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Jüdische Weisheit
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Das andere Gesicht des Feindes:
Amira Hass

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"Um zu verstehen, muss ich mittendrin sein", sagt die israelische Journalistin Amira Hass, "und das Schicksal dieser Menschen teilen". Wenn die israelischen Panzer ins Zentrum der autonomen Stadt Ramallah einrücken, wenn die Luftwaffe nachts Bomben und Raketen wirft, fühlt sich auch Amira bedroht, denn sie ist hier zu Hause.

"Natürlich habe ich Angst. Hier weiß man ja nie, wann fangen sie an zu schießen, wo kann ich mich verstecken? Natürlich macht das Angst, schon allein die Geräusche sind furchterregend." Auf die Frage, auf welcher Seite sie im Kampf zwischen Israelis und Palästinensern steht, antwortet Amira. "Auf der Seite der Palästinenser, weil sie gegen ihre Besatzer kämpfen. Sie sind umgeben von Panzern, die sie weghaben wollen. Gegen Besatzer zu kämpfen ist ein weltweit anerkanntes Recht. Ich bin auf ihrer Seite, nicht weil ich gegen Israel bin, sondern weil ich für das Recht bin, gegen Besatzung zu kämpfen."

Job als Berufung

"Wut" treibt Amira Hass an

Sie fühlt sich Israelis und Palästinensern gegenüber gleich nah und gleich fern. "Es gibt Dinge, wo ich mich den Palästinensern näher fühle, das hat mit unserem gemeinsamen Alltag zu tun. Aber natürlich werden die Palästinenser nie verstehen können in welchem Meer von Traurigkeit ich lebe, wegen des Holocausts, den meine Familie durchlitt. Diese Gefühle und viele andere teile ich nur mit den Juden."
Der Schriftsteller Zacharya Muhammad nennt Amira "das andere Gesicht der Israelis. Die einzige, die hier lebt, die man auf der Straße trifft und mit der man reden kann. Ansonsten gibt es hier nur Siedler und Soldaten. Amira ist das andere Gesicht des Feindes".
"Die Veränderung muss von Israel ausgehen", sagt Amira Hass, "dazu braucht es eine soziale Bewegung. Ich möchte eine Stimme in dieser Bewegung sein."

Die Gewaltspirale in Nahost

Israelische Soldaten haben die palästinensische Fernsehstation zerstört

"Zum Schluss, wenn weniger Menschen da sind, wenn es so scheint, als sei alles vorbei, dann fängt die israelische Armee noch einmal zu schießen an, dann schießt sie scharf", erzählt Amira Hass. Sie bleibt immer bis zum Schluss, sie will die ganze Wahrheit wissen und dokumentieren. Die Bilanz an diesem Tag, nach drei Stunden heftiger Auseinandersetzungen: 38 Palästinenser liegen im Krankenhaus. Zwei wurden durch Metall-, 19 durch Gummigeschosse verletzt, der Rest leidet an den Folgen von Tränengas.
Mitten in der Nacht sprengen die Israelis die "Stimme Palästinas" in die Luft, die regierungsnahe palästinensische Radio- und Fernsehstation. Der israelische Regierungssprecher begründet die Aktion damit, dass von hier aus gegen Israel gehetzt und aufgewiegelt wurde. "Das sind Symbole der Macht", sagt Amira Hass, "die werden zerstört, um den Israelis zu zeigen, wir tun was gegen den Terror. Zerstörte, ausgebrannte Häuser machen sich gut in der Leistungsbilanz gegen den Terror." - "Die Mehrheit der Israelis glaubt nur an Macht und militärische Stärke", sagt Marwan Bargouti, der Generalsekretär der Fatach.
Amira Hass schreibt, was die Armee verschweigt. "200.000 Israelis riskieren täglich ihr Leben auf den Straßen durch die Westbank und durch den Gazastreifen, wenn sie zu ihren Siedlungen fahren. Junge Soldaten werden abgestellt, zum Schutz der Siedler. Dabei nimmt die Armee in Kauf auch ihr Leben zu riskieren. Gleichzeitig leben drei Millionen Palästinenser in einem System von Ausgangssperre und Belagerung. Sozusagen im Gefängnis, zum Schutz der Siedler."
"Ohne massiven Druck von außen wird sich hier nichts ändern", sagt Amira Hass. "Es wird ein Desaster für beide Völker. Es gibt doch Prinzipien und Werte für die die Europäer vorgeben zu stehen. Wie lange wollen sie noch tolerieren, dass es hier zweierlei Recht gibt für zwei verschiedene Ethnien in ein und demselben Land. Den Palästinensern werden fundamentale Menschenrechte vorenthalten, dagegen würden sie in Europa doch auch kämpfen, warum also nicht hier?"

Die Schikanen der Israelis

Amira berichtet über die Schikanen der Besatzungsmacht

"Meine Aufgabe ist es zu berichten, wie sich Israel als Besatzungsmacht verhält, wie es mit den Palästinensern umgeht und das tue ich aus der Perspektive der Palästinenser. Macht, Machtmissbrauch muss kontrolliert werden und das tue ich", sagt Amira Hass. Sie besucht eine palästinensische Familie mit sieben Kindern, deren Haus israelische Soldaten besetzt haben. "Sie haben oben das Wohnzimmer, die Küche, das Bad und die Veranda genommen", erzählt die Frau. "Wenn ich oben etwas holen möchte, darf ich nur um zwölf Uhr mittags und um sechs Uhr abends hoch. Nur mein Mann und ich dürfen hoch, die Kinder nicht. Im Dezember waren schon einmal Soldaten hier, da war ich im fünften Monat schwanger und habe vor Schock mein Kind verloren." Von der Dachterrasse aus überwachen die israelischen Soldaten die ganze Gegend.
In einem Raum zwei Stockwerke tiefer haben die Eltern und die sieben Kinder vorübergehend Platz gefunden. Amira Hass interessiert sich für jedes Detail, will wissen wie sich die Soldaten benommen haben. "Was Amira tut ist ungeheuer wichtig für die Menschen hier", sagt Walid al- Omari, ein Reporter von Al Jazeera. "Sie berichtet über deren alltägliches Leben, über die alltäglichen Schikanen der Besatzung. Sie berichtet nicht nur darüber sondern sie kommentiert und kritisiert dies auch. Sie sagt und schreibt, dass es in der Hand der Israelis ist etwas zu tun, um die Situation der Menschen hier zu ändern."
"Auf ein und demselben Territorium leben Menschen, die mit allen Rechen ausgestattet sind und solche, die null Rechte haben. Menschen, die in wirtschaftlich guten Verhältnissen und Menschen, die in miserablen Verhältnissen leben. Das ist politisch gewollt und das nenne ich Apartheid", sagt Amira Hass.

Der Zorn der Besetzten

Ein Selbstmordattentäter schießt in Hadera um sich

Am Abend bevor die israelischen Soldaten Ramallah besetzen, schießt ein Selbstmordattentäter bei einer Familienfeier in Hadera um sich. Dabei werden sechs Israelis getötet und 35 verletzt. Zu dem Attentat bekennen sich die Al Aksa Brigaden, der militärische Arm von Arafats Fatach. Dabei hatte Arafat erklärt, er werde für einen Waffenstillstand sorgen. Amira Hass will von Marwan Bargouti, dem Generalsekretär von Fatach, eine Erklärung. "Als Premierminister Scharon unseren Führer Raed Carmi umbringen ließ, da wusste er, dass es Reaktionen geben würde. Die Reaktion kam aus der Mitte der Kämpfer, nicht auf Befehl von oben."
15 Kilometer sind es von Ramallah bis Jerusalem. Auf der Straße der Privilegierten, wie Amira sie nennt, dürfen nur Israelis, Diplomaten und Krankenwagen fahren. Die Straße wurde zum Schutz der Siedler gebaut, die hier leben. Die Palästinenser müssen zu Fuß in ihre Dörfer laufen, bei jedem Wetter und oft schwer bepackt. "Das hat nichts mit den angeblichen Sicherheitsmaßnahmen zu tun", sagt Amira, "das ist Schikane. Ein ganzes Volk wird schikaniert. Drei Millionen Palästinenser leben in einem System von Ausgangssperre und Belagerung. Sozusagen im Gefängnis, zum Schutz der Siedler." Amira beschleunigt ihr Tempo, denn die Straße ist längst zur Todesfalle geworden. Immer wieder werden trotz intensiver Kontrollen Siedler durch palästinensische Scharfschützen aus dem Hinterhalt ermordet.

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Profound Contempt

Tiefe Verachtung

(von Amira Hass)

'Haaretz' vom 16. April 2002 / Znet

Im Flüchtlingslager von Jenin leben an die 13 000 Menschen. Die Fläche auf der sie gezwungen sind zu leben, beträgt einen Quadratkilometer. 42 Prozent dieser Flüchtlinge sind Kinder, 4,5 Prozent alte Leute über 65. Also selbst wenn wir annehmen, es waren nicht 90 Missiles, die eine Woche lang täglich auf das Camp herabregneten, sondern 'nur' 20, und selbst wenn mir davon ausgehen, es waren nicht 10 Panzer, die das Lager simultan beschossen haben sondern nur 2: Sagt einem da nicht allein schon der gesunde Menschenverstand, daß Zivilisten getötet worden sein müssen - und nicht nur "Terroristen in ihren Widerstandsnestern"

In den Augen der Israelis ist der Vorsitzende der Palästinensichen Regierung, Jassir Arafat, ein Superherrscher. Seit über 2 Wochen ist er nun schon in seinem Büro gefangen, sämtliche Gebäude seiner Regierung (sowie deren Gefäng- nisse u. Einrichtungen der Sicherheitspolizei) sind zerstört, geplündert, menschenleer, Arafats Leute zerstreut u. untergetaucht. Seine telefonische Verbindung zur Außenwelt hängt von der Laune der Israelischen Streitkräfte ab bzw. von deren lausigem Equipment. Man hat ihm das Wasser abgestellt, und weder Arafats Status, noch sein Alter, noch die hohe Anzahl Leute, die momentan bei ihm hausen, sind offensichtlich Grund genug, sein Wasserversorgungssystem zu reparieren - sein Wasserversorgungssystem, das ja erst durch die Panzer u. Bulldozer der IDF ('Israeli Defense Force' = Israelische Streitkräfte) auf Arafats Gelände in Trümmer gelegt wurde.

Und trotz all dieser Fakten wird (von Israel) immer noch hartnäckig behauptet, Arafat sei für die beiden jüngsten Terroranschläge verantwortlich - der eine davon geht ja auf das Konto einer gegen Arafat ausgerichteten islamischen Gruppe, der andere wurde durch die 'Al Aqsa Märtyrer' durchgeführt, einer Gruppierung, der Verbindungen zur 'Fatah' nachgesagt werden. Israel glaubt, hätte Arafat nur gewollt, er hätte beide Anschläge ohne weiteres verhindern können.

Ein derart (absurdes) Denken (der Israelis) bzgl. Palästinenserführer Arafat ist einzig erklärbar durch die grundsätzliche Verachtung, die die Israelis den Palästinensern gegenüber hegen - ihre Einstellung, bei den Palästinensern handele es sich um eine Herde Schafe, die Mithilfe eines Schäfersteckens willenlos in jede Richtung gelenkt werden können. Dieses tiefe, tiefe Gefühl der Verachtung klang auch letzte Woche mehrmals an bei den Worten Israelischer Militärsprecher - die uns doch tatsächlich suggerieren wollten, die Palästinenser zeigten keinerlei Interesse an der Bergung ihrer eigenen Toten im Flüchtlingslager Jenin (bzw. daran, ihre Verwundeten zu versorgen). Die Palästinenser wollten dieses Elend vielmehr zu Propagandazwecken gegenüber dem Ausland benutzen.

Aber darüber hinaus wurzeln derartige Aussagen auch in zwei grundsätzlichen Einstellungen bzgl. des Volks der Palästinenser. Erstens, daß sie per se verantwortungslos seien, daß das medizinische Personal der Palästinenser - Ärzte, Schwestern, Krankenwagenbesatzungen - es nicht sonderlich wichtig nähme mit seinem (Hippokratischen) Eid bzw. seiner Verpflichtung, menschliches Leben zu retten, und zweitens, daß diese Leute sich einen Dreck um ihre eigenen Leute scheren (viele aus den Medizin-Teams haben ja Freunde u. Verwandte im Jenin-Camp bzw. in anderen Orten auf der West Bank, die sie mit ihrer medizinischen Hilfe nicht (rechtzeitig) erreichen konnten).

