten-Lehrer hatten gehofft,
die Grenzpolizei davon überzeugen zu können, die kleinen Kinder
durchzulassen - stattdessen wurden sie von der Polizei mit Tränengas- u.
Schockgranaten beworfen u. das aus einer Entfernung von nur wenigen Metern,
wie ein Erzieher mitteilte. Einige Polizisten hielten den Kindern außerdem
ihre großen Hunde direkt vor die Nase. Das alles führte (bei den Kindern) zu
einer Massenpanik. Eine Stellungnahme zu dem Vorfall war vonseiten des
israelischen Armeesprechers bis Redaktionsschluss (der Ha’aretz) nicht zu
erhalten.
Zwei Alltagsszenen - seit langem ist Derartiges keine Nachricht mehr wert,
war es vielleicht noch nie, was aber nicht nur an den jüngsten
Terroranschlägen in Tel Aviv bzw. Hebron liegen kann oder daran, dass in
Gaza-Stadt gestern 9 Menschen bei einem Angriff der Israelischen Armee zu
Tode kamen. Vielmehr ist es so: In Israel sind solche Vorfälle einfach keine
Nachricht wert, weil sie zu alltäglich sind. Sie besitzen keinen
“Nachrichtenwert”, weil sich in der israelischen Gesellschaft - u. daher
auch in den Medien - ein ad hoc (Werte-)Katalog entwickelt hat, für den
solche Vorfälle nur ein paar “ermüdende” Geschichten mehr über
palästinensisches Leid darstellen - Leid, an dem die Palästinenser selber
schuld seien. Nur was nicht in die Routine paßt - also das Massenelend der
Palästinenser z.B. oder das anderer - scheint noch berichtenswert.
Schließlich bestimmen hauptsächlich Politiker, die Eliten, das öffentliche
Geschehen. Im Normalfall muss “Leiden” laut daherkommen, am besten noch
gewalttätig - um Nachrichtenwert zu besitzen; nur dann kooperieren die
Medien nämlich nicht mit den Herrschenden, verschweigen es nicht. Aber die
Crux - vom professionellen (journalistischen) Standpunkt aus gesehen -
besteht darin, dass es im Grunde nicht darum geh’n kann, ‘Leid’ zur
Nachricht zu machen, also Mitleid zu erregen. Worum es vielmehr geh’n muss:
Egal, ob es sich nun um das Leid der Palästinenser handelt, um das der
Äthopier von mir aus oder um das (unserer) Kinder unterhalb der Armutsgrenze
- immer geht es schlicht um Politik - um Regierungspolitik - die man am
liebsten von der Öffentlichkeit fernhält; aber genau diese Öffentlichkeit
wird langfristig davon betroffen sein. Polizei-Tränengasgranaten auf kleine
Kinder, Ärzte, die man nicht zu den Kranken in die Dörfer durchläßt - das
alles stellt von oben verordnete Politik dar - selbst wenn Premierminister
Scharon natürlich nicht über jeden Vorfall Bescheid weiß u. nicht jeden
einzelnen Tränengaskanister persönlich abzeichnet, nicht jede Behinderung
ärztlicher Versorgung einzeln genehmigt. Aber je weniger man über diese Art
Politik in Israel Bescheid weiß, desto weniger werden natürlich Fragen
gestellt über deren Langzeitauswirkungen. Die beiden Ärzte konnten in jener
Nacht nicht in das Dorf gelangen, u. die kleinen Kinder sind gestern nicht
in ihren Kindergarten zurückgekehrt - aus Panik vor den Tränengasgranaten u.
den Hunden. Aber ihr Leiden u. ihre Wut werden andere dazu bringen, Rache zu
üben - Leute irgendwelcher Art, die ohnehin schon beschlossen haben zu
sterben. Sie fühlen sich durch derartige Vorfälle angestachelt - trotz der
offiziellen Appelle, keine israelischen Zivilisten mehr anzugreifen. Und
kein Zaun, kein noch so abgeriegelter Checkpoint - auch kein Tränengas -
werden sie daran hindern.
Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel: "Everyday
Occurences"
Warum die Mainstreammedien "Mainstream" sind
von Noam Chomsky
Z Media Institute 15.07.1997
Ich schreibe unter anderem deshalb über die Medien, weil
ich mich für das intellektuelle Klima insgesamt interessiere und weil die
Medien der Bestandteil dieses Klimas sind, der am leichtesten zu untersuchen
ist. Bei den Medien gibt es einen täglichen Output, wodurch eine
systematische Untersuchung möglich wird. Man kann die Version von gestern
mit der von heute vergleichen. Es gibt eine Menge Material, anhand dessen
man sehen kann, was die Medien in den Vordergrund rücken, was sie ausblenden
und wie die Struktur dieses Prozesses aussieht.
Meines Erachtens besteht zwischen der Analyse der Medien
und der des Wissenschaftsbetriebs oder der Intellektuellenzeitschriften kein
großer Unterschied - man muß einige zusätzliche Mechanismen berücksichtigen,
aber davon abgesehen besteht kein radikaler Unterschied. Diese Bereiche
stehen in enger Verbindung miteinander, und deshalb wechseln die Leute auch
ziemlich leicht zwischen ihnen hin und her.
Wenn man die Medien oder eine beliebige Institution
verstehen will, stellt man sich zunächst einmal Fragen nach ihrer inneren
Struktur. Zweitens wird man sich dafür interessieren, welche Rolle sie im
Rahmen der Gesamtgesellschaft spielen: In welcher Beziehung stehen sie zu
anderen Systemen von Macht und Autorität? Und schließlich gibt es, wenn man
Glück hat, Akten und Aufzeichnungen führender Leute im Mediensystem, aus
denen man erfahren kann, welche Ziele sie verfolgen. Das ist wichtig, da wir
es mit einem ideologischen System zu tun haben. Ich meine natürlich nicht
die üblichen Public-Relations-Veröffentlichungen, sondern das, was diese
Leute sich gegenseitig über ihre Absichten mitteilen. Und was das betrifft,
gibt es eine Menge interessantes Material.
Das sind drei wichtige Informationsquellen, wenn wir etwas
über die Natur der Medien erfahren wollen. Wir sollten die Medien auf
dieselbe Art untersuchen, wie ein Naturwissenschaftler ein komplexes Molekül
oder einen sonstigen Gegenstand studieren würde. Dabei sieht man sich die
Struktur der Medien an, um auf dieser Basis eine Hypothese darüber
aufzustellen, wie das Produkt, das die Medien herstellen, wahrscheinlich
aussehen wird. Dann untersucht man den Medienoutput und überprüft, inwieweit
er den aufgestellten Hypothesen entspricht. Medienanalysen bestehen in der
Regel fast ausschließlich aus diesem letzten Teil - aus dem Versuch, die
Produkte der Medien ganz einfach sorgfältig zu studieren und herauszufinden,
ob sie so aussehen, wie es sehr plausible Annahmen über Wesen und Struktur
der Medien voraussagen.
Was finden wir dabei heraus? Nun, zunächst einmal, daß es
natürlich verschiede Medienbereiche gibt, die sich mit verschiedenen Dingen
beschäftigen. Da gibt es die Unterhaltungsindustrie und Hollywood,
Seifenopern und ähnliche Sendungen, und die überwältigende Mehrheit der
Zeitungen des Landes gehört ebenfalls in diese Kategorie, die für das
Massenpublikum gedacht ist.
