Eindrücke einer Reise:
Wenn du nach Jerusalem fährst
Von Marie Luise Knott
Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land"
lautete zu Beginn des letzten Jahrhunderts die zionistische Formel -
eine fatale Illusion, die bis heute auf gespenstische Weise die
Wirklichkeit in Israel geprägt hat. Der Schriftsteller Arthur
Koestler reiste in den 20er- und 30er-Jahren nach Erez Israel, das
damals noch palästinensisches Mandatsgebiet hieß und in dem Juden
wie Araber die gleichen palästinensischen Pässe besaßen.
In seinem Roman "Diebe in der Nacht" schilderte er
die dortige Situation in düsteren Bildern: ein weites Land, in dem
Araber und Juden einander misstrauisch belauern und die Araber den
Neuankömmlingen nicht selten nach dem Leben trachten. Koestlers
Kibbuzim erinnern an Wehrdörfer, und wenn ein Jude seine Siedlung
verlassen will, benötigt er bewaffneten Begleitschutz. Erez Israel
lag in Feindesland.
Heute, fünfzig Jahre nach der Staatsgründung,
besteht für Israelis die einzige uneingeschränkte Bewegungsfreiheit
darin, das Land verlassen zu können. Doch wer kann sich das schon
leisten. Für die, die bleiben, sind die Bewegungsräume - die realen
wie die mentalen - in den letzten Jahren immer kleiner geworden.
Die Selbstmordattentate haben den öffentlichen
Raum zum gefährlichen Terrain gemacht. Jeder zieht um sich und die
Familie eine unsichtbare Mauer; jeder Schritt, der über sie
hinausführt, folgt festen, auf eigenen Ängsten und Wahrnehmungen
beruhenden Reglementierungen. Auch jetzt in der warmen Jahreszeit,
wenn sich die Attentäter nicht so leicht mit weiten dicken Jacken
tarnen können, wird jeder Besucher mit diesen Schutzritualen
vertraut gemacht: Fahr niemals Bus, gehe nur in Cafés, deren
Eingänge von Sicherheitskräften bewacht sind, und achte darauf, dass
sie bewaffnet sind. Sitzt man im derart waffengesicherten
Gartenlokal, kann es passieren, dass plötzlich fünf junge hektische
Sicherheitsmänner auftauchen, weil draußen ein verdächtiges Auto
steht. Für Momente sind alle vor Angst wie gebannt; die Bilder
zerfetzter Menschen sind plötzlich gegenwärtig.
Keinen Augenblick fällt die enorme innere Spannung
von einem ab. Wie geladen die Menschen sind, erfuhr auch der Pianist
Andras Schiff, als er kürzlich sein Konzert in Jerusalem mitten im
langsamen Beethoven-Satz wegen des ständigen nervösen Hüstelns und
Räusperns unterbrechen musste.
Doch wer kann schon auf den Bus, wer möchte schon
auf Café, Kino oder Konzert verzichten? Bei vielen Ehepaaren hat
sich im Laufe der Zeit die innere Ambivalenz zwischen lähmender
Angst und "trotzigem" Weiterleben auf die Partner verteilt: Ist der
eine eher ängstlich, wird der andere im Schutze der strengen
Regelungen wagemutiger. Nur die Jugendlichen widersetzen sich der
Freiheitsberaubung. Sie fahren Bus, sie gehen in die Disco, gerade
so, als läge ihnen nichts am Leben. Doch gerade deswegen hegen sie
einen umso tieferen Hass auf die Palästinenser: weil die sie
nötigen, Tag für Tag so zu tun, als achteten sie ihr Leben gering.
Die Jugendlichen attackieren ihre liberalen Eltern, wenn diese die
Gewalt Scharons gegen die Palästinenser kritisieren. "Ihr sorgt euch
immer nur um die, nie um uns", schimpft der 14-jährige Sohn beim
Abendessen. "Sie wollen uns alle ins Meer schmeißen, und ihr
verteidigt sie noch!"
Die zweite Begrenzung des realen Bewegungsraums
für Israelis ist das beständige Umgehen arabischer Orte und Viertel.