Laut Darstellung des Israelischen Militärs hätten die palästinensischen Medizin-Teams für ihr 'fehlerhaftes Verhalten' auch keinerlei Druck vonseiten ihrer Familien oder ihres sozialen Umfelds zu erwarten - und selbst wenn, wäre es ihnen auch egal. Denn diese Palästinenser sind ja ferngesteuert durch 'Propagandaüber- legungen', denken schon an die Zeit nach dem Krieg. Zudem, so die IDF, hielten die Palästinenser auch nichts vom Muslimischen Brauch, die Toten sofort zu bestatten. Vertreter des 'Roten Kreuzes', von UNRWA ('UN Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East' = Hilfsorganisation der UN zur Unterstützung der Palästinensischen Flüchtlinge im Nahen Osten), von UNSCOT (Büro des UN-Sonderkoordinators in den 'Besetzten Gebieten') sowie die Vertreter der 'Weltbank' können demgegenüber bezeugen, daß (vonseiten der Palästinenser) letzte Woche immer wieder versucht wurde, zusammen mit den Ambulanzen des 'Roten Kreuzes' ins Lager (Jenin) zu gelangen (bzw. in die Altstadt von Nablus, bzw. in Arafats Regierungsgebäude).

Aber selbst in den Fällen, in denen zuvor entsprechende Koordinierungs-Gespräche auf hoher Ebene erfolgreich gewesen waren, sah die Sache vor Ort nochmal ganz anders aus: man wurde von Israelischen Positionen heraus beschossen bzw. durch Panzer, oder es wurden ganze Krankenwagenbesatzungen einfach verhaftet (die dann erst Stunden später wieder freigelassen wurden); dadurch liefen viele Anstrengungen, Verletzte schnell zu bergen, ergebnislos ins Leere.

Letzte Woche spuckte Israel große Töne - vonwegen seiner hohen Moral u. daß humanitäre Maßnahmen getroffen worden seien, um zivile Opfer beim Kampf ums Flüchtlingslager Jenin möglichst auszuschließen. Als Argument wurde angeführt: die israelischen Soldaten, die in Jenin gefallen sind, hätten nicht geopfert werden müssen, wenn Israel einfach nur 'ein oder zwei Bomben' auf das Lager geworfen hätte - und damit basta.

Neben seiner offensichtlichen Aussage enthält dieses Statement noch eine andere (absurde) Botschaft bzgl. der Palästinenser: anders als andere Menschen seien Palästinenser nicht durch Missile-Raketen aus Hubschraubern zu töten, nicht durch Panzerbeschuß und auch nicht durch Maschinengewehrfeuer - und Angst vor solchem Kriegsgerät hätten sie auch keine. Das einzige, was einen Palästinenser wirklich schrecken könne, seien große Bomben, abgeworfen durch Kampfflugzeuge - und das hat die (gute) IDF ja gottseidank nicht getan.

Im Flüchtlingslager von Jenin leben an die 13 000 Menschen. Die Fläche auf der sie gezwungen sind zu leben, beträgt einen Quadratkilometer. 42 Prozent dieser Flüchtlinge sind Kinder, 4,5 Prozent alte Leute über 65. Also selbst wenn wir annehmen, es waren nicht 90 Missiles, die eine Woche lang täglich auf das Camp herabregneten, sondern 'nur' 20, und selbst wenn mir davon ausgehen, es waren nicht 10 Panzer, die das Lager simultan beschossen haben sondern nur 2: Sagt einem da nicht allein schon der gesunde Menschenverstand, daß Zivilisten getötet worden sein müssen - und nicht nur "Terroristen in ihren Widerstandsnestern"? Die IDF hat das Ergebnis ihrer Angriffe aus der Luft nicht gefilmt, ebensowenig das ihres Panzerbeschusses, u. sie hat zudem dafür gesorgt, daß auch andere dies nicht tun können.

Was Fotografen ausländischer TV-Sender dennoch festhalten konnten - die Leichen (vor allem in Nablus), der Schmerz der Angehörigen der Toten, das Leid der vielen, vielen Verletzten, die Menschen, die erschossen in ihren Hauseingängen lagen, die mit Einschüssen übersäten Krankenwagen -, all diese Beweise werden bei uns in Israel nicht gesendet - und wenn ausnahmsweise doch, dann allenfalls in Sekunden-Schnipseln.

Also fassen wir zusammen: Arafat, der allmächtige Herrscher (selbst unter Belagerung u. unter unglaublichen Lebensbedingungen), seine anscheinend kugelfesten Anhänger, u. palästinensische Medizin-Teams bzw. Rettungsdienste, die auf ihre Berufsehre pfeifen. Das ist das Bild der Palästinenser, das die Sprecher von Militär u. Politik derzeit der Israelischen Öffentlichkeit verkaufen. Es ist eine bekannte Tatsache: um aus einem politischen bzw. militärischen Kampf erfolgreich hervorzugehen, muß man seinen Feind in- und auswendig kennen: seine ganzen Schwächen u. Stärken, seine Fähigkeiten u. Unzulänglichkeiten, seinen Schmerz u. sein Glück. Bei uns jedoch wird 'der Feind' als stereotype, eindimensionale Masse stilisiert - dumm, ohne Gefühl, ohne Gedanken.

Vielleicht ist es ja so - wäre möglich - daß die Lügen, die in diesen Kriegstagen (durch die Israelische Regierung) über die Palästinenser verbreitet werden, in Wirklichkeit nur die Verachtung dieser Regierung für ihr eigenes (Israelisches) Volk widerspiegeln; daß diese Leute annehmen, die Öffentlichkeit werde schon dumm genug sein, die Lügen auch weiterhin zu schlucken. Und vielleicht geht man ja davon aus, die Israelis würden sich auch in Zukunft zufriedengeben mit den Erklärungen des Geheimdiensts bzgl. der Taten der Palästinenser - die Israelis hätten keinerlei Interesse an soziologischen, historischen oder politischen Hintergrundinformationen; daß wir uns nie und nimmer der Frage stellen werden, was eigentlich soviele Palästinenser dazu bringt, sich in die Luft zu sprengen und andere gleich mit, oder der Frage, warum hunderttausende Palästinenser bereit sind unter folgenden gräßlichen Bedingungen auszuhalten: Beschuß, andauernde Ausgangssperren, kein Wasser, kein Strom, kein Essen?

Übersetzung von Andrea Noll

Sie ist die einzige israelische Journalistin, die einzige Journalistin weltweit, die den Alltag der Palästinenser lebt, über den sie schreibt. Amira Hass arbeitet für die linksliberale Tageszeitung Ha'aretz. Wenn israelische Panzer ins Zentrum der autonomen Stadt Ramallah vorrücken, wenn die Luftwaffe ihre Bomben und Raketen wirft, dann fühlt auch sie sich bedroht. Seit vier Jahren lebt Amira Hass in Ramallah, davor fünf Jahre in Gaza. Der Alltag der Palästinenser unter der israelischen Besatzungsmacht ist seit Jahren ihr Thema. Für sie ist die israelische Politik kolonialistisch, rassistisch und fördert die Apartheid. Diese Politik wird zum Desaster für beide Völker führen, so die Analayse von Amira Hass. Sie schreibt aber auch unerschrocken über Korruption in der palästinensischen Autonomiebehörde unter Arafat, über Folter in palästinensischen Gefängnissen, über Schnellgerichte und den Vollzug der Todesstrafe.

"Wut, Wut über das, was ich tagtäglich sehe und erlebe", treibt sie an und noch etwas anderes. "Die Erinnerungen meiner Eltern, die meine Erinnerungen geworden sind. Als ich klein war, haben mir meine Eltern, beide Überlebende des Holocaust, eine Geschichte erzählt, die mich geprägt hat. - Nach zehn Tagen Transport von Jugoslawien nach Bergen-Belsen, in den Viehwagen der Bahn, kamen wir dort an, hatte mir meine Mutter erzählt. Erschöpft, einige unfähig zu gehen, wurden wir aussortiert, ins Lager gebracht. Um uns herum standen deutsche Frauen und schauten teilnahmslos zu. - Dieser teilnahmslose zuschauende Blick", sagte Amira, "hat sich bei mir eingebrannt und mir war klar, dass ich nie nur Zuschauer sein wollte". - "Amira ist unerbittlich und hat vor niemanden Angst", sagt Sharon Grinker, der Ex-Armeesprecher für Gaza. Sie macht ihren Job ohne Angst. Sie ist niemandem verpflichtet. Sie versucht, wo immer es geht Augenzeuge zu sein und die Fakten zusammenzutragen. Darüber hinaus ist sie noch am atmosphärischen und an den Gefühlen der Menschen interessiert, das macht ihre Berichte so interessant."

17.01.2003:
Terror als Naturereignis
von Amira Hass

Terror als Naturereignis

von Amira Hass

Ha’aretz / ZNet 15.01.2003

Ein hochrangiger (israelischer) Offizier wurde letzte Woche gefragt, ob er glaube, die IDF (Israelische Armee) sei gerüstet gegen Provokationen von Anhängern der “Transfer”-Idee aus Kreisen der Armee respektive aus Kreisen der Westbank-Siedler. Ob die Armee gegebenenfalls in der Lage sei, alle Versuche einer Massenvertreibung von Palästinensern abzuwehren. Der Offizier gab folgende Antwort: Wenn ein Mega-Anschlag passiere, ein Anschlag, den die Sicherheitskräfte nicht verhindern könnten, wie beispielsweise eine Autobombe mitten in einer belebten israelischen Großstadt oder in einem Gebäude, bei dem es zu dutzenden oder gar hunderten Toten käme, in dem Fall sei es durchaus möglich, dass einen Tag später extremistische Israelis eine “angemessene Antwort” fänden - zum Beispiel die Vertreibung sämtlicher Bewohner der Heimatgemeinde der Planer dieses Terroranschlags. Der Offizier gab zu, wenn so etwas einträte, wäre es zweifelhaft, ob die Armee eine derartige Vertreibung verhindern könnte oder auch nur wollte. “Die Armee hat versagt, als es darum ging, die Siedler davon abzuhalten, die palästinensische Olivenernte in der Westbank zu sabotieren bzw. Oliven zu stehlen. Auch der Staat hat versagt, denn soweit ich weiß, wurden diejenigen Siedler, die die Olivenernte sabotierten, in keinster Weise belangt, obgleich ihre Identität den Behörden bekannt ist”, so der Offizier. Er hielt auch nicht hinterm Berg mit seinem Gefühl, dass wir uns auf endlose weitere Eskalationen gefasst machen müssten. Aber unser Verteidigungsminister Shaul Mofaz, bis vor kurzem Generalstabschef, sagt: “Wir sind auf dem Höhepunkt der Terrorwelle angelangt”.

Tag für Tag werden in den Territorien zwischen 5 u. 20 Palästinenser verhaftet. Und alle paar Tage geht die IDF irgendwo rein, um irgendwas zu zerstören. Und an jedem zweiten Tag werden palästinensische Zivilisten, darunter Kinder u. alte Leute, (irrtümlich) getötet - zusätzlich zu bewaffneten Palästinensern respektive Terrorattacken Planenden, die getötet werden. Eines jener zufälligen Opfer war ein behindertes Kind, das am Sonntag in Khan Yunis starb, als die IDF Raketen auf zwei Hamas-Aktivisten abfeuerte, die Raketen verfehlten ihr Ziel jedoch. Und daneben finden in aller Stille ganz routinemäßige Aktionen statt, von denen die Israelis überhaupt nichts erfahren - im Grunde interessiert es sie auch nicht. Da sind zum Beispiel die Checkpoints, an denen (israelische) Soldaten stehen, die alte Menschen beschimpfen, junge Menschen beschimpfen u. die Leute grundlos u. mit Absicht warten lassen. Da sind die Reisebeschränkungen. Da sind die Eisentore, die die Dörfer u. Städte in Gefängnisse verwandeln. Da sind die Vorladungen zum Geheimdienstverhör (Shin Bet), denn der Geheimdienst versucht ja, neue Kollaborateure anzuwerben u. die Leute über ihre Nachbarn u. Verwandten auszuhorchen. Da sind die Ausgangssperren u. die zu Hause eingesperrten Kinder. Da sind die von IDF-Bulldozern aufgerissenen, zerstörten Straßen. Da sind die Häuser, die man abreißt, nur weil darin ein Terrorist gewohnt hat. Da sind die Eisenwarenläden u. Färbereien, die man zerstört. Da sind die Wasser- u. Stromnetze, die während der Razzien beschädigt werden. Und währenddessen werden neue Straßen fertiggestellt, auf denen ausschließlich Juden fahren dürfen. Da sind Tränengasgranaten auf “Unruhestifter”, u. da ist Bauernland, das immer mehr unter die Ketten der Panzer gerät. All diese Dinge geschehen parallel zu immer neuen ‘glorreichen’ IDF-Operationen - u. da heißt es, wir seien schon am Scheitelpunkt der Terror-Kampagne angelangt!