Daneben gibt es einen weiteren Mediensektor, nämlich die
Elitemedien, die manchmal auch als die trendbestimmenden Medien bezeichnet
werden, weil sie über die größten Mittel verfügen und den thematischen
Rahmen abstecken, an den alle anderen sich halten müssen. Das sind
Unternehmen vom Kaliber der New York Times und von CBS. Sie bedienen zum
größten Teil die privilegienen Schichten. Leute, die die New York Tirnes
lesen, also Leute mit einem gewissen Einkommen oder Angehörige dessen, was
manchmal als die politische Klasse bezeichnet wird, sind tatsächlich auf
beständiger Basis am politischen System beteiligt. Sie gehören zur
Managerschicht. Dabei kann es sich um Politiker, Wirtschaftsmanager wie die
Topleute der Großkonzerne, akademisches Führungspersonal wie
Universitätsprofessoren oder auch um Journalisten anderer Medienunternehmen
handeln, die sich ebenfalls damit befassen, das Denken und die Weltsicht der
Medienkonsumenten zu beeinflussen.
Die Elitemedien stecken den Rahmen ab, in dem die
restlichen Medien operieren. Wenn man sich Agenturen wie Associated Press
ansieht, die eine permanente Nachrichtenflut ausstoßen, stellt sich heraus,
daß dieser Strom vermischter Nachrichten jeden Nachmittag durch die Meldung
unterbrochen wird: "An die Redaktionen: auf der Titelseite der New York
Times werden morgen folgende Berichte erscheinen." Wenn man beispielsweise
Redakteur einer Zeitung in Dayton, Ohio ist und nicht über die Ressourcen
verfügt oder sich sowieso nicht die Mühe machen will, selbst an wichtige
Nachrichten heranzukommen, erfährt man auf diesem Weg, was als "Nachricht"
zu gelten hat, Damit wird dann die Viertelseite gefüllt, die für andere
Themen als für Lokalberichte und Unterhaltung reserviert ist. Diese Berichte
werden dann als Nachrichten von nationaler Bedeutung gebracht, weil die New
York Times uns sagt, daß das die wichtigen Themen des morgigen Tages sind.
Als kleiner Redakteur in Dayton, Ohio hat man kaum eine andere Wahl, als es
so zu machen, weil man nicht über viele andere Möglichkeiten verfügt, an
Nachrichten heranzukommen. Wenn man vom vorgeschriebenen Weg abweicht und
Berichte bringt, die den Unwillen der großen Zeitungen gen erregen, wird man
das ziemlich bald zu spüren bekommen. Die jüngsten Vorfälle bei den San Jose
Mercury News [vgl. S. 119, Anmerkung - d. Ü.] sind nur ein besonders
dramatisches Beispiel dafür. Es gibt eine Menge von Machtmechanismen, durch
die jemand, der aus der Reibe tanzt, wieder auf Linie gebracht werden kann.
Wenn man versucht, das Regelwerk des Systems zu sprengen, wird man sich
nicht lange darin halten können. All das funktioniert recht gut, und es ist
nicht schwer zu erkennen, daß sich darin lediglich ganz offenkundige
Machtverhältnisse äußern.
Die Massenmedien im eigentlichen Sinn haben im
wesentlichen die Funktion, die Leute von Wichtigerem fernzuhalten. Sollen
die Leute sich mit etwas anderem beschäftigen, Hauptsache, sie stören uns
nicht (wobei "wir" die Leute sind, die das Heft in der Hand halten). Wenn
sie sich zum Beispiel für den Profisport interessieren, ist das ganz in
Ordnung. Wenn jedermann Sport oder Sexskandale oder die Prominenten und ihre
Probleme unglaublich wichtig findet, ist das okay. Es ist egal, wofür die
Leute sich interessieren, solange es nichts Wichtiges ist. Die wichtigen
Angelegenheiten bleiben den großen Tieren vorbehalten: "Wir" kümmern uns
darum.
Welches sind die Elitemedien, die die Tagesordnung für den
Rest festlegen? Nun, zum Beispiel solche wie die New York Times und CBS. Das
sind zuallererst einmal große, sehr profitable Kapital gesellschaften.
Darüber hinaus haben die meisten von ihnen enge Verbindungen zu weit
größeren Konzernen wie General Electric, Westinghouse oder gehören direkt
dazu. Sie mischen ganz oben in der Machtstruktur der Privatwirtschaft mit,
und diese Struktur ist extrem tyrannisch. Die großen Kapitalgesellschaften
sind strukturell gesehen Tyranneien: sie sind hierarchisch und werden von
der Spitze aus kontrolliert. Und wer sich damit nicht abfinden will, fliegt
raus.
Die großen Medien sind einfach einer der Bestandteile
dieses Systems. Welche institutionellen Strukturen haben die Medien selbst?
Nun, mehr oder weniger dieselben wie andere Unternehmen. Die Institutionen,
mit denen die Medien im Rahmen ihrer Aktivität zu tun haben und mit denen
sie in Verbindung stehen, sind ihrerseits bedeutende Zentren
gesellschaftlicher Macht - die Regierung, die Großunternehmen oder auch die
Universitäten. Aufgrund ihrer ideologischen Funktion unterhalten die Medien
enge Beziehungen zu den Universitäten. Nehmen wir einen Journalisten, der
einen Bericht über Südostasien oder Afrika oder was auch immer schreibt. Es
ist recht wahrscheinlich, daß er sich an eine der großen Universitäten
wenden wird, um sich dort bei einem Experten kundig zu machen, oder er kann
mit seinen Fragen zu einer der Stiftungen wie dem Brookings Institute oder
dem American Enterprise Institute gehen, und sie werden ihm dann die
richtigen Stichworte geben. Die Funk- tionsweise solcher Institutionen ist
der der Medien sehr ähnlich.
So sind zum Beispiel die Universitäten keineswegs
unabhängige Institutionen. Man findet in ihnen zwar hier und da unabhängig
gesinnte Geister, aber das gilt auch für die Medien. Solche Leute gibt es im
allgemeinen auch in den Großunternehmen, ja, sogar in faschistischen
Staaten. Aber die Universitäten sind letztlich "parasitäre" Institutionen.
Sie sind auf Finanzierung von außen angewiesen, und die Quellen dieser
Unterstützung - reiche Mäzene, Großunternehmen und Staat (die beide so eng
miteinander verflochten sind, daß man sie kaum auseinanderhalten kann) -
stecken im wesentlichen den Rahmen ab, innerhalb dessen die Universitäten
operieren. Wer sich der internen Struktur der Universitäten nicht anpaßt,
sie nicht in dem für eine reibungsfreie Arbeit innerhalb des Systems
notwendigen Maß akzeptiert und internalisiert, wird im Verlauf von Erziehung
und Ausbildung mehr und mehr aus dem System hinausgedrängt, ein Prozeß, der
letztlich schon im Kindergarten beginnt und dann ununterbrochen weitergeht.
Es gibt alle möglichen Arten von Filtermechanismen, um Leute loszuwerden,
die sich querstellen und unabhängig denken. Jeder, der auf dem College war,
weiß, wie sehr das Erziehungssystem auf die Belohnung von Konformität und
Gehorsam ausgelegt ist: Wer sich nicht anpaßt, ist eben ein Quertreiber. Und
aufgrund des Wirkens dieser Filtermechanismen bleiben schließlich Leute
übrig, die in aller Aufrichtigkeit ein System von Überzeugungen und
Meinungen übernehmen, das den Interessen der gesellschaftlich Mächtigen, mit
denen sie zu tun haben, entspricht. Sie brauchen nicht zu lügen, weil sie
selbst daran glauben. Elitein stitutionen wie zum Beispiel Harvard und
Prineeton und die kleinen Colleges mit Universitätscharakter legen großen
Wert auf Sozialisation. In einer Institution wie Harvard geht es zum größten
Teil darum, die richtigen Manieren zu lernen: wie man sich als Mitglied der
Oberschicht zu verhalten hat, wie man in seinem Denken nicht vom richtigen
Weg abweicht und so weiter.