Jüdische Israelis betreten den arabischen Teil Jerusalems schon
länger nicht mehr; nicht so sehr, weil sie um ihr Leben fürchten
müssten, sondern weil sie unerwünscht sind. Vorbei sind die Zeiten,
da man sich mit Palästinensern traf, um die Ecke im arabischen
Viertel einkaufen ging oder in den besetzten Gebieten sein Auto
reparieren ließ.
Auch die mentalen Bewegungsräume schrumpfen. Der
"Andere", der Palästinenser, verschwindet aus dem Bereich des
Einfühlungsvermögens. Freund oder Feind lautet das Schema auf beiden
Seiten. Damit ist es nicht mehr möglich, das Leiden des "Anderen"
wahrzunehmen und für wahr zu halten.
Da mit jeder Kritik an Israel der Antisemitismus
im Ausland zu wachsen droht, schreibt der Politologe Daniel in
deutschen Zeitungen längst nicht mehr, was er hört und denkt,
sondern das, was er möchte, dass wir in Deutschland hören und
denken. In Israel redet er mit seinen Studenten über das, was er
möchte, dass seine Studenten, die gerade vom Militär kommen oder
bald wieder zum Militär gehen, erfahren und denken. Auch wenn er
nicht mehr frei spricht, ist sein geistiger Bewegungsraum relativ
groß, verglichen mit den vielen, die sich angesichts der
bedrohlichen Lage ohnmächtig in Schweigen hüllen. Ohnmächtig, weil
sie sich ausgeliefert fühlen - der Allesbezwingenden Logik Scharons
und der wahnhaften Logik der Attentäter. Je mehr Israel in die
Kritik gerät, je mehr es sich durch das eigene Handeln isoliert,
desto erbitterter wird das Schweigen. Kaum jemand redet darüber oder
möchte hören, was in den besetzten Gebieten tagtäglich geschieht.
Journalisten, die es dennoch beschreiben, werden bedroht. Das Wissen
ist politisch wie menschlich eine Anfechtung, zumal die eigenen
Ehemänner, Brüder oder Söhne "dort" Dienst tun.
Die mentale Bewegungsfreiheit, die
palästinensische Wirklichkeit noch in ihrer Gänze wahrzunehmen,
diese Freiheit nehmen sich die meisten Israelis nicht. Doch es gibt
sie, die Checkpoint-Watchers und andere Menschenrechtsgruppen, die
Öffentlichkeit herstellen und die Schikanen des Militärs gegen
Palästinenser anprangern und mildern.
Die Einsamkeit der Schweigenden ist das Gegenstück
zur Einsamkeit all jener, die über die Besetzung und den Vandalismus
reden. Sie schämen sich für ihr Volk, wenn sie erzählen, wie
israelische Soldaten Moscheen und Arztpraxen mit ihrem Kot
beschmutzen. Wie Soldaten Krankenakten vernichten, Behörden
verwüsten und Wohnungen demolieren, nach dem Motto: demütige und
vertreibe. Methoden wie in Tschetschenien, kommentiert eine Russin
lakonisch.
Fast zehn Jahre nach Oslo sind die Palästinenser
in den "Autonomiegebieten" ein Volk von Eingesperrten. Die
Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit ist konkret. In den kleinen,
manchmal nur aus einem Zimmer bestehenden Wohnungen sitzen die
Kinder völlig apathisch am Tisch. Wie sollen sie sich bewegen?
Entweder herrscht Ausgangssperre. Wenn nicht, muss man befürchten,
dass die Kinder beim Spielen auf Minen treten oder bei einem der
zahlreichen "kleinen" Zusammenstöße zufällig erschossen werden.