Der offensichtlich massive Zulauf für den rechten Block, im Hinblick auf die Wahl am 28. Januar, zeigt, dass eine Mehrheit der Israelis nach wie vor überzeugt ist, alles, was die IDF tut - im Auftrag der Politik tut - sei richtig, sei effektiv, nur eben noch nicht massiv genug. Die Eskalation wird wie ein Wintersturm betrachtet oder wie ein ‘Sharav’ - als Naturereignis, (als höhere Gewalt) eben. Man kann den Schaden begrenzen, verhindern jedoch kann man ihn nicht. Die Israelis ziehen höchstens den Schluss, die Erfolglosigkeit sämtlicher IDF-Operationen im letzten Jahr - zur Bekämpfung der palästinensischen Terrorwellen - beweise, wie mörderisch u. verschlagen manche Palästinenser eben sind, wieviel Terror in ihrem Blut fließe. Folglich sehen die meisten Israelis die Lösung auch in einer verstärkten Fortsetzung derselben Methoden - noch massivere Gewalt in noch kürzeren Abständen u. in noch schmerzhafterer Härte.

Israel ist eine Demokratie. Wichtige Informationen kann man vor der israelischen Öffentlichkeit nicht geheimhalten. Israelische Bürger mit abweichender Meinung sind nicht von Jobverlust oder von Haft bedroht. Die enorme Unterstützung für die Rechten - inklusive Shinui - beweist daher, ein Großteil der jüdischen Öffentlichkeit (in Israel) ist keineswegs an der Beantwortung der Frage interessiert, ob die israelische Militärpolitik denn nicht eigentlich alogisch ist bzw. die israelische Politik gegenüber Zivilisten. Zudem scheint dieser Mehrheit egal zu sein, dass es einen eindeutigen Zusammenhang gibt zwischen der eigenen ökonomischen Situation, die sich ja immer mehr verschlechtert u. jenen Strategien, die eine politische Lösung ausschließen. Die Mehrheit in Israel scheint einfach noch nicht bereit, auf diejenigen zu hören, die sagen, vielleicht verhindert diese Militärpolitik kurzfristig tatsächlich ein paar Anschläge bzw. zerstört die Infrastruktur des Terrors, aber langfristig gesehen erzeugt sie hunderte neuer Freiwilliger für die palästinensischen Schattenarmeen u. vergrößert so die Terrorgefahr weiter. Stattdessen hört die überwiegende Mehrheit lieber auf diejenigen, die schildern, wie teuflisch, lächerlich u. korrupt es auf der palästinensischen Seite zugehe. Die meisten wollen zudem auch nichts hören von einem Zusammenhang zwischen dem kontinuierlichen Terror u. der Fortsetzung des extremen militärischen u. ökonomischen Drucks, der auf die gesamte palästinensiche Bevölkerung ausgeübt wird. Und die Mehrheit der Israelis will auch nicht sehen, dass es einen Zusammenhang gab zwischen dem Neuaufflammen des Konflikts im September 2000 u. der nichtmilitärischen Konsolidierung israelischer Kontrolle über die ‘Gebiete’ (u. das während der gesamten Osloer Jahre). Die meisten Israelis stehen vielmehr weiterhin hartnäckig hinter Premierminister Scharon, wenn dieser erklärt: “zuerst müssen die den Terror stoppen, dann fangen wir an zu verhandeln”. Also wappnen wir uns besser für die nächste Rekord-Welle des Terrors.

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Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel: "
Natural Terror"

Fundamentalistische Logik

von Amira Hass

Ha’aretz / ZNet 04.12.2002

Die (jüdischen) Siedler von Kiryat Arba haben mit tatkräftiger Unterstützung der ‘Zivilen Administration’ bzw. der IDF (Israelische Armee) ihr Versprechen eingelöst u. “territoriale Kontinuität zwischen Kiryat Arba u. dem Grab der Patriarchen” geschaffen. Weniger als drei Wochen, nachdem 12 (israelische) Soldaten bzw. israelische Sicherheitsleute einem tödlichen Anschlag des Islamischen Dschihad zum Opfer fielen, hat die angemessene Zionistische Antwort konkret Gestalt angenommen in Form von mobilen Siedlungen bzw. von Häuserdemolierungs-Befehlen. Aber jeder wusste, dass es so kommen würde. Viele palästinensische Familien sind aus ihren Wohnungen entlang der Route, die die jüdischen Siedlungen mit der Hebroner Altstadt verbindet, verschwunden. Angst vor den Siedlern hat sie vertrieben.

Häuser, viele hundert Jahre alt, wunderschöne architektonische Perlen (aber jetzt halb verfallen, da die Palästinenser nicht in der Lage sind, sie zu renovieren u. zu erhalten: man läßt die Palästinenser nicht, u. sie haben keine zivile Kontrolle in der Altstadtgebiet (von Hebron)) werden nun wohl vollends zerstört. Und wahrscheinlich schleift man auch einige der neueren Gebäude. Aber diese Art Nachricht verdampft schnell in einem Land, das so emsig ist - wenn man nicht gerade die Toten der Terrorattacken begräbt, hält man geschäftig Vorwahlen, sämtliche Parteien von Rechts bis Links tun das gerade.

Dass Premier Scharon seine Siedlungspläne in den besetzten Gebieten weiterführt - mit Hilfe seiner loyalen Siedlerarmee - was könnte daran schon “berichtenswert” sein? Selbst wenn einer der Siedlerführer, in dem Fall der Bürgermeister von Kiryat Arba, Zvi Katzover, seine geographisch- demographisch-militärische Vision, (die hinter seiner hartnäckigen Entschlossenheit bzw. der seiner Gesinnungsgenossen steckt) wie folgt erläutert: “Wenn der große Krieg anfängt und die Araber von hier wegrennen - früher oder später - sind wir es, die in die Häuser zurückkehren”. So Katzover gegenüber dem Reporter Benny Liss von ‘Channel One’ am 27. Nov.. Nur ein kurzer Satz u. doch so vielsagend. Er enthält gleich mehrere Informationen. Zunächst einmal ist von einem “großen Krieg” die Rede - wohl im Gegensatz zum “kleinen Krieg”, den wir die letzten Jahre schon erleben. Zweifellos ist mit “großer Krieg” ein Krieg in unserer Region gemeint, vielleicht ein Krieg zwischen Licht u. Dunkelheit, zwischen Islam u. Christenheit bzw. Judentum oder ein “Krieg der Zivilisationen” - dunkler Islam gegenüber dem im hellen Licht der Aufklärung erstrahlenden Westen. Anscheinend ist dieser Krieg ein unabwendbares Ereignis, u. es gibt (Katzovers Meinung nach) auch keinerlei Grund, ihn zu verhindern. Vielleicht wäre es ja direkt von Vorteil, wenn er endlich ausbräche (am Ende sollte man die Sache sogar beschleunigen) - vorausgesetzt, sie führt tatsächlich zu einem positiven Ergebnis u. die “Araber rennen weg”, (wie Katzover sagt). Zudem kann ich mir nicht vorstellen, dass Katzover “nur” von den Hebroner Palästinensern spricht. Denn der “große Krieg” wird wohl kaum ausschließlich über die alte Patriarchenstadt hinwegfegen. Gemäß dieser Logik gibt es nämlich nicht nur in Hebron sondern praktisch überall hierzuland jüdisches Land in der Hand von Fremden - sprich: von Nicht-Juden. Diese katastrophale Logik ist exakt mit jenen religiös-nationalistischen Überzeugungen übereinstimmend, von denen die Siedler-Pioniere seit nurmehr 35 Jahren gelenkt u. geleitet sind: der Glaube an das göttliche Versprechen, dieses Land sei dem Volk Israel geweiht. Aus all dem spricht eine Kombination aus Verschiedenem: Zum einen spricht daraus der Glaube an die unausweichliche göttliche Intervention zugunsten des jüdischen Volks (siehe jüdisch-fundamentalistische Auffassungen), zum andern der Glaube, es entspräche der Pflicht jedes Einzelnen, handelnd einzugreifen u. so das Eintreten jenes glücklichen Endes zu beschleunigen.

Aber diese katastrophale Logik lenkt nicht nur die Schritte der religiös-politischen Fundamentalisten auf jüdischer Seite: Diese Logik findet ihr Pendant auch in jener religiös-deterministischen Logik, die das Reservoir an palästinensischen Selbstmordattentätern so unterschöpflich macht, bzw. das Reservoir an denjenigen, die Bomben basteln oder Molotow-Cocktails auf Panzer schleudern, die durch palästinensische Städte rollen. Die Chance letzterer Leute, von einem Panzer getötet zu werden, ist zigmal höher als die Chance, dass das ‘Cocktail’ den Panzer tatsächlich durchschlägt. Rache als individuelles Motiv kommt hinzu - dass man einfach den Platz derjenigen Palästinenser einnehmen will, die im Zuge von IDF-Operationen verhaftet, verhört, getötet oder verwundet wurden. Weiteres Motiv: Man hat das Interesse verloren an einem Leben, das nicht mehr lebenswert ist - ein Motiv, das womöglich viel, viel mehr Menschen (Palästinenser) einschließt, als jetzt schon zum Selbstmordattentat entschlossen sind.

Die islamischen Organisationen, die sich diese Motivationslage zunutze machen, pflegen ihre eigene Endzeit-Vision. Auch sie sind der Meinung, dieses ‘Land’ sei gottverheißen - nur eben den Muslimen. Und auch sie verweisen auf die Schriften, um ihre Sache zu belegen. Auch sie sind der Überzeugung, das göttliche Vesprechen werde früher oder später eingelöst bzw. dass: “Gott denen hilft, die sich selber helfen” - was soviel heißen soll, wie: es hat keinen Sinn abzuwarten u. die Hände in den Schoß zu legen, bis das glückliche Ende naht. Derzeit wird einem nicht nur von jungen Leute aus Kreisen der Hamas oder des Islamischen Dschihad erklärt, der Tag sei nahe, an dem die gesamte islamische Welt sich zum Krieg gegen Israel rüste. Und auch hier ist von einem “großen Krieg” die Rede - schrecklich u. alles in Mitleidenschaft ziehend, aber an seinem Ende stehe die “Befreiung” des gelobten Lands. Religiöse Rhetorik dieser Art geben nun auch schon junge Leute aus der Fatah-Bewegung von sich. Denn je weniger ihnen das irdische Leben zu bieten hat, desto orthodoxer werden diese Jugendlichen. Je geschwächter die palästinensische Gesellschaft u. je mehr niedergerungen von den derzeitigen israelischen Militäroperationen desto stärker diese katastrophale palästinensisch-islamische Logik.

Das katastrophale jüdische Denken wiederum gründet einerseits in einem individuellen Gefühl der Hoffnungslosigkeit (angesichts der ewigen Sisyphos-Militäroperationen, die nie ihr Versprechen einlösen, den “Terror auszuschalten”). Andererseits hat dieses Denken aber auch mit unserer überstarken Armee zu tun, die mehr u. mehr auch die zivile Agenda bestimmt. Die Grenzen zwischen den nationalistischen u. religiösen Überzeugungen ihrer Kommandeure verschwimmen immer mehr - wobei diese Kommandeure auch immer seltener einen Hehl aus dieser Tatsache machen.

Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel: "
Fundamentalist Logic"

27.09.2002:
Alltägliche Vorkommnisse
von Amira Hass

Alltägliche Vorkommnisse

von Amira Hass

Ha’aretz / ZNet 25.09.2002

Letzten Donnerstagmorgen durchgruben wieder zwei gewaltige Bulldozer mit aller Macht die Erde. Sie tun dies schon seit Monaten - hier, in diesem Wadi (Tal) nördlich von Ramallah. Über die letzten beiden Jahre - seit Beginn der langsamen aber sicheren Sperre sämtlicher Westbank-Straßen (für den palästinensischen Verkehr) - war das Wadi zum wichtigen Knotenpunkt geworden, zum zentralen Knoten- punkt, über den täglich hunderte, wenn nicht gar tausende Menschen zu Fuß zwischen Ramallah u. den umliegenden Dörfern / dem Jalazun-Flüchtlingslager verkehrten. Sie kommen per Taxi am einen Ende des Wadi an, klettern zwischen Felsbrocken u. Staub hinunter ins Tal, um dann auf der andern Seite wieder hochzuklettern. Dort nimmt sie dann ein weiteres Taxi auf u. transportiert sie weiter. Das alles geht natürlich nur, solange keine israelischen Soldaten dort postiert sind - Soldaten mit Waffen, mit Gas- u. Schockgranaten, die die Menschen am Weitergehen hindern. Aber letzten Donnerstag hinderte ein Polizei-Jeep zusammen mit einem Militärlastwagen das Durchkommen. Es waren ohnedies nicht allzuviele Leute unterwegs. In Ramallah herrschte nämlich Ausgangssperre (schon vor der neuen Belagerung der Mukata (Arafats Amtssitz) bzw. deren Zerstörung hatte dort nämlich Ausgangssperre geherrscht). Eine einzelne Ambulanz - sie war auf der für Palästinenser verbotenen Straße mitten durch das Tal unterwegs -, wurde neben dem Polizei-Jeep angehalten u. durchsucht. Eine ältere Frau entstieg dem Krankenwagen. Unterstützt von einer jungen Frau machte sie sich jetzt daran, über die Felsen den nördlichen Abhang hochzuklettern. Hin u. wieder hielten die beiden an einem Felsblock an u. ruhten aus. Oben auf dem Nordabhang des Wadi hielt jetzt ein Auto. Ein Mann u. eine Frau in den Dreißigern - beides Ärzte - stiegen aus. Sie hatten einen Notruf aus dem Dorf Sinjal erhalten (das liegt etwa 10km nördlich von Ramallah). Nachts hätten sie dort auf keinen Fall hinfahren können, u. auch jetzt erwartete sie ein langer harter Tripp, der erstmal damit begann, dass sie an den (prüfenden) Augen der Polizeileute vorbeimussten - an deren Gewehrläufen. Überall waren die Bulldozer am Werk. Ein Zaun über die komplette Straße soll nämlich für die Zukunft allen Verkehr durch das Wadi stoppen: ein weiterer Schritt zur kompletten Abtrennung der Enklave Ramallah von der Außenwelt - zumal auch schon in südlicher Richtung ein Zaun errichtet ist.

Nach Warnungen des Geheimdiensts war es Montagnachmittag zur kompletten Abriegelung sämtlicher Straßen u. Wege zu den palästinensischen Quartieren in Nord-Jerusalem gekommen. Das Dorf Bir Naballah wurde unter Ausgangssperre gestellt. In einem großen Kindergarten, der im Dorf liegt - ungefähr 250 Kinder im Alter zwischen 3 u. 5 werden dort betreut -, entschlossen sich die Erzieher, die Kinder vorher noch rasch über A-Ram/Beit Hanina zu ihren besorgten Eltern nach Ost- Jerusalem zu fahren. Schließlich war unklar, wie lange die Ausgangssperre anhalten würde - u. wie soll man 250 kleine Kinder unter Lagerbedingungen ruhighalten? Die Kindergarten-Lehrer hatten gehofft, die Grenzpolizei davon überzeugen zu können, die kleinen Kinder durchzulassen - stattdessen wurden sie von der Polizei mit Tränengas- u. Schockgranaten beworfen u. das aus einer Entfernung von nur wenigen Metern, wie ein Erzieher mitteilte. Einige Polizisten hielten den Kindern außerdem ihre großen Hunde direkt vor die Nase. Das alles führte (bei den Kindern) zu einer Massenpanik. Eine Stellungnahme zu dem Vorfall war vonseiten des israelischen Armeesprechers bis Redaktionsschluss (der Ha’aretz) nicht zu erhalten.

Zwei Alltagsszenen - seit langem ist Derartiges keine Nachricht mehr wert, war es vielleicht noch nie, was aber nicht nur an den jüngsten Terroranschlägen in Tel Aviv bzw. Hebron liegen kann oder daran, dass in Gaza-Stadt gestern 9 Menschen bei einem Angriff der Israelischen Armee zu Tode kamen. Vielmehr ist es so: In Israel sind solche Vorfälle einfach keine Nachricht wert, weil sie zu alltäglich sind. Sie besitzen keinen “Nachrichtenwert”, weil sich in der israelischen Gesellschaft - u. daher auch in den Medien - ein ad hoc (Werte-)Katalog entwickelt hat, für den solche Vorfälle nur ein paar “ermüdende” Geschichten mehr über palästinensisches Leid darstellen - Leid, an dem die Palästinenser selber schuld seien. Nur was nicht in die Routine paßt - also das Massenelend der Palästinenser z.B. oder das anderer - scheint noch berichtenswert. Schließlich bestimmen hauptsächlich Politiker, die Eliten, das öffentliche Geschehen. Im Normalfall muss “Leiden” laut daherkommen, am besten noch gewalttätig - um Nachrichtenwert zu besitzen; nur dann kooperieren die Medien nämlich nicht mit den Herrschenden, verschweigen es nicht. Aber die Crux - vom professionellen (journalistischen) Standpunkt aus gesehen - besteht darin, dass es im Grunde nicht darum geh’n kann, ‘Leid’ zur Nachricht zu machen, also Mitleid zu erregen. Worum es vielmehr geh’n muss: Egal, ob es sich nun um das Leid der Palästinenser handelt, um das der Äthopier von mir aus oder um das (unserer) Kinder unterhalb der Armutsgrenze - immer geht es schlicht um Politik - um Regierungspolitik - die man am liebsten von der Öffentlichkeit fernhält; aber genau diese Öffentlichkeit wird langfristig davon betroffen sein. Polizei-Tränengasgranaten auf kleine Kinder, Ärzte, die man nicht zu den Kranken in die Dörfer durchläßt - das alles stellt von oben verordnete Politik dar - selbst wenn Premierminister Scharon natürlich nicht über jeden Vorfall Bescheid weiß u. nicht jeden einzelnen Tränengaskanister persönlich abzeichnet, nicht jede Behinderung ärztlicher Versorgung einzeln genehmigt. Aber je weniger man über diese Art Politik in Israel Bescheid weiß, desto weniger werden natürlich Fragen gestellt über deren Langzeitauswirkungen. Die beiden Ärzte konnten in jener Nacht nicht in das Dorf gelangen, u. die kleinen Kinder sind gestern nicht in ihren Kindergarten zurückgekehrt - aus Panik vor den Tränengasgranaten u. den Hunden. Aber ihr Leiden u. ihre Wut werden andere dazu bringen, Rache zu üben - Leute irgendwelcher Art, die ohnehin schon beschlossen haben zu sterben. Sie fühlen sich durch derartige Vorfälle angestachelt - trotz der offiziellen Appelle, keine israelischen Zivilisten mehr anzugreifen. Und kein Zaun, kein noch so abgeriegelter Checkpoint - auch kein Tränengas - werden sie daran hindern.

Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel: "
Everyday Occurences"

Warum die Mainstreammedien "Mainstream" sind

von Noam Chomsky

Z Media Institute 15.07.1997

Ich schreibe unter anderem deshalb über die Medien, weil ich mich für das intellektuelle Klima insgesamt interessiere und weil die Medien der Bestandteil dieses Klimas sind, der am leichtesten zu untersuchen ist. Bei den Medien gibt es einen täglichen Output, wodurch eine systematische Untersuchung möglich wird. Man kann die Version von gestern mit der von heute vergleichen. Es gibt eine Menge Material, anhand dessen man sehen kann, was die Medien in den Vordergrund rücken, was sie ausblenden und wie die Struktur dieses Prozesses aussieht.

Meines Erachtens besteht zwischen der Analyse der Medien und der des Wissenschaftsbetriebs oder der Intellektuellenzeitschriften kein großer Unterschied - man muß einige zusätzliche Mechanismen berücksichtigen, aber davon abgesehen besteht kein radikaler Unterschied. Diese Bereiche stehen in enger Verbindung miteinander, und deshalb wechseln die Leute auch ziemlich leicht zwischen ihnen hin und her.

Wenn man die Medien oder eine beliebige Institution verstehen will, stellt man sich zunächst einmal Fragen nach ihrer inneren Struktur. Zweitens wird man sich dafür interessieren, welche Rolle sie im Rahmen der Gesamtgesellschaft spielen: In welcher Beziehung stehen sie zu anderen Systemen von Macht und Autorität? Und schließlich gibt es, wenn man Glück hat, Akten und Aufzeichnungen führender Leute im Mediensystem, aus denen man erfahren kann, welche Ziele sie verfolgen. Das ist wichtig, da wir es mit einem ideologischen System zu tun haben. Ich meine natürlich nicht die üblichen Public-Relations-Veröffentlichungen, sondern das, was diese Leute sich gegenseitig über ihre Absichten mitteilen. Und was das betrifft, gibt es eine Menge interessantes Material.

Das sind drei wichtige Informationsquellen, wenn wir etwas über die Natur der Medien erfahren wollen. Wir sollten die Medien auf dieselbe Art untersuchen, wie ein Naturwissenschaftler ein komplexes Molekül oder einen sonstigen Gegenstand studieren würde. Dabei sieht man sich die Struktur der Medien an, um auf dieser Basis eine Hypothese darüber aufzustellen, wie das Produkt, das die Medien herstellen, wahrscheinlich aussehen wird. Dann untersucht man den Medienoutput und überprüft, inwieweit er den aufgestellten Hypothesen entspricht. Medienanalysen bestehen in der Regel fast ausschließlich aus diesem letzten Teil - aus dem Versuch, die Produkte der Medien ganz einfach sorgfältig zu studieren und herauszufinden, ob sie so aussehen, wie es sehr plausible Annahmen über Wesen und Struktur der Medien voraussagen.

Was finden wir dabei heraus? Nun, zunächst einmal, daß es natürlich verschiede Medienbereiche gibt, die sich mit verschiedenen Dingen beschäftigen. Da gibt es die Unterhaltungsindustrie und Hollywood, Seifenopern und ähnliche Sendungen, und die überwältigende Mehrheit der Zeitungen des Landes gehört ebenfalls in diese Kategorie, die für das Massenpublikum gedacht ist.

Daneben gibt es einen weiteren Mediensektor, nämlich die Elitemedien, die manchmal auch als die trendbestimmenden Medien bezeichnet werden, weil sie über die größten Mittel verfügen und den thematischen Rahmen abstecken, an den alle anderen sich halten müssen. Das sind Unternehmen vom Kaliber der New York Times und von CBS. Sie bedienen zum größten Teil die privilegienen Schichten. Leute, die die New York Tirnes lesen, also Leute mit einem gewissen Einkommen oder Angehörige dessen, was manchmal als die politische Klasse bezeichnet wird, sind tatsächlich auf beständiger Basis am politischen System beteiligt. Sie gehören zur Managerschicht. Dabei kann es sich um Politiker, Wirtschaftsmanager wie die Topleute der Großkonzerne, akademisches Führungspersonal wie Universitätsprofessoren oder auch um Journalisten anderer Medienunternehmen handeln, die sich ebenfalls damit befassen, das Denken und die Weltsicht der Medienkonsumenten zu beeinflussen.

Die Elitemedien stecken den Rahmen ab, in dem die restlichen Medien operieren. Wenn man sich Agenturen wie Associated Press ansieht, die eine permanente Nachrichtenflut ausstoßen, stellt sich heraus, daß dieser Strom vermischter Nachrichten jeden Nachmittag durch die Meldung unterbrochen wird: "An die Redaktionen: auf der Titelseite der New York Times werden morgen folgende Berichte erscheinen." Wenn man beispielsweise Redakteur einer Zeitung in Dayton, Ohio ist und nicht über die Ressourcen verfügt oder sich sowieso nicht die Mühe machen will, selbst an wichtige Nachrichten heranzukommen, erfährt man auf diesem Weg, was als "Nachricht" zu gelten hat, Damit wird dann die Viertelseite gefüllt, die für andere Themen als für Lokalberichte und Unterhaltung reserviert ist. Diese Berichte werden dann als Nachrichten von nationaler Bedeutung gebracht, weil die New York Times uns sagt, daß das die wichtigen Themen des morgigen Tages sind. Als kleiner Redakteur in Dayton, Ohio hat man kaum eine andere Wahl, als es so zu machen, weil man nicht über viele andere Möglichkeiten verfügt, an Nachrichten heranzukommen. Wenn man vom vorgeschriebenen Weg abweicht und Berichte bringt, die den Unwillen der großen Zeitungen gen erregen, wird man das ziemlich bald zu spüren bekommen. Die jüngsten Vorfälle bei den San Jose Mercury News [vgl. S. 119, Anmerkung - d. Ü.] sind nur ein besonders dramatisches Beispiel dafür. Es gibt eine Menge von Machtmechanismen, durch die jemand, der aus der Reibe tanzt, wieder auf Linie gebracht werden kann. Wenn man versucht, das Regelwerk des Systems zu sprengen, wird man sich nicht lange darin halten können. All das funktioniert recht gut, und es ist nicht schwer zu erkennen, daß sich darin lediglich ganz offenkundige Machtverhältnisse äußern.