Mitte der vierziger Jahre schrieb George Orwell als Satire
auf einen totalitären Staat, nämlich die Sowjetunion, seinen Roman Animal
Farm, der damals ein großer Erfolg war. Alle Welt war begeistert. Später
stellte sich heraus, daß er eine Einleitung zu Animal Farm geschrieben
hatte, die aber nicht gedruckt wurde. Sie erschien erst dreißig Jahre
später, als sie in seinem Nachlaß gefunden wurde. Thema dieser Einleitung
war die "Literarische Zensur in England". Orwell sagt dort, daß er sich in
seinem Buch natürlich über die Sowjetunion und ihre totalitäre Struktur
lustig macht. Aber außerdem schreibt er auch, daß England sich gar nicht so
sehr davon unterscheidet. Im Westen werden wir nicht auf Schritt und Tritt
von einem KGB kontrolliert, aber das Resultat ist doch weitgehend dasselbe.
Wer in seinem Denken zu unabhängig ist oder auf die falschen Gedanken kommt,
bekommt keine Chance, seine Ideen zu verbreiten.
Außerdem macht er einige kurze Bemerkungen über die
institutionelle Struktur der Medien. Er fragt: Wie kommt es zu dieser Art
von Zensur? Ihm zufolge liegt das erstens daran, daß die Presse den Reichen
gehört, denen es lieber ist, wenn bestimmte Dinge nicht das Licht der
Öffentlichkeit erblicken. Zweitens, so Orwell, lernt man im Rahmen des
Erziehungs- und Ausbildungssystems der Elite, zum Beispiel an renommierten
Universitäten wie der von Oxford, daß es gewisse Dinge gibt, die man besser
nicht erwähnt, daß es gewisse Gedanken gibt, die man besser nicht zuläßt.
Damit meint er die sozialisierende Rolle der Eliteinstitutionen: Wenn man
sich hier nicht anpaßt, hat man in der Regel schon verloren. Und mit diesen
wenigen Bemerkungen ist das Wesendiche eigentlich schon gesagt.
Wenn man Medienkritik betreibt und sich zum Beispiel mit
dem beschäftigt, was Anthony Lewis - oder irgend jemand anders - geschrieben
hat, werden die jeweiligen Leute oft sehr wütend. Sie sagen dann ganz
richtig: "Niemand sagt mir jemals, was ich zu schreiben habe. Ich schreibe
alles, was ich will. Dieses ganze Geschwätz über Druck und Einschränkungen
ist Unfug, weil keiner je irgendwelchen Druck auf mich ausübt."Und das ist
völlig richtig, nur daß es hier um etwas ganz anderes geht, nämlich um die
Tatsache, daß sie ihre Position gar nicht inne hätten, wenn sie nicht vorher
schon unter Beweis gestellt hätten, daß niemand ihnen sagen muß, was sie
schreiben sollen. Es ist längst klar, daß sie das genau wissen. Wenn sie
sich als angehende Reporter für die verkehrte Art von Geschichten
interessiert hätten, hätten sie es nie zu Positionen gebracht, in denen sie
sagen können, was sie wollen. Dasselbe gilt weitgehend auch für die
Universitätsdozenten in den stärker ideologisch gefärbten Fächern. Sie haben
eine erfolgreiche Sozialisation hinter sich.
Als erstes sieht man sich also die Struktur des gesamten
Systems an. Was erwartet man angesichts dieser Struktur als Resultat? Das
ist eigentlich recht offensichtlich. Nehmen wir zum Beispiel die New York
Times. Die New York Times ist ein Großunternehmen, das ein Produkt verkauft.
Das Produkt sind die Leser. Das Unternehmen verdient sein Geld nicht mit dem
Verkauf seiner Zeitung. Die Zeitung selbst wird sogar kostenlos ins Internet
gesetzt. Tatsächlich verliert das Unternehmen heim Verkauf der Zeitung sogar
Geld. Wie auch immer, die Leser sind das Produkt, und sie gehören genau wie
die Leute, die die Zeitung machen, zu den höheren, privilegierten Schichten,
denen, die in unserer Gesellschaft die Entscheidungen treffen. Für ein
Produkt braucht man einen Markt, und dieser Markt sind natürlich die
Werbekunden der Zeitung, mit anderen Worten, andere Wirtschaftsunternehmen.
Das Produkt der Medien, ganz gleich, ob wir vom Fernsehen, den Zeitungen
oder anderen Medien sprechen, ist immer das jeweilige Publikum. Unternehmen
verkaufen ihr jeweiliges Publikum an andere Unternehmen. Und im Fall der
Elitemedien handelt es sich dabei um Großunternehmen.
Mit was für einem Resultat ist also zu rechnen? Wie wird
das Medienprodukt angesichts dieser Umstände aussehen? Was für Voraussagen
würde man machen, wenn man den bisher zugrunde gelegten Annahmen keine
weiteren hinzufügt, oder anders gesagt, was wäre eine vernünftige
Nullhypothese? Die nächstliegende Vermutung wäre dann, daß das
Medienprodukt, das heißt, die Auswahl dessen, was in den Medien vorkommt und
wie es vorkommt, die Interessen der Käufer und der Verkäufer des Produkts
sowie der Institutionen und Machtzentren, unter deren Einfluß sie stehen,
widerspiegelt. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn das nicht der Fall wäre.
Danach kommt dann der aufwendige Teil der Arbeit. Stellen
sich die gemachten Vorhersagen als richtig heraus? Das läßt sich
mittlerweile überprüfen. Es liegt inzwischen eine Menge an Material zur
Beurteilung der genannten naheliegenden Hypothese vor; sie ist den
rigorosesten Tests unterzogen worden, die man sich denken kann, und hat sie
in bemerkenswerter Weise bestanden. Man stößt in den Sozialwissenschaften
fast nie auf Resultate, die eine bestimmte Vermutung derart stark
unterstützen, aber das ist auch nicht sehr überraschend, da alles andere
angesichts der in diesem Fall wirksamen Kräfte einem Wunder gleichkäme.
Als nächstes entdeckt man dann, daß das gesamte Thema
vollkommen tabu ist. Wenn man zum Beispiel an der Kennedy School für
Staatswissenschaft oder in Stanford Journalismus, Kommunikationswissenschaft
oder Politik studiert, ist es kaum wahrscheinlich, daß man mit diesen Fragen
konfrontiert wird. Das heißt, genau die Hypothese, auf die jeder, ohne
überhaupt etwas über das Thema zu wissen, von sich aus kommen würde, kann
dort nicht einmal in Erwägung gezogen werden, und es ist unmäglich, das
Beweismaterial, das für sie spricht, zu diskutieren. Leider ist auch das
genau das, was man erwarten würde. Angesichts der Struktur dieser
Institutionen ist leicht vorherzusehen, daß es so laufen wird. Warum sollte
es Leuten, die aktiver Bestandteil dieser Strukturen sind, gefallen, wenn
ihre Rolle innerhalb dieser Strukturen sichtbar gemacht wird? Warum sollten
sie eine kritische Analyse ihrer Vorstellungen und Ziele dulden? Es gibt
keinen Grund, warum sie etwas derartiges zulassen sollten, und sie tun es
auch nicht. Auch in diesem Fall handelt es sich nicht um absichtliche
Zensur, sondern darum, daß diese Leute gar nicht erst in ihre Positionen
gelangen würden, wenn sie nicht von dem überzeugt wären, was sie tun. Und
das gilt für die sogenannte Linke ebenso wie für die Rechte. Um es in diesem
System zu etwas bringen zu können, muß man die richtige Sozialisation und
Erziehung genossen haben, die dann falschen Gedanken und Ideen einen Riegel
vorschieben. Wir können folglich aufgrund unserer Überlegungen eine zweite
Prognose aufstellen, nämlich die, daß unsere erste Prognose innerhalb der
bestehenden ideologischen Institutionen nicht diskutiert werden kann.