Aber die Willkür an den Checkpoints und
Straßensperren, wo Passanten abgewiesen oder für Stunden
festgehalten werden, ist nur das eine; hinzu kommt die sich
ausweitende Passierscheinregelung der israelischen Verwaltung, die
den Bewegungsraum der Palästinenser systematisch verringert. Schon
jetzt kommt man in einzelnen Gegenden nicht ohne Genehmigung von
einem Dorf ins nächste. Doch selbst dort, wo noch keine
Passierscheine eingeführt sind, kann jede notwendige Fortbewegung
zum lebensgefährlichen Abenteuer werden. Ein Mann, der seine vor
kurzem operierte kranke Mutter aus einem sieben Kilometer entfernten
Dorf nach Ramallah zur regelmäßigen Nachuntersuchung bringen will,
hat zwei Möglichkeiten: Er kann eine unbezahlbar teure Ambulanz
rufen, die nach tagelangen Verhandlungen mit der Armee schließlich
nach 60 Kilometern Umweg vielleicht 8 Stunden später in Ramallah
ankommen wird. Oder er kann versuchen, seine Mutter unter
Lebensgefahr auf dem Rücken zu schleppen, über Gräben, Stacheldraht
und an den Patrouillen vorbei.
Die israelische Gesellschaft zerfällt derweil in
kleine Inseln, auf denen Familien und peer-groups miteinander
versuchen, in diesen finsteren Zeiten Anstand und Würde zu bewahren.
Besucher, die von außen kommen, werden freundlich auf diese Inseln
eingeladen. Jeder bastelt an seiner eigenen Erzählung der
Wirklichkeit, mit Versatzstücken aus der Herkunftskultur, aus
eigenen Erfahrungen, aus dem Holocaust-Erbe und dem
Überlebenswunsch. Dabei ist immer wieder der Stolz auf dieses Land
zu spüren, die Liebe zu seiner Schönheit - und zu seiner
faszinierenden Vielfalt der Menschen und Kulturen. Mit Stolz zeigt
man den Besuchern die Bauhausvillen in Haifa und erklärt ihnen mit
Trauer: Wenn du nach Jerusalem fährst, achte darauf, wo immer du in
der Landschaft eine Gruppe von Palmen siehst, stand einmal ein
arabisches Dorf.
"Ein Heim, das mein Nachbar nicht anerkennt, ist
kein Heim. [] Ein Jüdisches Nationalheim, das von dem Nachbarvolk
nicht anerkannt und nicht respektiert wird, ist kein Heim, sondern
eine Illusion - bis es zu einem Schlachtfeld wird", schrieb Hannah
Arendt 1945.
Alle sind einsam, doch statt ein Gespräch der
Verzweifelten zu führen, macht sich jeder seinen eigenen Reim. Eine
Tochter von Auschwitz-Überlebenden, die bei früheren
Deutschland-Besuchen in den Gesichtern der Passanten die willigen
Vollstrecker entdeckte, glaubt heute zu verstehen, wie es kommt,
dass Menschen schweigend wegsehen. Was sie umso mehr erbittert, da
Israel ein demokratischer Staat ist. Die extreme Einsamkeit, in die
sich alle mit ihren teils spektakulären und äußerst spekulativen
Interpretationen der Wirklichkeit verschanzen, hat auch damit zu
tun, dass die meisten angesichts von Verhältnissen, die einen Teil
der Bevölkerung völlig entrechten, mit sich nicht mehr im Reinen
leben können.
In den 90er-Jahren, als die politische Lage mehr
mentalen Bewegungsraum bot, verfasste der israelischer Philosoph
Avishai Margalit eine Abhandlung über die moralische Verfasstheit
von Gesellschaften. Ausgehend von einer Politik, die auf Würde und
Achtung basiert, definierte er eine "anständige Gesellschaft"
dadurch, dass in ihr niemand durch Institutionen gedemütigt werde.
Es war die Zeit, als man sich in Israel erstmals öffentlich mit der
Vertreibung der Palästinenser im Jahr 1948 auseinander setzte.
Heute hört man in Israel Sätze wie: "I think we
were rather fair in Jenin." Um die verfehlten Massaker-Vorwürfe aus
dem Ausland abzuwehren, greift der Redende unversehens - wie in
Notwehr - zu dem gleichermaßen verfehlten Begriff "fair". Eine
hilflose Form, Maßstäbe aus der "anständigen" Welt, die man
eigentlich verteidigen möchte, hineinzuverpflanzen in eine Welt, in
der die eigenen Maßstäbe keinen Raum mehr finden.
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30-10-02 |