Die Massenmedien im eigentlichen Sinn haben im wesentlichen die Funktion, die Leute von Wichtigerem fernzuhalten. Sollen die Leute sich mit etwas anderem beschäftigen, Hauptsache, sie stören uns nicht (wobei "wir" die Leute sind, die das Heft in der Hand halten). Wenn sie sich zum Beispiel für den Profisport interessieren, ist das ganz in Ordnung. Wenn jedermann Sport oder Sexskandale oder die Prominenten und ihre Probleme unglaublich wichtig findet, ist das okay. Es ist egal, wofür die Leute sich interessieren, solange es nichts Wichtiges ist. Die wichtigen Angelegenheiten bleiben den großen Tieren vorbehalten: "Wir" kümmern uns darum.

Welches sind die Elitemedien, die die Tagesordnung für den Rest festlegen? Nun, zum Beispiel solche wie die New York Times und CBS. Das sind zuallererst einmal große, sehr profitable Kapital gesellschaften. Darüber hinaus haben die meisten von ihnen enge Verbindungen zu weit größeren Konzernen wie General Electric, Westinghouse oder gehören direkt dazu. Sie mischen ganz oben in der Machtstruktur der Privatwirtschaft mit, und diese Struktur ist extrem tyrannisch. Die großen Kapitalgesellschaften sind strukturell gesehen Tyranneien: sie sind hierarchisch und werden von der Spitze aus kontrolliert. Und wer sich damit nicht abfinden will, fliegt raus.

Die großen Medien sind einfach einer der Bestandteile dieses Systems. Welche institutionellen Strukturen haben die Medien selbst? Nun, mehr oder weniger dieselben wie andere Unternehmen. Die Institutionen, mit denen die Medien im Rahmen ihrer Aktivität zu tun haben und mit denen sie in Verbindung stehen, sind ihrerseits bedeutende Zentren gesellschaftlicher Macht - die Regierung, die Großunternehmen oder auch die Universitäten. Aufgrund ihrer ideologischen Funktion unterhalten die Medien enge Beziehungen zu den Universitäten. Nehmen wir einen Journalisten, der einen Bericht über Südostasien oder Afrika oder was auch immer schreibt. Es ist recht wahrscheinlich, daß er sich an eine der großen Universitäten wenden wird, um sich dort bei einem Experten kundig zu machen, oder er kann mit seinen Fragen zu einer der Stiftungen wie dem Brookings Institute oder dem American Enterprise Institute gehen, und sie werden ihm dann die richtigen Stichworte geben. Die Funk- tionsweise solcher Institutionen ist der der Medien sehr ähnlich.

So sind zum Beispiel die Universitäten keineswegs unabhängige Institutionen. Man findet in ihnen zwar hier und da unabhängig gesinnte Geister, aber das gilt auch für die Medien. Solche Leute gibt es im allgemeinen auch in den Großunternehmen, ja, sogar in faschistischen Staaten. Aber die Universitäten sind letztlich "parasitäre" Institutionen. Sie sind auf Finanzierung von außen angewiesen, und die Quellen dieser Unterstützung - reiche Mäzene, Großunternehmen und Staat (die beide so eng miteinander verflochten sind, daß man sie kaum auseinanderhalten kann) - stecken im wesentlichen den Rahmen ab, innerhalb dessen die Universitäten operieren. Wer sich der internen Struktur der Universitäten nicht anpaßt, sie nicht in dem für eine reibungsfreie Arbeit innerhalb des Systems notwendigen Maß akzeptiert und internalisiert, wird im Verlauf von Erziehung und Ausbildung mehr und mehr aus dem System hinausgedrängt, ein Prozeß, der letztlich schon im Kindergarten beginnt und dann ununterbrochen weitergeht. Es gibt alle möglichen Arten von Filtermechanismen, um Leute loszuwerden, die sich querstellen und unabhängig denken. Jeder, der auf dem College war, weiß, wie sehr das Erziehungssystem auf die Belohnung von Konformität und Gehorsam ausgelegt ist: Wer sich nicht anpaßt, ist eben ein Quertreiber. Und aufgrund des Wirkens dieser Filtermechanismen bleiben schließlich Leute übrig, die in aller Aufrichtigkeit ein System von Überzeugungen und Meinungen übernehmen, das den Interessen der gesellschaftlich Mächtigen, mit denen sie zu tun haben, entspricht. Sie brauchen nicht zu lügen, weil sie selbst daran glauben. Elitein stitutionen wie zum Beispiel Harvard und Prineeton und die kleinen Colleges mit Universitätscharakter legen großen Wert auf Sozialisation. In einer Institution wie Harvard geht es zum größten Teil darum, die richtigen Manieren zu lernen: wie man sich als Mitglied der Oberschicht zu verhalten hat, wie man in seinem Denken nicht vom richtigen Weg abweicht und so weiter.

Mitte der vierziger Jahre schrieb George Orwell als Satire auf einen totalitären Staat, nämlich die Sowjetunion, seinen Roman Animal Farm, der damals ein großer Erfolg war. Alle Welt war begeistert. Später stellte sich heraus, daß er eine Einleitung zu Animal Farm geschrieben hatte, die aber nicht gedruckt wurde. Sie erschien erst dreißig Jahre später, als sie in seinem Nachlaß gefunden wurde. Thema dieser Einleitung war die "Literarische Zensur in England". Orwell sagt dort, daß er sich in seinem Buch natürlich über die Sowjetunion und ihre totalitäre Struktur lustig macht. Aber außerdem schreibt er auch, daß England sich gar nicht so sehr davon unterscheidet. Im Westen werden wir nicht auf Schritt und Tritt von einem KGB kontrolliert, aber das Resultat ist doch weitgehend dasselbe. Wer in seinem Denken zu unabhängig ist oder auf die falschen Gedanken kommt, bekommt keine Chance, seine Ideen zu verbreiten.

Außerdem macht er einige kurze Bemerkungen über die institutionelle Struktur der Medien. Er fragt: Wie kommt es zu dieser Art von Zensur? Ihm zufolge liegt das erstens daran, daß die Presse den Reichen gehört, denen es lieber ist, wenn bestimmte Dinge nicht das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Zweitens, so Orwell, lernt man im Rahmen des Erziehungs- und Ausbildungssystems der Elite, zum Beispiel an renommierten Universitäten wie der von Oxford, daß es gewisse Dinge gibt, die man besser nicht erwähnt, daß es gewisse Gedanken gibt, die man besser nicht zuläßt. Damit meint er die sozialisierende Rolle der Eliteinstitutionen: Wenn man sich hier nicht anpaßt, hat man in der Regel schon verloren. Und mit diesen wenigen Bemerkungen ist das Wesendiche eigentlich schon gesagt.

Wenn man Medienkritik betreibt und sich zum Beispiel mit dem beschäftigt, was Anthony Lewis - oder irgend jemand anders - geschrieben hat, werden die jeweiligen Leute oft sehr wütend. Sie sagen dann ganz richtig: "Niemand sagt mir jemals, was ich zu schreiben habe. Ich schreibe alles, was ich will. Dieses ganze Geschwätz über Druck und Einschränkungen ist Unfug, weil keiner je irgendwelchen Druck auf mich ausübt."Und das ist völlig richtig, nur daß es hier um etwas ganz anderes geht, nämlich um die Tatsache, daß sie ihre Position gar nicht inne hätten, wenn sie nicht vorher schon unter Beweis gestellt hätten, daß niemand ihnen sagen muß, was sie schreiben sollen. Es ist längst klar, daß sie das genau wissen. Wenn sie sich als angehende Reporter für die verkehrte Art von Geschichten interessiert hätten, hätten sie es nie zu Positionen gebracht, in denen sie sagen können, was sie wollen. Dasselbe gilt weitgehend auch für die Universitätsdozenten in den stärker ideologisch gefärbten Fächern. Sie haben eine erfolgreiche Sozialisation hinter sich.

Als erstes sieht man sich also die Struktur des gesamten Systems an. Was erwartet man angesichts dieser Struktur als Resultat? Das ist eigentlich recht offensichtlich. Nehmen wir zum Beispiel die New York Times. Die New York Times ist ein Großunternehmen, das ein Produkt verkauft. Das Produkt sind die Leser. Das Unternehmen verdient sein Geld nicht mit dem Verkauf seiner Zeitung. Die Zeitung selbst wird sogar kostenlos ins Internet gesetzt. Tatsächlich verliert das Unternehmen heim Verkauf der Zeitung sogar Geld. Wie auch immer, die Leser sind das Produkt, und sie gehören genau wie die Leute, die die Zeitung machen, zu den höheren, privilegierten Schichten, denen, die in unserer Gesellschaft die Entscheidungen treffen. Für ein Produkt braucht man einen Markt, und dieser Markt sind natürlich die Werbekunden der Zeitung, mit anderen Worten, andere Wirtschaftsunternehmen. Das Produkt der Medien, ganz gleich, ob wir vom Fernsehen, den Zeitungen oder anderen Medien sprechen, ist immer das jeweilige Publikum. Unternehmen verkaufen ihr jeweiliges Publikum an andere Unternehmen. Und im Fall der Elitemedien handelt es sich dabei um Großunternehmen.

Mit was für einem Resultat ist also zu rechnen? Wie wird das Medienprodukt angesichts dieser Umstände aussehen? Was für Voraussagen würde man machen, wenn man den bisher zugrunde gelegten Annahmen keine weiteren hinzufügt, oder anders gesagt, was wäre eine vernünftige Nullhypothese? Die nächstliegende Vermutung wäre dann, daß das Medienprodukt, das heißt, die Auswahl dessen, was in den Medien vorkommt und wie es vorkommt, die Interessen der Käufer und der Verkäufer des Produkts sowie der Institutionen und Machtzentren, unter deren Einfluß sie stehen, widerspiegelt. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn das nicht der Fall wäre.

Danach kommt dann der aufwendige Teil der Arbeit. Stellen sich die gemachten Vorhersagen als richtig heraus? Das läßt sich mittlerweile überprüfen. Es liegt inzwischen eine Menge an Material zur Beurteilung der genannten naheliegenden Hypothese vor; sie ist den rigorosesten Tests unterzogen worden, die man sich denken kann, und hat sie in bemerkenswerter Weise bestanden. Man stößt in den Sozialwissenschaften fast nie auf Resultate, die eine bestimmte Vermutung derart stark unterstützen, aber das ist auch nicht sehr überraschend, da alles andere angesichts der in diesem Fall wirksamen Kräfte einem Wunder gleichkäme.

Als nächstes entdeckt man dann, daß das gesamte Thema vollkommen tabu ist. Wenn man zum Beispiel an der Kennedy School für Staatswissenschaft oder in Stanford Journalismus, Kommunikationswissenschaft oder Politik studiert, ist es kaum wahrscheinlich, daß man mit diesen Fragen konfrontiert wird. Das heißt, genau die Hypothese, auf die jeder, ohne überhaupt etwas über das Thema zu wissen, von sich aus kommen würde, kann dort nicht einmal in Erwägung gezogen werden, und es ist unmäglich, das Beweismaterial, das für sie spricht, zu diskutieren. Leider ist auch das genau das, was man erwarten würde. Angesichts der Struktur dieser Institutionen ist leicht vorherzusehen, daß es so laufen wird. Warum sollte es Leuten, die aktiver Bestandteil dieser Strukturen sind, gefallen, wenn ihre Rolle innerhalb dieser Strukturen sichtbar gemacht wird? Warum sollten sie eine kritische Analyse ihrer Vorstellungen und Ziele dulden? Es gibt keinen Grund, warum sie etwas derartiges zulassen sollten, und sie tun es auch nicht. Auch in diesem Fall handelt es sich nicht um absichtliche Zensur, sondern darum, daß diese Leute gar nicht erst in ihre Positionen gelangen würden, wenn sie nicht von dem überzeugt wären, was sie tun. Und das gilt für die sogenannte Linke ebenso wie für die Rechte. Um es in diesem System zu etwas bringen zu können, muß man die richtige Sozialisation und Erziehung genossen haben, die dann falschen Gedanken und Ideen einen Riegel vorschieben. Wir können folglich aufgrund unserer Überlegungen eine zweite Prognose aufstellen, nämlich die, daß unsere erste Prognose innerhalb der bestehenden ideologischen Institutionen nicht diskutiert werden kann.