Schließlich müssen wir uns noch das doktrinäre Rüstzeug
ansehen, mit dem die für das Funktionieren dieses Systems Verantwortlichen
operieren. Kommt in dem, was die Topmanager des Informationssystems (der
Medien, der Werbeindustrie, der politischen Wissenschaft usw.) sagen, wenn
sie zu ihresgleichen sprechen, eine Vorstellung darüber zum Ausdruck, wie
das System funktionieren sollte? In der Öffentlichkeit, bei akademischen
Feiern und dergleichen mehr ist natürlich immer von allen möglichen
wunderbaren Dingen die Rede. Aber was sagen diese Leute über die Aufgaben
des Informationssystems, wenn sie unter sich sind?
Es gibt hier drei wichtige Bestandteile des Systems, die
man sich ansehen sollte. Erstens haben wir die Public-Relations- Industrie,
das heißt, die Propagandamaschine der Geschäftswelt. Was sagen also die
Topmanager der PR-Industrie? Zweitens sollten wir uns ansehen, was die
sogenannten "in der Offentlichkeit stehenden" Intellektuellen, die großen
Denker, die Verfasser der Meinungsseiten in den Zeitungen sagen - all die
Leute, die hochbedeutende Bücher über das Wesen der Demokratie und ähnliches
mehr schreiben? Als Drittes sollte man den akademischen Bereich untersuchen,
besonders diejenigen Aspekte der Kommunikations- und
Informationswissenschaften, die schon seit etwa 70 bis 80 Jahren integraler
Bestandteil der Politikwissenschaft sind.
Das sind also drei Bereiche, in denen man einmal darauf
achten sollte, was ihre Vertreter so von sich geben und sich ansehen kann,
was die führenden Leute geschrieben haben. Wie sich herausstellt, sagen die
wichtigen Leute in diesen Bereichen alle im wesentlichen das gleiche (ich
zitiere im folgenden zum Teil wörtlichlich): Bei der Masse der Bevölkerung
handelt es sich nur um "unwissende und lästige Außenseiter", die man aus der
öffentlichen Arena heraus halten muß, weil sie zu dumm sind und nur
Schwirigkeiten machen würden, wenn sie sich daran beteiligten. Die
gewöhnlichen Leute sollen "Zuschauer" nicht "Teilnehmer" sein.
Sie dürfen alle paar Jahre wählen gehen und ihre Stimme
für jemanden von uns, jemanden aus der dafür qualifizierten Schicht abgeben.
Aber dann sollen sie wieder nach Hause gehen und sich mit etwas anderem
beschäftigen. Mit der Baseball-Liga oder was auch immer. Hauptsache, die
"unwissenden und lästigen Außenseiter" bleiben passive Beobachter, statt
selbst am politischen Geschehen teilzunehmen. Die Mitspieler im System
dagegen sind sogenannte "Verantwortungsträger" und auch der jeweilige Autor
gehört natürlich immer zu dieser Gruppe. Die Frage, weshalb er selbst zu den
"Verantwoitungsträgern" gehört, während ein anderer im Gefängnis sitzt,
kommt ihm nicht in den Sinn. Dabei ist die Antwort ziemlich einfach. Er
gehört dazu, weil er gehorsam ist und sich der Macht unterordnet, während
derjenige im Gefdngnis sich vermutlich auf die ein oder andere Art geweigert
hat, sich zu fügen. Aber solche Fragen stellt man sich in so einer Position
natürlich nicht. Also haben wir einerseits die qualifizierte Schicht derer,
die dazu berufen sind, das Heft in der Hand zu halten, und dann noch den
Rest, der von der Verwaltung der Dinge ausgeschlossen ist. Außerdem sollten
wir uns nicht - und jetzt zitiere ich wieder aus einem akademischen Essay zu
diesem Thema - auf das "demokratische Dogma" versteifen, "nach dem die
Menschen ihre Interessen selbst am besten beurteilen können". Dem ist
keineswegs so: in Wirklichkeit sind sie absolut unfähig dazu, und daher
erweisen wir sowohl ihnen als auch der Gesellschaft einen großen Dienst,
wenn wir das für sie übernehmen.
Tatsächlich gibt es hier eine starke Ähnlichkeit mit dem
Leninismus. Wir handeln an deiner Stelle, im gemeinsamen Interesse aller
usw. Das ist vermutlich auch einer der Gründe dafür, weshalb sich im Verlauf
der Geschichte viele Leute relativ problemlos aus glühenden Stalinisten in
überzeugte Unterstützer des Machtanspruchs der USA verwandelt haben. Dabei
erfolgt der Wechsel von der einen Position zur anderen oft sehr rasch, und
ich denke, daß das ganz einfach daran liegt, das beide Positionen im großen
und ganzen auf dasselbe hinauslaufen. Eigentlich verändert sich nur die
Einschätzung darüber, welche Haltung einen der Teilhabe an der Macht
näherbringt. Erst setzt man auf das eine, dann auf das andere Pferd, aber
das Ziel, das man selbst damit anstrebt, ändert sich nicht.
Wie hat sich diese Art von Ideen zu ihrer heutigen Form
entwickelt? Das ist eine interessante Geschichte - sie hat viel mit dem
Ersten Weltkrieg zu tun, der in vielerlei Hinsicht zu einschneidenden
Veränderungen führte. Er brachte einen beträchtlichen Wandel in der Position
der Vereinigten Staaten in der Welt mit sich. Schon im 18. Jahrhundert waren
die USA die reichste Region der Welt. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts kam
nicht einmal die britische Oberschicht an den US-amerikanischen Standard
hinsichtlich Lebensqualität, Gesundheit und Lebenserwartung heran (von dem
die übrige Welt ohnehin nur träumen konnte). Die USA waren enorm reich,
verfügten über gewaltige Vorteile und waren schon Ende des 19. Jahrhunderts
mit großem Abstand das wirtschaftlich bedeutendste Land der Welt. Aber als
Weltmacht spielten sie noch keine große Rolle. Ihre Macht erstreckte sich
damals auf die Karibik und Teile des Pazifik, aber nicht viel weiter.
Der Erste Weltkrieg brachte eine Veränderung dieser
Beziehungen. Und im Zweiten Weltkrieg änderten sie sich noch mehr. Danach
waren die Vereinigten Staaten mehr oder weniger Herrscher über die gesamte
Welt. Aber schon nach dem Ersten Weltkrieg waren sie weitaus mächtiger als
zuvor und verwandelten sich aus einem Schuldner- in ein Gläubigerland. An
Großbritannien kamen sie noch nicht heran, aber damals begannen sie,
weltweit eine wichtige Rolle zu spielen. Aber das war nicht die einzige
Veränderung.
Im Ersten Weltkrieg gab es zum erstenmal eine
hochorganisierte staatliche Propaganda. Die Briten richteten ein
Informationsministerium ein. Das war auch eine dringliche Notwendigkeit,
denn Großbritannien war darauf angewiesen, die USA in den Krieg
hineinzuziehen, da es ohne den Kriegseintritt der USA in große
Schwierigkeiten geraten wäre. Das Informationsministerium beschäftigte sich
hauptsächlich mit der Verbreitung von Propaganda, nicht zuletzt mit der
Fabrikation einer Flut von Fälschungen über Greueltaten der "Hunnen" und
ähnlichen Projekten. Eine der Hauptzielscheiben dieser Propaganda waren die
amerikanischen Intellektuellen. Dem lag die durchaus vernünftige Annahme
zugrunde, diese würden am leichtgläubigsten sein und am ehesten auf die
Propaganda hereinfallen. Ihnen war zugleich die Aufgabe zugedacht, die
Propaganda über die ihnen in Amerika zur Verfügung stehenden Kanäle
weiterzuverbreiten. Dementsprechend war die Arbeit des
Informationsministeriums hauptsächlich auf die amerikanischen
Intellektuellen abgestimmt, und diese Strategie funktionierte ausgezeichnet.
Ein Großteil der Dokumente des Ministeriums ist inzwischen öffentlich
zugänglich, und die Dokumente zeigen, daß diese Kampagne das bescheidene
Ziel verfolgte, das Denken der ganzen Welt zu kontrollieren - vor allem aber
das der USA. Was man in Indien dachte, spielte demgegenüber natürlich keine
sonderlich große Rolle. Das Informationsministerium war sehr erfolgreich
darin, prominente amerikanische Intellektuelle hinters Licht zu führen und
dazu zu bringen, die Fälschungen der britischen Propaganda zu akzeptieren.
Die Briten waren damals sehr stolz auf diesen Erfolg, und das nicht von
ungefähr, denn so konnten sie eine Niederlage Großbritanniens abwenden, das
den Ersten Weltkrieg ohne den Kriegseintritt der USA verloren hätte.
Zur selben Zeit wurde in den USA ein Gegenstück zum
britischen Informationsministerium geschaffen. 1916 wurde Woodrow Wilson auf
der Grundlage eines Anti-Kriegs-Programms zum Präsidenten gewählt. Die
Stimmung in den USA war sehr pazifistisch. Das hat in den USA eine lange
Tradition. Die Leute wollen keine Kriege in anderen Ländern führen. Der
Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg wurde heftig abgelehnt, und Wilson
wurde aufgrund seiner Stellungnahme gegen den Krieg gewählt. Er war mit dem
Slogan "Frieden ohne Sieg" zur Wahl angetreten. Aber er strebte von Anfang
an eine Beteiligung am Krieg an. Daraus ergab sich das Problem, eine
pazifistisch gestimmte Bevölkerung in lauter verrückte antideutsche
Fanatiker zu verwandeln, die am liebsten alle Deutschen umgebracht hätten.
So etwas geht nicht ohne Propaganda, und so gründete die Regierung die erste
- und im übrigen auch einzige - große staatliche Propagandainstitution der
US-Geschichte. Sie hieß offiziell "Komitee zur Information der
Öffentlichkeit" und wurde auch die "Creel-Kammission" genannt. Ihre Aufgabe
bestand darin, durch die Verbreitung von Propaganda eine hurrapatriotische
Hysterie in der Bevölkerung auszulösen. Das Ganze war ein unglaublicher
Erfolg. Binnen weniger Monate herrschte eine hemmungslose Kriegshysterie,
und dem Kriegseintritt der USA stand kein Hindernis mehr entgegen.
Von dieser Leistung waren viele Leute höchst beeindruckt.
Einer davon war Hitler, was später seine Folgen haben sollte. In Mein Kampf
zieht er den nicht ganz unberechtigten Schluß, Deutschland sei im Ersten
Weltkrieg besiegt worden, weil es den Propagandakrieg verloren habe.
Deutschland konnte mit der britischen und amerikanischen Propaganda, die
sich als vollkommen übermächtig erwies, nicht einmal ansatzweise mithalten.
Hitler kündigte an, beim nächsten Mal werde Deutschland seine eigene
Propagandamaschinerie haben, und so war es im Zweiten Weltkrieg dann auch.
Für uns heute von noch größerer Bedeutung ist der tiefe Eindruck, den diese
britische Propagandaanstrengung auf die amerikanische Geschäftswelt machte,
die damals vor einigen Problemen stand: Es gab zumindest formal mehr
demokratische Rechte als früher, der Kreis der Wahlberechtigten war
erweitert worden, das Land wurde reicher, mehr Menschen hatten die
Möglichkeit, am System teilzunehmen, es gab viele neue Einwanderer und so
weiter.
Was sollten die herrschenden Schichten angesichts dieser
Entwicklungen tun? Es war nun schwieriger, das Land wie einen Privatklub zu
verwalten, Es war jetzt viel wichtiger als früher, zu kontrollieren, was die
Leute denken. Public-Relations-Spezialisten hatte es zwar schon hier und da
gegeben, aber die PR-Industrie, wie wir sie kennen, gab es noch nicht.
Unternehmen wie Rockefeller stellten vielleicht Leute ein, um das Image der
Firma aufzupolieren, aber die riesenhafte moderne PR-Industrie in ihren
gigantischen heutigen Dimensionen wurde erst damals in den USA erfunden und
war ein direktes Resultat des Ersten Weltkriegs. Führend in der PR-Industrie
waren Leute, die sich schon an der Creel-Kommission beteiligt hatten. Die
bedeutendste dieser Figuren, Edward Bernays, stützte sich in seiner
Tätigkeit direkt auf die Erfahrungen aus der Creel- Kommission. Nach dem
Ersten Weltkrieg schrieb er ein Buch mit dem Titel Propaganda. Der Ausdruck
"Propaganda" hatte damals übrigens noch keinen negativen Beigeschmack. Er
wurde erst im Zweiten Weltkrieg zum Tabu, da er mit Deutschland und somit
dem Feind in Verbindung gebracht wurde. Aber davor bedeutete "Propaganda"
nichts weiter als so etwas wie "Information". 1925 kam also Bernays' Buch
Propaganda heraus, und gleich zu Anfang heißt es dort, das Buch mache sich
die Lehren des Ersten Weltkriegs zunutze. Bernays schrieb, das
Propagandasystem des Ersten Weltkriegs und die Creel-Koonmission, an der er
beteiligt gewesen war, hätten gezeigt, daß man "das Denken der
Öffentlichkeit ganz genauso dirigieren" kann "wie eine Armee die Körper
ihrer Männer dirigiert". Diese neuen Techniken der Reglementierung des
Geistes sollten, wie er schrieb, von intelligenten Minderheiten genutzt
werden, um dafür zu sorgen, daß der Pöbel nicht auf falsche Gedanken kommt.
Mittels der neuen Techniken der Gedankenkontrolle sei dies jetzt ohne
weiteres möglich.
Dieses Buch ist das grundlegende Werk der
Public-Relations- Industrie, und Bernays ist so etwas wie ihr Prophet. Er
war ein authentischer Liberaler im Stil Roosevelts oder der Kennedys. Er
koordinierte unter anderem die PR-Anstrengungen zugunsten des von den USA
unterstützten Putsches, durch den 1954 die demokratisch gewählte Regierung
Guatemalas gestürzt wurde.
Der große Coup, durch den er Ende der zwanziger Jahre
wirklich berühmt wurde, war es, Frauen das Rauchen schmackhaft zu machen.
Frauen rauchten damals im allgemeinen nicht, und Bernays dirigierte die
große Werbekampagnen für Chesterfield Zigaretten. Die Methoden sind ja
bekannt - Models und Filmstars mit Zigarette im Mund usw. Dafür heimste er
enornies Lob ein. Er stieg zur führenden Figur der PR-Industrie auf, und
sein Buch wurde gewissermaßen zur Bibel der Branche.
Ein weiteres Mitglied der Creel-Kommission war Walter
Lipp- mann, der ein halbes Jahrhundert lang die angesehenste Figur des
anspruchsvollen amerikanischen Journalismus war. Neben seiner
journalistischen Tätigkeit schrieb er Essays über die Demokratie, die
zumindest damals, in den zwanziger Jahren, als "progressiv" galten. In
diesen Essays sprach auch er sich explizit dafür aus, die Erfahrungen
anzuwenden, die mit Propaganda gesammelt worden waren. Er sagte, die
Demokratie habe eine neue Kunst hervorgebracht, die er selbst die
"Fabrikation von Konsens" nannte. Edward Herman und ich haben diesen
Ausdruck für den Titel unseres Buches geborgt, aber geprägt wurde er von
Lippmann. Ihm zufolge gibt es jetzt diese neue Kunst demokratischen
Regierens, nämlich die "Fabrikation von Konsens". Durch die Fabrikation von
Konsens kann man die Tatsache neutralisieren, daß viele Menschen ein
formales Wahlrecht genießen. Die politischen Führer können letzterem jede
Bedeutung nehmen, da sie ja in der Lage sind, Konsens zu fabrizieren und so
die Wahlmöglichkeiten und Einstellungen der Menschen derart zu beschränken,
daß sie letztlich immer nur gehorsam tun werden, was man ihnen sagt, obwohl
sie formal, z. B. über die Wahlen, selbst am System teilhaben. So sieht laut
Lippmann eine echte Demokratie aus, die funktioniert, wie es sich gehört.