Schließlich müssen wir uns noch das doktrinäre Rüstzeug ansehen, mit dem die für das Funktionieren dieses Systems Verantwortlichen operieren. Kommt in dem, was die Topmanager des Informationssystems (der Medien, der Werbeindustrie, der politischen Wissenschaft usw.) sagen, wenn sie zu ihresgleichen sprechen, eine Vorstellung darüber zum Ausdruck, wie das System funktionieren sollte? In der Öffentlichkeit, bei akademischen Feiern und dergleichen mehr ist natürlich immer von allen möglichen wunderbaren Dingen die Rede. Aber was sagen diese Leute über die Aufgaben des Informationssystems, wenn sie unter sich sind?

Es gibt hier drei wichtige Bestandteile des Systems, die man sich ansehen sollte. Erstens haben wir die Public-Relations- Industrie, das heißt, die Propagandamaschine der Geschäftswelt. Was sagen also die Topmanager der PR-Industrie? Zweitens sollten wir uns ansehen, was die sogenannten "in der Offentlichkeit stehenden" Intellektuellen, die großen Denker, die Verfasser der Meinungsseiten in den Zeitungen sagen - all die Leute, die hochbedeutende Bücher über das Wesen der Demokratie und ähnliches mehr schreiben? Als Drittes sollte man den akademischen Bereich untersuchen, besonders diejenigen Aspekte der Kommunikations- und Informationswissenschaften, die schon seit etwa 70 bis 80 Jahren integraler Bestandteil der Politikwissenschaft sind.

Das sind also drei Bereiche, in denen man einmal darauf achten sollte, was ihre Vertreter so von sich geben und sich ansehen kann, was die führenden Leute geschrieben haben. Wie sich herausstellt, sagen die wichtigen Leute in diesen Bereichen alle im wesentlichen das gleiche (ich zitiere im folgenden zum Teil wörtlichlich): Bei der Masse der Bevölkerung handelt es sich nur um "unwissende und lästige Außenseiter", die man aus der öffentlichen Arena heraus halten muß, weil sie zu dumm sind und nur Schwirigkeiten machen würden, wenn sie sich daran beteiligten. Die gewöhnlichen Leute sollen "Zuschauer" nicht "Teilnehmer" sein.

Sie dürfen alle paar Jahre wählen gehen und ihre Stimme für jemanden von uns, jemanden aus der dafür qualifizierten Schicht abgeben. Aber dann sollen sie wieder nach Hause gehen und sich mit etwas anderem beschäftigen. Mit der Baseball-Liga oder was auch immer. Hauptsache, die "unwissenden und lästigen Außenseiter" bleiben passive Beobachter, statt selbst am politischen Geschehen teilzunehmen. Die Mitspieler im System dagegen sind sogenannte "Verantwortungsträger" und auch der jeweilige Autor gehört natürlich immer zu dieser Gruppe. Die Frage, weshalb er selbst zu den "Verantwoitungsträgern" gehört, während ein anderer im Gefängnis sitzt, kommt ihm nicht in den Sinn. Dabei ist die Antwort ziemlich einfach. Er gehört dazu, weil er gehorsam ist und sich der Macht unterordnet, während derjenige im Gefdngnis sich vermutlich auf die ein oder andere Art geweigert hat, sich zu fügen. Aber solche Fragen stellt man sich in so einer Position natürlich nicht. Also haben wir einerseits die qualifizierte Schicht derer, die dazu berufen sind, das Heft in der Hand zu halten, und dann noch den Rest, der von der Verwaltung der Dinge ausgeschlossen ist. Außerdem sollten wir uns nicht - und jetzt zitiere ich wieder aus einem akademischen Essay zu diesem Thema - auf das "demokratische Dogma" versteifen, "nach dem die Menschen ihre Interessen selbst am besten beurteilen können". Dem ist keineswegs so: in Wirklichkeit sind sie absolut unfähig dazu, und daher erweisen wir sowohl ihnen als auch der Gesellschaft einen großen Dienst, wenn wir das für sie übernehmen.

Tatsächlich gibt es hier eine starke Ähnlichkeit mit dem Leninismus. Wir handeln an deiner Stelle, im gemeinsamen Interesse aller usw. Das ist vermutlich auch einer der Gründe dafür, weshalb sich im Verlauf der Geschichte viele Leute relativ problemlos aus glühenden Stalinisten in überzeugte Unterstützer des Machtanspruchs der USA verwandelt haben. Dabei erfolgt der Wechsel von der einen Position zur anderen oft sehr rasch, und ich denke, daß das ganz einfach daran liegt, das beide Positionen im großen und ganzen auf dasselbe hinauslaufen. Eigentlich verändert sich nur die Einschätzung darüber, welche Haltung einen der Teilhabe an der Macht näherbringt. Erst setzt man auf das eine, dann auf das andere Pferd, aber das Ziel, das man selbst damit anstrebt, ändert sich nicht.

Wie hat sich diese Art von Ideen zu ihrer heutigen Form entwickelt? Das ist eine interessante Geschichte - sie hat viel mit dem Ersten Weltkrieg zu tun, der in vielerlei Hinsicht zu einschneidenden Veränderungen führte. Er brachte einen beträchtlichen Wandel in der Position der Vereinigten Staaten in der Welt mit sich. Schon im 18. Jahrhundert waren die USA die reichste Region der Welt. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts kam nicht einmal die britische Oberschicht an den US-amerikanischen Standard hinsichtlich Lebensqualität, Gesundheit und Lebenserwartung heran (von dem die übrige Welt ohnehin nur träumen konnte). Die USA waren enorm reich, verfügten über gewaltige Vorteile und waren schon Ende des 19. Jahrhunderts mit großem Abstand das wirtschaftlich bedeutendste Land der Welt. Aber als Weltmacht spielten sie noch keine große Rolle. Ihre Macht erstreckte sich damals auf die Karibik und Teile des Pazifik, aber nicht viel weiter.

Der Erste Weltkrieg brachte eine Veränderung dieser Beziehungen. Und im Zweiten Weltkrieg änderten sie sich noch mehr. Danach waren die Vereinigten Staaten mehr oder weniger Herrscher über die gesamte Welt. Aber schon nach dem Ersten Weltkrieg waren sie weitaus mächtiger als zuvor und verwandelten sich aus einem Schuldner- in ein Gläubigerland. An Großbritannien kamen sie noch nicht heran, aber damals begannen sie, weltweit eine wichtige Rolle zu spielen. Aber das war nicht die einzige Veränderung.

Im Ersten Weltkrieg gab es zum erstenmal eine hochorganisierte staatliche Propaganda. Die Briten richteten ein Informationsministerium ein. Das war auch eine dringliche Notwendigkeit, denn Großbritannien war darauf angewiesen, die USA in den Krieg hineinzuziehen, da es ohne den Kriegseintritt der USA in große Schwierigkeiten geraten wäre. Das Informationsministerium beschäftigte sich hauptsächlich mit der Verbreitung von Propaganda, nicht zuletzt mit der Fabrikation einer Flut von Fälschungen über Greueltaten der "Hunnen" und ähnlichen Projekten. Eine der Hauptzielscheiben dieser Propaganda waren die amerikanischen Intellektuellen. Dem lag die durchaus vernünftige Annahme zugrunde, diese würden am leichtgläubigsten sein und am ehesten auf die Propaganda hereinfallen. Ihnen war zugleich die Aufgabe zugedacht, die Propaganda über die ihnen in Amerika zur Verfügung stehenden Kanäle weiterzuverbreiten. Dementsprechend war die Arbeit des Informationsministeriums hauptsächlich auf die amerikanischen Intellektuellen abgestimmt, und diese Strategie funktionierte ausgezeichnet. Ein Großteil der Dokumente des Ministeriums ist inzwischen öffentlich zugänglich, und die Dokumente zeigen, daß diese Kampagne das bescheidene Ziel verfolgte, das Denken der ganzen Welt zu kontrollieren - vor allem aber das der USA. Was man in Indien dachte, spielte demgegenüber natürlich keine sonderlich große Rolle. Das Informationsministerium war sehr erfolgreich darin, prominente amerikanische Intellektuelle hinters Licht zu führen und dazu zu bringen, die Fälschungen der britischen Propaganda zu akzeptieren. Die Briten waren damals sehr stolz auf diesen Erfolg, und das nicht von ungefähr, denn so konnten sie eine Niederlage Großbritanniens abwenden, das den Ersten Weltkrieg ohne den Kriegseintritt der USA verloren hätte.

Zur selben Zeit wurde in den USA ein Gegenstück zum britischen Informationsministerium geschaffen. 1916 wurde Woodrow Wilson auf der Grundlage eines Anti-Kriegs-Programms zum Präsidenten gewählt. Die Stimmung in den USA war sehr pazifistisch. Das hat in den USA eine lange Tradition. Die Leute wollen keine Kriege in anderen Ländern führen. Der Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg wurde heftig abgelehnt, und Wilson wurde aufgrund seiner Stellungnahme gegen den Krieg gewählt. Er war mit dem Slogan "Frieden ohne Sieg" zur Wahl angetreten. Aber er strebte von Anfang an eine Beteiligung am Krieg an. Daraus ergab sich das Problem, eine pazifistisch gestimmte Bevölkerung in lauter verrückte antideutsche Fanatiker zu verwandeln, die am liebsten alle Deutschen umgebracht hätten. So etwas geht nicht ohne Propaganda, und so gründete die Regierung die erste - und im übrigen auch einzige - große staatliche Propagandainstitution der US-Geschichte. Sie hieß offiziell "Komitee zur Information der Öffentlichkeit" und wurde auch die "Creel-Kammission" genannt. Ihre Aufgabe bestand darin, durch die Verbreitung von Propaganda eine hurrapatriotische Hysterie in der Bevölkerung auszulösen. Das Ganze war ein unglaublicher Erfolg. Binnen weniger Monate herrschte eine hemmungslose Kriegshysterie, und dem Kriegseintritt der USA stand kein Hindernis mehr entgegen.

Von dieser Leistung waren viele Leute höchst beeindruckt. Einer davon war Hitler, was später seine Folgen haben sollte. In Mein Kampf zieht er den nicht ganz unberechtigten Schluß, Deutschland sei im Ersten Weltkrieg besiegt worden, weil es den Propagandakrieg verloren habe. Deutschland konnte mit der britischen und amerikanischen Propaganda, die sich als vollkommen übermächtig erwies, nicht einmal ansatzweise mithalten. Hitler kündigte an, beim nächsten Mal werde Deutschland seine eigene Propagandamaschinerie haben, und so war es im Zweiten Weltkrieg dann auch. Für uns heute von noch größerer Bedeutung ist der tiefe Eindruck, den diese britische Propagandaanstrengung auf die amerikanische Geschäftswelt machte, die damals vor einigen Problemen stand: Es gab zumindest formal mehr demokratische Rechte als früher, der Kreis der Wahlberechtigten war erweitert worden, das Land wurde reicher, mehr Menschen hatten die Möglichkeit, am System teilzunehmen, es gab viele neue Einwanderer und so weiter.

Was sollten die herrschenden Schichten angesichts dieser Entwicklungen tun? Es war nun schwieriger, das Land wie einen Privatklub zu verwalten, Es war jetzt viel wichtiger als früher, zu kontrollieren, was die Leute denken. Public-Relations-Spezialisten hatte es zwar schon hier und da gegeben, aber die PR-Industrie, wie wir sie kennen, gab es noch nicht. Unternehmen wie Rockefeller stellten vielleicht Leute ein, um das Image der Firma aufzupolieren, aber die riesenhafte moderne PR-Industrie in ihren gigantischen heutigen Dimensionen wurde erst damals in den USA erfunden und war ein direktes Resultat des Ersten Weltkriegs. Führend in der PR-Industrie waren Leute, die sich schon an der Creel-Kommission beteiligt hatten. Die bedeutendste dieser Figuren, Edward Bernays, stützte sich in seiner Tätigkeit direkt auf die Erfahrungen aus der Creel- Kommission. Nach dem Ersten Weltkrieg schrieb er ein Buch mit dem Titel Propaganda. Der Ausdruck "Propaganda" hatte damals übrigens noch keinen negativen Beigeschmack. Er wurde erst im Zweiten Weltkrieg zum Tabu, da er mit Deutschland und somit dem Feind in Verbindung gebracht wurde. Aber davor bedeutete "Propaganda" nichts weiter als so etwas wie "Information". 1925 kam also Bernays' Buch Propaganda heraus, und gleich zu Anfang heißt es dort, das Buch mache sich die Lehren des Ersten Weltkriegs zunutze. Bernays schrieb, das Propagandasystem des Ersten Weltkriegs und die Creel-Koonmission, an der er beteiligt gewesen war, hätten gezeigt, daß man "das Denken der Öffentlichkeit ganz genauso dirigieren" kann "wie eine Armee die Körper ihrer Männer dirigiert". Diese neuen Techniken der Reglementierung des Geistes sollten, wie er schrieb, von intelligenten Minderheiten genutzt werden, um dafür zu sorgen, daß der Pöbel nicht auf falsche Gedanken kommt. Mittels der neuen Techniken der Gedankenkontrolle sei dies jetzt ohne weiteres möglich.