Das ist die Lehre, die er aus den bisherigen Erfahrungen mit Propaganda
zieht.
Auf dieselben Erfahrungen stützt sich auch die akademische
Sozial- und Politikwissenschaft. Der Begründer der kommunikationstheoretisch
orientierten Politikwissenschaft war Harold Lasswell. Sein wichtigstes Werk
ist eine Studie über Propaganda in der Encyclopedia of Social Sciences.
Darin sagt er ganz offen genau die Dinge, die ich vorhin zitiert habe, wie
zum Beispiel, daß man sich nicht auf demokratische Dogmen versteifen dürfe.
Postulate wie diese entstammen der akademischen Politikwissenschaft, wie sie
von Lasswell und anderen konzipiert wurde. Auch in dieser Hinsicht wurden
die Lehren aus den Erfahrungen der Kriegszeit gezogen, und zwar nicht nur in
der politischen Wissenschaft, sondern auch von den politischen Parteien,
besonders der Konservativen Partei in England. Deren Dokumente aus dieser
Zeit, die derzeit gerade veröffentlicht werden, zeigen, daß die
Konservativen die Leistung des britischen Informationsministenums sehr zu
schätzen wußten. Ihnen war klar, daß England sich auf eine Demokratie
zubewegte und nicht mehr wie früher ein Klub von Privatleuten sein würde.
Daraus zogen sie den Schluß, daß Politik zur - wie sie es ausdrückten -
politischen Kriegführung werden müsse, bei der man die Propagandamechanismen
anwenden sollte, die schon im Ersten Weltkrieg so gute Dienste bei der
Kontrolle des Denkens der Bevölkerung geleistet hatten.
Das ist die ideologische Seite der Sache, über die wir
hier sprechen, und sie weist in dieselbe Richtung wie die institutionelle
Struktur. Sie stützt unsere bisherigen Voraussagen darüber, wie das Ganze
funktionieren sollte. Und die Korrektkeit dieser Vorhersagen ist gut
dokumentiert. Aber auch die ideologischen Grundlagen unseres
Informationssystems dürfen nicht diskutiert werden. Das alles taucht zwar in
der Standardliteratur zum Thema auf, ist aber nur für die Insider bestimmt.
Die klassischen Werke darüber, wie man das Denken der Menschen kontrolliert,
stehen auf dem College nicht auf dem Lehrplan.
Genauso wenig, wie auf dem Lehrplan steht, was James
Madison während der verfassunggebenden Versammlung schrieb, nämlich, daß das
neue System zum Hauptziel haben müsse, "die Minderheit der Begüterten gegen
die Mehrheit zu schützen", und daher so gestaltet werden müsse, daß es
dieses Ziel erreichen kann. Hier geht es um die Grundlagen des
verfassungsmäßigen Systems, und niemand setzt sich damit auseinander. Man
findet diese Äußerungen nicht einmal in der wissenschaftlichen Literatur,
wenn man nicht wirklich intensiv danach sucht.
Das ist im großen und ganzen das Bild, das ich von der
institutionellen Struktur unseres "freien" Mediensystems, von den
dahinterstehenden Doktrinen und seinem Endprodukt habe. Ein weiterer Teil
des Systems richtet sich an die "unwissenden, lästigen" Außenseiter. Dabei
geht es hauptsächlich darum, auf die ein oder andere Art von den wirklich
wichtigen Themen abzulenken. Von daher läßt sich leicht vorhersagen, was das
wahrscheinliche Ergebnis ist.
Aus dem Buch "Die politische Ökonomie der Menschenrechte".
Mit freundlicher Genehmigung des
Trotzdem Verlags --
Übersetzt von:
Orginalartikel: "What
Makes Mainstream Media Mainstream"
Trotzdem Verlag
Anarchistischer Verlag der mehrere Bücher von Z Magazine und ZMag Autoren
veröffentlicht, unter anderem von Noam Chomsky, Robert Fisk, Tariq Ali, Uri
Avnery, Arundhati Roy, ...
auch eine ansicht:
Palästinensische Ironie
von Justin Podur
ZNet Kommentar 23.01.2003
Eine weitverbreitete Ansicht unter denen, die gegen die
Rechte der Palästinenser sind, lautet: die Araber wollen “Israel ins Meer
treiben”. Aber 1992 äußerte der damalige israelische Premier Yitzhak Rabin:
“Ich wünschte, Gaza würde im Meer versinken”. Und noch so eine
weitverbreitete Ansicht: Die Palästinenser hätten damals, also im Jahr 2000,
von Ehud Barak ein ‘großzügiges Angebot’ erhalten. Dieses hätten sie jedoch
zurückgewiesen u. stattdessen die Intifada gestartet bzw. den
Selbstmordattentats-Terror. Dem widerspricht, dass die israelischen
Siedlungen in Westbank u. Gaza unter Barak noch schneller wuchsen als unter
Netanyahu. Eine Karte, auf der das ‘großzügige Angebot’ eingezeichnet ist
(in den USA wurde sie übrigens nie veröffentlicht), zeigt Westbank u. Gaza
gesprenkelt mit israelischen Siedlungen. Die Palästinenser hätten keine
Kontrolle über Ost-Jerusalem bekommen, u. zwischen den einzelnen
palästinensischen Ansiedlungen hätten (weiterhin) Checkpoints bestanden. Die
Palästinenser hätten keine Bewegungsfreiheit erhalten u. auch keine
Kontrolle über ihre Ressourcen.
Das Bild vom steinewerfenden palästinensischen Kind/Jugendlichen kennt
jede(r) hier im Westen (ja, diese Kinder werfen tatsächlich Steine - u. zwar
vorwiegend auf Panzer, die dann manchmal mit scharfer Munition* antworten).
Aber auch die andere Seite wirft Steine. In den (palästinensischen)
Olivenhainen der Westbank sind es die bewaffneten israelischen Siedler, die,
unter dem Schutz der Israelischen Armee (und diese wiederum stützt sich auf
die USA, wo sie auch ihre Waffen herbezieht), den Hügel herunter kommen u.
Steine (u. Schlimmeres) auf palästinensische Familien schleudern, die nichts
weiter wollen, als ihre Olivenernte einbringen. Die israelische Regierung
argumentiert, sie könne sich nicht aus der Westbank bzw. aus Gaza
zurückziehen, ohne die Siedler im Stich zu lassen, die ja geschworen hätten,
dort zu bleiben. Tanya Reinhart hingegen berichtet: “... viele Bewohner der
isolierten israelischen Siedlungen reden in den israelischen Medien ganz
offen davon, sie würden gerne wegziehen. Alles, was es braucht, ist das
Angebot einer vernünftigen (materiellen) Kompensation für den Besitz, den
sie zurücklassen müssten”.
Ein Mitglied der israelischen Schas-Partei, Rabbi Ovadia Yossef, tat die
Äußerung, die Araber vermehrten sich wie die Insekten u. würden “überall
herumkrabbeln wie Ameisen”. Der ehemalige israelische Premierminister
Menachem Begin nannte die Palästinenser “Tiere, die auf zwei Beinen gehen”.
Im Jahr 2001 bezeichnete der damalige israelische Tourismus-Minister Rehavam
Zeevi die Palästinenser als “Läuse” bzw. als “Krebsgeschwür”. Und da ist
andererseits der Palästinenser Edward Said - einer der hartnäckigsten u.
stimmgewaltigsten Kritiker der Politik Israels. Said nennt die Juden (im
Jahr 2000): “... eines der aufgeklärtesten und historisch gesehen humansten
Völker”.