Dieses Buch ist das grundlegende Werk der Public-Relations- Industrie, und Bernays ist so etwas wie ihr Prophet. Er war ein authentischer Liberaler im Stil Roosevelts oder der Kennedys. Er koordinierte unter anderem die PR-Anstrengungen zugunsten des von den USA unterstützten Putsches, durch den 1954 die demokratisch gewählte Regierung Guatemalas gestürzt wurde.

Der große Coup, durch den er Ende der zwanziger Jahre wirklich berühmt wurde, war es, Frauen das Rauchen schmackhaft zu machen. Frauen rauchten damals im allgemeinen nicht, und Bernays dirigierte die große Werbekampagnen für Chesterfield Zigaretten. Die Methoden sind ja bekannt - Models und Filmstars mit Zigarette im Mund usw. Dafür heimste er enornies Lob ein. Er stieg zur führenden Figur der PR-Industrie auf, und sein Buch wurde gewissermaßen zur Bibel der Branche.

Ein weiteres Mitglied der Creel-Kommission war Walter Lipp- mann, der ein halbes Jahrhundert lang die angesehenste Figur des anspruchsvollen amerikanischen Journalismus war. Neben seiner journalistischen Tätigkeit schrieb er Essays über die Demokratie, die zumindest damals, in den zwanziger Jahren, als "progressiv" galten. In diesen Essays sprach auch er sich explizit dafür aus, die Erfahrungen anzuwenden, die mit Propaganda gesammelt worden waren. Er sagte, die Demokratie habe eine neue Kunst hervorgebracht, die er selbst die "Fabrikation von Konsens" nannte. Edward Herman und ich haben diesen Ausdruck für den Titel unseres Buches geborgt, aber geprägt wurde er von Lippmann. Ihm zufolge gibt es jetzt diese neue Kunst demokratischen Regierens, nämlich die "Fabrikation von Konsens". Durch die Fabrikation von Konsens kann man die Tatsache neutralisieren, daß viele Menschen ein formales Wahlrecht genießen. Die politischen Führer können letzterem jede Bedeutung nehmen, da sie ja in der Lage sind, Konsens zu fabrizieren und so die Wahlmöglichkeiten und Einstellungen der Menschen derart zu beschränken, daß sie letztlich immer nur gehorsam tun werden, was man ihnen sagt, obwohl sie formal, z. B. über die Wahlen, selbst am System teilhaben. So sieht laut Lippmann eine echte Demokratie aus, die funktioniert, wie es sich gehört. Das ist die Lehre, die er aus den bisherigen Erfahrungen mit Propaganda zieht.

Auf dieselben Erfahrungen stützt sich auch die akademische Sozial- und Politikwissenschaft. Der Begründer der kommunikationstheoretisch orientierten Politikwissenschaft war Harold Lasswell. Sein wichtigstes Werk ist eine Studie über Propaganda in der Encyclopedia of Social Sciences. Darin sagt er ganz offen genau die Dinge, die ich vorhin zitiert habe, wie zum Beispiel, daß man sich nicht auf demokratische Dogmen versteifen dürfe. Postulate wie diese entstammen der akademischen Politikwissenschaft, wie sie von Lasswell und anderen konzipiert wurde. Auch in dieser Hinsicht wurden die Lehren aus den Erfahrungen der Kriegszeit gezogen, und zwar nicht nur in der politischen Wissenschaft, sondern auch von den politischen Parteien, besonders der Konservativen Partei in England. Deren Dokumente aus dieser Zeit, die derzeit gerade veröffentlicht werden, zeigen, daß die Konservativen die Leistung des britischen Informationsministenums sehr zu schätzen wußten. Ihnen war klar, daß England sich auf eine Demokratie zubewegte und nicht mehr wie früher ein Klub von Privatleuten sein würde. Daraus zogen sie den Schluß, daß Politik zur - wie sie es ausdrückten - politischen Kriegführung werden müsse, bei der man die Propagandamechanismen anwenden sollte, die schon im Ersten Weltkrieg so gute Dienste bei der Kontrolle des Denkens der Bevölkerung geleistet hatten.

Das ist die ideologische Seite der Sache, über die wir hier sprechen, und sie weist in dieselbe Richtung wie die institutionelle Struktur. Sie stützt unsere bisherigen Voraussagen darüber, wie das Ganze funktionieren sollte. Und die Korrektkeit dieser Vorhersagen ist gut dokumentiert. Aber auch die ideologischen Grundlagen unseres Informationssystems dürfen nicht diskutiert werden. Das alles taucht zwar in der Standardliteratur zum Thema auf, ist aber nur für die Insider bestimmt. Die klassischen Werke darüber, wie man das Denken der Menschen kontrolliert, stehen auf dem College nicht auf dem Lehrplan.

Genauso wenig, wie auf dem Lehrplan steht, was James Madison während der verfassunggebenden Versammlung schrieb, nämlich, daß das neue System zum Hauptziel haben müsse, "die Minderheit der Begüterten gegen die Mehrheit zu schützen", und daher so gestaltet werden müsse, daß es dieses Ziel erreichen kann. Hier geht es um die Grundlagen des verfassungsmäßigen Systems, und niemand setzt sich damit auseinander. Man findet diese Äußerungen nicht einmal in der wissenschaftlichen Literatur, wenn man nicht wirklich intensiv danach sucht.

Das ist im großen und ganzen das Bild, das ich von der institutionellen Struktur unseres "freien" Mediensystems, von den dahinterstehenden Doktrinen und seinem Endprodukt habe. Ein weiterer Teil des Systems richtet sich an die "unwissenden, lästigen" Außenseiter. Dabei geht es hauptsächlich darum, auf die ein oder andere Art von den wirklich wichtigen Themen abzulenken. Von daher läßt sich leicht vorhersagen, was das wahrscheinliche Ergebnis ist.

Aus dem Buch "Die politische Ökonomie der Menschenrechte". Mit freundlicher Genehmigung des Trotzdem Verlags --

Übersetzt von:
Orginalartikel: "
What Makes Mainstream Media Mainstream"

Trotzdem Verlag

Anarchistischer Verlag der mehrere Bücher von Z Magazine und ZMag Autoren veröffentlicht, unter anderem von Noam Chomsky, Robert Fisk, Tariq Ali, Uri Avnery, Arundhati Roy, ...

auch eine ansicht:

Palästinensische Ironie

von Justin Podur

ZNet Kommentar 23.01.2003

Eine weitverbreitete Ansicht unter denen, die gegen die Rechte der Palästinenser sind, lautet: die Araber wollen “Israel ins Meer treiben”. Aber 1992 äußerte der damalige israelische Premier Yitzhak Rabin: “Ich wünschte, Gaza würde im Meer versinken”. Und noch so eine weitverbreitete Ansicht: Die Palästinenser hätten damals, also im Jahr 2000, von Ehud Barak ein ‘großzügiges Angebot’ erhalten. Dieses hätten sie jedoch zurückgewiesen u. stattdessen die Intifada gestartet bzw. den Selbstmordattentats-Terror. Dem widerspricht, dass die israelischen Siedlungen in Westbank u. Gaza unter Barak noch schneller wuchsen als unter Netanyahu. Eine Karte, auf der das ‘großzügige Angebot’ eingezeichnet ist (in den USA wurde sie übrigens nie veröffentlicht), zeigt Westbank u. Gaza gesprenkelt mit israelischen Siedlungen. Die Palästinenser hätten keine Kontrolle über Ost-Jerusalem bekommen, u. zwischen den einzelnen palästinensischen Ansiedlungen hätten (weiterhin) Checkpoints bestanden. Die Palästinenser hätten keine Bewegungsfreiheit erhalten u. auch keine Kontrolle über ihre Ressourcen.

Das Bild vom steinewerfenden palästinensischen Kind/Jugendlichen kennt jede(r) hier im Westen (ja, diese Kinder werfen tatsächlich Steine - u. zwar vorwiegend auf Panzer, die dann manchmal mit scharfer Munition* antworten). Aber auch die andere Seite wirft Steine. In den (palästinensischen) Olivenhainen der Westbank sind es die bewaffneten israelischen Siedler, die, unter dem Schutz der Israelischen Armee (und diese wiederum stützt sich auf die USA, wo sie auch ihre Waffen herbezieht), den Hügel herunter kommen u. Steine (u. Schlimmeres) auf palästinensische Familien schleudern, die nichts weiter wollen, als ihre Olivenernte einbringen. Die israelische Regierung argumentiert, sie könne sich nicht aus der Westbank bzw. aus Gaza zurückziehen, ohne die Siedler im Stich zu lassen, die ja geschworen hätten, dort zu bleiben. Tanya Reinhart hingegen berichtet: “... viele Bewohner der isolierten israelischen Siedlungen reden in den israelischen Medien ganz offen davon, sie würden gerne wegziehen. Alles, was es braucht, ist das Angebot einer vernünftigen (materiellen) Kompensation für den Besitz, den sie zurücklassen müssten”.

Ein Mitglied der israelischen Schas-Partei, Rabbi Ovadia Yossef, tat die Äußerung, die Araber vermehrten sich wie die Insekten u. würden “überall herumkrabbeln wie Ameisen”. Der ehemalige israelische Premierminister Menachem Begin nannte die Palästinenser “Tiere, die auf zwei Beinen gehen”. Im Jahr 2001 bezeichnete der damalige israelische Tourismus-Minister Rehavam Zeevi die Palästinenser als “Läuse” bzw. als “Krebsgeschwür”. Und da ist andererseits der Palästinenser Edward Said - einer der hartnäckigsten u. stimmgewaltigsten Kritiker der Politik Israels. Said nennt die Juden (im Jahr 2000): “... eines der aufgeklärtesten und historisch gesehen humansten Völker”.

Die Leute schlagen die Hände über dem Kopf zusammen: “Nein, nein, Muslime und Juden werden niemals friedlich zusammenleben können”. Aber die Geschichte beweist das Gegenteil: Meistens schafften es Muslime u. Juden sehr wohl, friedlich miteinander zu leben, während die Christen Europas unfähig waren, mit Juden u. Moslems zusammenzuleben. Sie vertrieben sie, veranstalteten Kreuzzüge gegen sie oder versuchten sie mittels Inquisition auszulöschen. Auch der ‘Holocaust’ geht auf das Konto christlicher Europäer. Am 25. Januar 2002 äußerte ein (hoher) Offizieller der Israelischen Armee gegenüber ‘Ha’aretz’: “... wenn der Auftrag lautet, nehmen Sie ein dichtbesiedeltes Flüchtlingslager ein oder bringen Sie die Casbah in Nablus unter Ihre Kontrolle, dann muss der Kommandierende zuerst seine Lektion aus früheren (ähnlich gelagerten) Schlachten lernen - sie analysieren und internalisieren - und dazu zählt eben auch, selbst wenn es sich schockierend anhören mag, die Art und Weise, wie die deutsche Armee im Warschauer Getto gekämpft hat”.

Israel weigert sich, das, was im März 2002 in Dschenin geschah, als Massaker zu bezeichnen. Dort waren neben 23 israelischen Soldaten mindestens 56 Palästinenser (das meiste Zivilisten) ums Leben gekommen. ‘Ha’aretz’: “Es gibt Hinweise, dass dort schwere Gefechte stattfanden. Mit der gebotenen Vorsicht kann jedoch schon jetzt gesagt werden, was im Flüchtlingslager von Dschenin nicht stattgefunden hat - nämlich ein Massaker. Weder gab es einen Befehl von oben, vorsätzlich u. systematisch unbewaffnete Menschen zu töten, noch gab es eine entsprechende Initiative vor Ort, die umgesetzt wurde.” Medien auf der ganzen Welt übernahmen diese Sichtweise. Als neulich eine Gruppe israelischer Soldaten u. bewaffneter Siedler von palästinensischen Heckenschützen angegriffen wurde (im Nov. 2002 in Hebron) - wobei 12 Israelis starben -, sprach der israelische Außenminister sofort vom “Sabbat-Massaker”, und der UN-Generalsekretär Kofi Annan von einem “abscheulichen Terroranschlag”. Viele Nachrichtenagenturen verbreiteten die Geschichte, als seien hier “jüdische Gläubige” von Palästinensern angegriffen worden.

Viele Menschen glauben, die amerikanischen Juden würden es nicht akzeptieren, wenn Israel gegenüber den Palästinensern zu Konzessionen bereit wäre - im Hinblick auf die palästinensischen Rechte. Dem widerspricht, dass laut einer Meinungsumfrage 87 Prozent der befragten jüdischen Amerikaner u. 97 Prozent der befragten arabischen Amerikaner die Ansicht vertraten, sowohl die Israelis als auch die Palästinenser hätten das Recht auf einen sicheren u. unabhängigen Staat. 52 Prozent der befragten amerikanischen Juden u. 79 Prozent der befragten arabischstämmigen Amerikaner favorisierten eine Zwei-Staaten-Lösung - inklusive Evakuierung von (israelischen) Siedlungen in Westbank u. Gaza. Ich frage mich: Würde es etwas an diesem Konflikt ändern, wenn den Leuten klar wäre, dass so ziemlich alles, was sie glauben, über diesen Konflikt zu wissen, im Grunde falsch ist?

Anmerkung d. Übersetzerin

*Podur macht hier eine Anspielung auf den Begriff ‘live ammunition’, die so nicht übersetzbar ist. Er findet den Begriff ‘live ammunition’ - wörtlich: ‘lebendige Munition’ (im Gegensatz zu Platzpatronen, also ‘toter’, wirkungsloser M.) -, den wir mit ‘scharfe Munition’ übersetzen, sehr seltsam, da diese ‘lebendige Munition’ ja dazu dient, jmd. zu ‘töten’.

Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel: "
Palestine Ironies"

‘Ta’ayush’-Aktivisten auf dem Weg zur Feldarbeit von Siedlern angegriffen

von Aviad Albert
ZNet 21.01.2003

Am vergangenen Samstag, den 18. Januar marschierten rund 20 Aktivisten von ‘Ta’ayush’ gemeinsam mit einigen Mitgliedern des ‘Christlichen Teams der Friedensstifter’ (CPT) in die Hügel von Süd-Hebron, um dort palästinensischen Bauern zu helfen, ihr Land zu pflügen. Schon seit langem pflegen Aktivisten von ‘Ta’ayush’ ja Beziehungen zu den Menschen in den Hügeln von Süd-Hebron u. versuchen, deren Vertreibung durch die israelische Regierung zu verhindern. Die Aktivisten kamen u. wollten den Palästinensern beim Pflügen helfen - eine friedliche Aktion, aus der Befürchtung heraus, die Sicherheit der palästinensischen Bauern könnte extrem gefährdet sein. In den Morgenstunden traf die Gruppe in der Gegend ein. Auf dem Weg ins Feld wurde sie von mit Gewehren u. Steinen bewaffneten israelischen Siedlern angegriffen. Die Siedler warfen Steine u. gaben Schüsse in die Luft ab. Sie jagten u. verprügelten die Friedensaktivisten. Zudem beschädigten die Siedler landwirtschaftliches Gerät, das den palästinensischen Bauern gehörte. Sie stießen einen Traktor ins Tal hinab u. stahlen die Ausrüstung, die darauf gelegen hatte. Erst nach Eintreffen der Armee bzw. der Polizei war es der Gruppe möglich, den Traktor zu bergen (geschätzter Schaden: mehrere tausend Shekel (1 Shekel = 0,75 Euro)). Die Feldarbeit konnte nicht durchgeführt werden.

Während der letzten Jahre sind die Palästinenser dieser Gegend Opfer eines systematischen Landraubs geworden; sie werden an ihrer regulären Feldarbeit gehindert, u. man beschädigt ihre Brunnen u. ihre Höhlen. Zudem kommt es häufig zu gewaltätigen Zwischenfällen, bei denen (israelische) Siedler Leute angreifen u. schikanieren - selbst kleine Kinder (so wurden z.B. Schüler der Tuanne-Grundschule auf ihrem Heimweg von der Schule angegriffen, und auf dem Schulhof von Ziff fand man sogar eine versteckte Bombe). Videoaufnahmen, auf denen zu sehen ist, wie die Siedler die Friedensaktivisten mit Steinen angreifen, wie sie sie verprügeln u. in ihre Richtung schießen, wurden an ‘Channel 2 News’ weitergegeben u. dort am Samstag gesendet. Für die Vorbereitung unserer Polizei-Beschwerde benötigen wir noch weitere Unterstützung. Außerdem sind wir gerade am Erstellen einer Datei mit Leuten, die Lust hätten, bei zukünftigen Pflüg-Aktionen mitzumachen (wir hoffen, es wird zu keiner weiteren Gewalt mehr kommen). Kontakt: Aviad el_tin@hotmail.com

Einer verhaftet, 3 tot, 23 verletzt
von Amira Hass
Ha'aretz / ZNet 19.02.2003
Inzwischen gehört das schon zu der Sorte Nachrichten, die man irgendwo im Innern der Zeitung versteckt: Letzten Sonntag wurden in Nablus 3 Palästinenser getötet. Es passierte, als ein Trupp Soldaten der Israelischen Armee (IDF) einen Führer der kleinen DFLP ('Democratic Front for the Liberation of Palestine'), nämlich Taisar Khaled, verhaften wollte. Wieder so eine 'Routine-Operation' - und keiner stellt Fragen hinsichtlich ihrer Durchführung oder ob die Operation auch tatsächlich notwendig war. Khaled, 60, war nicht etwa ein Verdächtigter, ein Terrorist, der sich versteckt hielt.

Ihn aufzuspüren war keineswegs schwer, erforderte keinen ausgeklügelten Geheimdienstplan. Vielmehr ist Khaled Mitglied des Exekutivkomitees der PLO, die Adresse seines Büro bekannt - es liegt in einem großen Geschäftshaus mitten im belebten Einkaufs- u. Geschäftsviertel von Nablus.

Die Festnahme, die Toten, die 23 Verletzten - für die israelische Presse nur eine kurze Randnotiz. Für die Einwohner von Nablus hingegen bedeutet dies eine neue Welle von Trauer, Wut, Angst u. dem Verlangen nach Rache.

Gegen 13 Uhr begann ein großer Trupp (israelischer Soldaten), das Gebäude zu umzingeln. Kinder u. Teenager in den Straßen fingen an, Steine zu werfen. Schreiend u. mit entsicherter Waffe stürmten die Soldaten im Innern des Gebäudes die Treppe hoch - der Fahrstuhl war außer Betrieb. Mitten im Treppenhaus rannten sie in Khaleds Büroleiter, Hasan Ayub. Auf Hebräisch sagte er zu den Soldaten: "Keine Panik! Ich bin unbewaffnet". Aber sie hätten sich trotzdem auf ihn geworfen, so Ayub, ihn zu Boden gerissen, sie seien auf ihn gestiegen, hätten ihn getreten.

Gemäß des IDF-Berichts eröffneten die Truppen das Feuer erst, nachdem bewaffnete Palästinenser auf sie geschossen hätten. Palästinensische Quellen hingegen: Als der Hagel der Steine vor dem Gebäude intensiver wurde, eröffnete die Israelische Armee das Feuer. Gleich in den ersten Minuten wurden 3 bis 4 Menschen verletzt. Und erst, als die Operation schon in vollem Gange war, etwa 40 Minuten später, so die palästinensische Version, tauchten plötzlich mehrere bewaffnete (palästinensische) Männer auf. Sie hätten angefangen, aus der Menschenmenge heraus zu schießen - was die Leute wütend gemacht hätte.

Inzwischen waren die IDF-Truppen im Innern des Gebäudes im 7. Stock angelangt - vor Khaleds Büros. Eine der Türen war abgeschlossen. Büroleiter Ayub sagt, die Soldaten hätten ihn exponiert neben der Treppe aufgestellt, während zwei Soldaten von ihren Eckverstecken aus auf die Tür gefeuert hätten, um sie aufzuschießen. Ein Soldat stand vor Ayub, 2 hinter ihm. War diesen Soldaten bewusst, dass aus dem Büro niemand zurückschießen würde, hatten sie Ayub nur daher in die (potentielle) Schusslinie gestellt? Ayub sagt, er hätte ihnen die Information gegeben, der Türschlüssel liege bei der Hausverwaltung im zweiten Stock. Aber sie hätten geantwortet: "zu weit" und einfach weitergeschossen, bis die Tür offen stand. Das Gebäude war voller Menschen. In Gruppen wurden sie jetzt aus ihren Büros gezerrt - Hände über dem Kopf, Gesicht zur Wand.

Von draußen hörte man Schießen. Ein Soldat sorgte dafür, dass Ayub sich gegenüber dem Fenster auf die Treppe setzte. Auf Englisch befahl er: "Wenn du einen mit einer Waffe siehst, informierst du mich". Ayub sagt, er hätte geantwortet: "Wenn ich einen mit einer Waffe sehe, verstecke ich mich". Während dieses Gesprächs wurde der Kommandeur der Einheit (im Gebäude) ins Bein getroffen - Ayub stand direkt daneben.

Dann kamen die Männer vom Shin Bet (Geheimdienst) u. stellten Fragen. Der Hausverwalter bat, ihn nicht zu verprügeln. Büroleiter Ayub erklärte ihnen, er habe keine Ahnung, wo Khaled sich momentan aufhalte. Ayub war nämlich gerade erst von Besorgungen außerhalb zurückgekehrt. Plötzlich waren aus dem 6. Stock Rufe u. Flüche (mit hebräischem Akzent) zu hören: Man hatte Khaled gefasst. Er befand sich in Begleitung des Besitzer eines Touristikbüros, die dritte Person war ein Techniker, den man geholt hatte, um einen kaputten Fotokopierer zu reparieren. Einige der Soldaten sollen sich erstaunt gezeigt haben, dass der Gesuchte "so ein alter Knacker" ist - wie einer der Soldaten wörtlich sagte.

Draußen wurden jetzt die Toten gezählt. Der Erste war Iman Abu Zanet, ein junger Mann, der auch tatsächlich Khaleds politischer Partei angehörte. Ob er allerdings einer der 7 Bewaffneten war, die plötzlich in der Menge auftauchten oder nur ein Steinewerfer, weiß niemand. Bei den beiden andern Toten handelt es sich um schlichte Passanten. Der eine war Muhamed Takruri, 43.

Er war aus seinem Auto gestiegen, um sich ein Päckchen Zigaretten zu holen - ungefähr einen Block vom Ort des Geschehens entfernt. Ein Ladenbesitzer sagt aus, ein Armee-Jeep (der Israelis) sei im dichten Fußgängerverkehr steckengeblieben, u. um die Leute auseinanderzutreiben, hätten die Soldaten einfach das Feuer eröffnet. Der Ladenbesitzer sagt, er hätte Takruri noch zugerufen, er solle fliehen u. Deckung suchen.

Der dritte Tote war Fares Mabrukke - ein Passant, der in der Gegend unterwegs gewesen war. 23 Menschen wurden verletzt, einer von ihnen ist inzwischen für 'klinisch tot' erklärt.

Während der letzten Monate haben es sich die IDF-Truppen in Nablus zur Gewohnheit gemacht, jede Nacht jemanden zu verhaften. Das spielt sich dann so ab: Mitten in der Nacht hält ein Jeep in einem der abgedunkelten Viertel, man hört, wie an eine Tür gepoltert wird, irgendwo in der Ferne bellt ein Hund, und wieder ist einer verhaftet.

Letzten Samstag wurde ein Gesuchter sogar am hellichten Tag in einem Versicherungsbüro verhaftet - und zwar in einem Viertel weit weg vom Stadtzentrum. Nichtsdestotrotz schickte die IDF mehrere dutzend Soldaten in Jeeps mit einem riesigen Panzer mitten ins Stadtzentrum - zur selben Zeit, als gerade hunderte Schulkinder auf ihrem Nachhauseweg waren.

Die Palästinenser halten diese Operation für eine Inszenierung, für eine Provokation, für eine gefährliche Machtdemonstration u. Demonstration der (israelischen) Vorherrschaft - niemand soll noch den geringsten Zweifel an ihrer Überlegenheit haben.

Jemand in Nablus hat die Theorie aufgestellt, die Wahllosigkeit der Verhaftungen - was Ort u. Zeitpunkt anbelangt - hänge mit der Tatsache zusammen, dass am 5. Februar 2 israelische Soldaten des in Nablus stationierten Fallschirmspringer-Bataillons von bewaffneten Palästinensern getötet wurden. Soldaten derselben Einheit waren es nun, die ausgesandt wurden, Khaled zu verhaften.

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Anmerkung d. Übersetzerin

Von der 'Ha'aretz'-Korrespondentin Amira Hass ist inzwischen auch ein Buch auf Deutsch erschienen, Titel: 'Gaza'.

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Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel: "One arrested, 3 dead, 23 wounded"

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