Die Leute schlagen die Hände über dem Kopf zusammen: “Nein, nein, Muslime
und Juden werden niemals friedlich zusammenleben können”. Aber die
Geschichte beweist das Gegenteil: Meistens schafften es Muslime u. Juden
sehr wohl, friedlich miteinander zu leben, während die Christen Europas
unfähig waren, mit Juden u. Moslems zusammenzuleben. Sie vertrieben sie,
veranstalteten Kreuzzüge gegen sie oder versuchten sie mittels Inquisition
auszulöschen. Auch der ‘Holocaust’ geht auf das Konto christlicher Europäer.
Am 25. Januar 2002 äußerte ein (hoher) Offizieller der Israelischen Armee
gegenüber ‘Ha’aretz’: “... wenn der Auftrag lautet, nehmen Sie ein
dichtbesiedeltes Flüchtlingslager ein oder bringen Sie die Casbah in Nablus
unter Ihre Kontrolle, dann muss der Kommandierende zuerst seine Lektion aus
früheren (ähnlich gelagerten) Schlachten lernen - sie analysieren und
internalisieren - und dazu zählt eben auch, selbst wenn es sich schockierend
anhören mag, die Art und Weise, wie die deutsche Armee im Warschauer Getto
gekämpft hat”.
Israel weigert sich, das, was im März 2002 in Dschenin geschah, als Massaker
zu bezeichnen. Dort waren neben 23 israelischen Soldaten mindestens 56
Palästinenser (das meiste Zivilisten) ums Leben gekommen. ‘Ha’aretz’: “Es
gibt Hinweise, dass dort schwere Gefechte stattfanden. Mit der gebotenen
Vorsicht kann jedoch schon jetzt gesagt werden, was im Flüchtlingslager von
Dschenin nicht stattgefunden hat - nämlich ein Massaker. Weder gab es einen
Befehl von oben, vorsätzlich u. systematisch unbewaffnete Menschen zu töten,
noch gab es eine entsprechende Initiative vor Ort, die umgesetzt wurde.”
Medien auf der ganzen Welt übernahmen diese Sichtweise. Als neulich eine
Gruppe israelischer Soldaten u. bewaffneter Siedler von palästinensischen
Heckenschützen angegriffen wurde (im Nov. 2002 in Hebron) - wobei 12
Israelis starben -, sprach der israelische Außenminister sofort vom
“Sabbat-Massaker”, und der UN-Generalsekretär Kofi Annan von einem
“abscheulichen Terroranschlag”. Viele Nachrichtenagenturen verbreiteten die
Geschichte, als seien hier “jüdische Gläubige” von Palästinensern
angegriffen worden.
Viele Menschen glauben, die amerikanischen Juden würden es nicht
akzeptieren, wenn Israel gegenüber den Palästinensern zu Konzessionen bereit
wäre - im Hinblick auf die palästinensischen Rechte. Dem widerspricht, dass
laut einer Meinungsumfrage 87 Prozent der befragten jüdischen Amerikaner u.
97 Prozent der befragten arabischen Amerikaner die Ansicht vertraten, sowohl
die Israelis als auch die Palästinenser hätten das Recht auf einen sicheren
u. unabhängigen Staat. 52 Prozent der befragten amerikanischen Juden u. 79
Prozent der befragten arabischstämmigen Amerikaner favorisierten eine
Zwei-Staaten-Lösung - inklusive Evakuierung von (israelischen) Siedlungen in
Westbank u. Gaza. Ich frage mich: Würde es etwas an diesem Konflikt ändern,
wenn den Leuten klar wäre, dass so ziemlich alles, was sie glauben, über
diesen Konflikt zu wissen, im Grunde falsch ist?
Anmerkung d. Übersetzerin
*Podur macht hier eine Anspielung auf den Begriff ‘live ammunition’, die so
nicht übersetzbar ist. Er findet den Begriff ‘live ammunition’ - wörtlich:
‘lebendige Munition’ (im Gegensatz zu Platzpatronen, also ‘toter’,
wirkungsloser M.) -, den wir mit ‘scharfe Munition’ übersetzen, sehr
seltsam, da diese ‘lebendige Munition’ ja dazu dient, jmd. zu ‘töten’.
Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel: "Palestine
Ironies"
‘Ta’ayush’-Aktivisten auf dem Weg zur Feldarbeit von Siedlern
angegriffen
von Aviad Albert
ZNet 21.01.2003
Am vergangenen Samstag, den 18. Januar marschierten rund
20 Aktivisten von ‘Ta’ayush’ gemeinsam mit einigen Mitgliedern des
‘Christlichen Teams der Friedensstifter’ (CPT) in die Hügel von Süd-Hebron,
um dort palästinensischen Bauern zu helfen, ihr Land zu pflügen. Schon seit
langem pflegen Aktivisten von ‘Ta’ayush’ ja Beziehungen zu den Menschen in
den Hügeln von Süd-Hebron u. versuchen, deren Vertreibung durch die
israelische Regierung zu verhindern. Die Aktivisten kamen u. wollten den
Palästinensern beim Pflügen helfen - eine friedliche Aktion, aus der
Befürchtung heraus, die Sicherheit der palästinensischen Bauern könnte
extrem gefährdet sein. In den Morgenstunden traf die Gruppe in der Gegend
ein. Auf dem Weg ins Feld wurde sie von mit Gewehren u. Steinen bewaffneten
israelischen Siedlern angegriffen. Die Siedler warfen Steine u. gaben
Schüsse in die Luft ab. Sie jagten u. verprügelten die Friedensaktivisten.
Zudem beschädigten die Siedler landwirtschaftliches Gerät, das den
palästinensischen Bauern gehörte. Sie stießen einen Traktor ins Tal hinab u.
stahlen die Ausrüstung, die darauf gelegen hatte. Erst nach Eintreffen der
Armee bzw. der Polizei war es der Gruppe möglich, den Traktor zu bergen
(geschätzter Schaden: mehrere tausend Shekel (1 Shekel = 0,75 Euro)). Die
Feldarbeit konnte nicht durchgeführt werden.
Während der letzten Jahre sind die Palästinenser dieser Gegend Opfer eines
systematischen Landraubs geworden; sie werden an ihrer regulären Feldarbeit
gehindert, u. man beschädigt ihre Brunnen u. ihre Höhlen. Zudem kommt es
häufig zu gewaltätigen Zwischenfällen, bei denen (israelische) Siedler Leute
angreifen u. schikanieren - selbst kleine Kinder (so wurden z.B. Schüler der
Tuanne-Grundschule auf ihrem Heimweg von der Schule angegriffen, und auf dem
Schulhof von Ziff fand man sogar eine versteckte Bombe). Videoaufnahmen, auf
denen zu sehen ist, wie die Siedler die Friedensaktivisten mit Steinen
angreifen, wie sie sie verprügeln u. in ihre Richtung schießen, wurden an
‘Channel 2 News’ weitergegeben u. dort am Samstag gesendet. Für die
Vorbereitung unserer Polizei-Beschwerde benötigen wir noch weitere
Unterstützung. Außerdem sind wir gerade am Erstellen einer Datei mit Leuten,
die Lust hätten, bei zukünftigen Pflüg-Aktionen mitzumachen (wir hoffen, es
wird zu keiner weiteren Gewalt mehr kommen). Kontakt: Aviad
el_tin@hotmail.com
Einer verhaftet, 3 tot, 23 verletzt
von Amira Hass
Ha'aretz / ZNet 19.02.2003
Inzwischen gehört das schon zu der Sorte Nachrichten, die man irgendwo im
Innern der Zeitung versteckt: Letzten Sonntag wurden in Nablus 3
Palästinenser getötet. Es passierte, als ein Trupp Soldaten der Israelischen
Armee (IDF) einen Führer der kleinen DFLP ('Democratic Front for the
Liberation of Palestine'), nämlich Taisar Khaled, verhaften wollte. Wieder
so eine 'Routine-Operation' - und keiner stellt Fragen hinsichtlich ihrer
Durchführung oder ob die Operation auch tatsächlich notwendig war. Khaled,
60, war nicht etwa ein Verdächtigter, ein Terrorist, der sich versteckt
hielt.
Ihn aufzuspüren war keineswegs schwer, erforderte keinen ausgeklügelten
Geheimdienstplan. Vielmehr ist Khaled Mitglied des Exekutivkomitees der PLO,
die Adresse seines Büro bekannt - es liegt in einem großen Geschäftshaus
mitten im belebten Einkaufs- u. Geschäftsviertel von Nablus.
Die Festnahme, die Toten, die 23 Verletzten - für die israelische Presse nur
eine kurze Randnotiz. Für die Einwohner von Nablus hingegen bedeutet dies
eine neue Welle von Trauer, Wut, Angst u. dem Verlangen nach Rache.
Gegen 13 Uhr begann ein großer Trupp (israelischer Soldaten), das Gebäude zu
umzingeln. Kinder u. Teenager in den Straßen fingen an, Steine zu werfen.
Schreiend u. mit entsicherter Waffe stürmten die Soldaten im Innern des
Gebäudes die Treppe hoch - der Fahrstuhl war außer Betrieb. Mitten im
Treppenhaus rannten sie in Khaleds Büroleiter, Hasan Ayub. Auf Hebräisch
sagte er zu den Soldaten: "Keine Panik! Ich bin unbewaffnet". Aber sie
hätten sich trotzdem auf ihn geworfen, so Ayub, ihn zu Boden gerissen, sie
seien auf ihn gestiegen, hätten ihn getreten.
Gemäß des IDF-Berichts eröffneten die Truppen das Feuer erst, nachdem
bewaffnete Palästinenser auf sie geschossen hätten. Palästinensische Quellen
hingegen: Als der Hagel der Steine vor dem Gebäude intensiver wurde,
eröffnete die Israelische Armee das Feuer. Gleich in den ersten Minuten
wurden 3 bis 4 Menschen verletzt. Und erst, als die Operation schon in
vollem Gange war, etwa 40 Minuten später, so die palästinensische Version,
tauchten plötzlich mehrere bewaffnete (palästinensische) Männer auf. Sie
hätten angefangen, aus der Menschenmenge heraus zu schießen - was die Leute
wütend gemacht hätte.
Inzwischen waren die IDF-Truppen im Innern des Gebäudes im 7. Stock
angelangt - vor Khaleds Büros. Eine der Türen war abgeschlossen. Büroleiter
Ayub sagt, die Soldaten hätten ihn exponiert neben der Treppe aufgestellt,
während zwei Soldaten von ihren Eckverstecken aus auf die Tür gefeuert
hätten, um sie aufzuschießen. Ein Soldat stand vor Ayub, 2 hinter ihm. War
diesen Soldaten bewusst, dass aus dem Büro niemand zurückschießen würde,
hatten sie Ayub nur daher in die (potentielle) Schusslinie gestellt? Ayub
sagt, er hätte ihnen die Information gegeben, der Türschlüssel liege bei der
Hausverwaltung im zweiten Stock. Aber sie hätten geantwortet: "zu weit" und
einfach weitergeschossen, bis die Tür offen stand. Das Gebäude war voller
Menschen. In Gruppen wurden sie jetzt aus ihren Büros gezerrt - Hände über
dem Kopf, Gesicht zur Wand.
Von draußen hörte man Schießen. Ein Soldat sorgte dafür, dass Ayub sich
gegenüber dem Fenster auf die Treppe setzte. Auf Englisch befahl er: "Wenn
du einen mit einer Waffe siehst, informierst du mich". Ayub sagt, er hätte
geantwortet: "Wenn ich einen mit einer Waffe sehe, verstecke ich mich".
Während dieses Gesprächs wurde der Kommandeur der Einheit (im Gebäude) ins
Bein getroffen - Ayub stand direkt daneben.
Dann kamen die Männer vom Shin Bet (Geheimdienst) u. stellten Fragen. Der
Hausverwalter bat, ihn nicht zu verprügeln. Büroleiter Ayub erklärte ihnen,
er habe keine Ahnung, wo Khaled sich momentan aufhalte. Ayub war nämlich
gerade erst von Besorgungen außerhalb zurückgekehrt. Plötzlich waren aus dem
6. Stock Rufe u. Flüche (mit hebräischem Akzent) zu hören: Man hatte Khaled
gefasst. Er befand sich in Begleitung des Besitzer eines Touristikbüros, die
dritte Person war ein Techniker, den man geholt hatte, um einen kaputten
Fotokopierer zu reparieren. Einige der Soldaten sollen sich erstaunt gezeigt
haben, dass der Gesuchte "so ein alter Knacker" ist - wie einer der Soldaten
wörtlich sagte.
Draußen wurden jetzt die Toten gezählt. Der Erste war Iman Abu Zanet, ein
junger Mann, der auch tatsächlich Khaleds politischer Partei angehörte. Ob
er allerdings einer der 7 Bewaffneten war, die plötzlich in der Menge
auftauchten oder nur ein Steinewerfer, weiß niemand. Bei den beiden andern
Toten handelt es sich um schlichte Passanten. Der eine war Muhamed Takruri,
43.
Er war aus seinem Auto gestiegen, um sich ein Päckchen Zigaretten zu holen -
ungefähr einen Block vom Ort des Geschehens entfernt. Ein Ladenbesitzer sagt
aus, ein Armee-Jeep (der Israelis) sei im dichten Fußgängerverkehr
steckengeblieben, u. um die Leute auseinanderzutreiben, hätten die Soldaten
einfach das Feuer eröffnet. Der Ladenbesitzer sagt, er hätte Takruri noch
zugerufen, er solle fliehen u. Deckung suchen.
Der dritte Tote war Fares Mabrukke - ein Passant, der in der Gegend
unterwegs gewesen war. 23 Menschen wurden verletzt, einer von ihnen ist
inzwischen für 'klinisch tot' erklärt.
Während der letzten Monate haben es sich die IDF-Truppen in Nablus zur
Gewohnheit gemacht, jede Nacht jemanden zu verhaften. Das spielt sich dann
so ab: Mitten in der Nacht hält ein Jeep in einem der abgedunkelten Viertel,
man hört, wie an eine Tür gepoltert wird, irgendwo in der Ferne bellt ein
Hund, und wieder ist einer verhaftet.
Letzten Samstag wurde ein Gesuchter sogar am hellichten Tag in einem
Versicherungsbüro verhaftet - und zwar in einem Viertel weit weg vom
Stadtzentrum. Nichtsdestotrotz schickte die IDF mehrere dutzend Soldaten in
Jeeps mit einem riesigen Panzer mitten ins Stadtzentrum - zur selben Zeit,
als gerade hunderte Schulkinder auf ihrem Nachhauseweg waren.
Die Palästinenser halten diese Operation für eine Inszenierung, für eine
Provokation, für eine gefährliche Machtdemonstration u. Demonstration der
(israelischen) Vorherrschaft - niemand soll noch den geringsten Zweifel an
ihrer Überlegenheit haben.
Jemand in Nablus hat die Theorie aufgestellt, die Wahllosigkeit der
Verhaftungen - was Ort u. Zeitpunkt anbelangt - hänge mit der Tatsache
zusammen, dass am 5. Februar 2 israelische Soldaten des in Nablus
stationierten Fallschirmspringer-Bataillons von bewaffneten Palästinensern
getötet wurden. Soldaten derselben Einheit waren es nun, die ausgesandt
wurden, Khaled zu verhaften.
--
Anmerkung d. Übersetzerin
Von der 'Ha'aretz'-Korrespondentin Amira Hass ist inzwischen auch ein Buch
auf Deutsch erschienen, Titel: 'Gaza'.
--
Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel: "One arrested, 3 dead, 23 wounded"
|